Samstag, 30. März 2024

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Den Opfern wieder einen Namen geben

Das Gedenken der Russen an den Stalin-Terror in den Jahren 1937/38 wird zur Anklage gegen die Politik Wladimir Putins. Menschenrechtsorganisationen beobachten mit Sorge, dass es wieder opportun erscheint, an vermeintlich "positive Seiten" der Diktatur zu erinnern. Robert Baag berichtet.

30.10.2007
    Erst wenn man fast schon direkt vor dem Lautsprecher neben dem klobigen Felsbrocken steht, wird im Verkehrslärm ringsum deutlich, dass hier Familiennamen verlesen werden, in alphabetischer Reihenfolge. Jetzt ist der Buchstabe D dran.

    Ein kleines Grüppchen meist älterer Menschen hat sich an diesem neblig-sonnigen Spätherbst-Tag im Herzen Moskau versammelt. Das wuchtige, gelb-rot gestrichene Gebäude der sogenannten Lubjanka schräg gegenüber von dem kleinen Park ist nur einen Steinwurf entfernt von diesem Solowetzker Gedenkstein, einem Gesteinsbrocken, zu Beginn der 90er Jahre nach Moskau transportiert aus einem der ersten Konzentrationslager als Erinnerung an die dann folgenden Millionen politischer Häftlinge und Zwangsarbeiter unter der Sowjetmacht. Die Lubjanka, sie ist der Sitz des Geheimdienstes geblieben und für viele immer noch ein Schreckenssynonym für Grausamkeit und Mord. Jahrzehntelang folterten und mordeten hier sich straflos fühlende GPU-, NKWD-, MGB- oder KGB-Offiziere und Untersuchungsrichter im Auftrag der Kommunistischen Partei. Ihre Opfer blieben bis zum Ende der Sowjetunion meist namenlos.

    Arsenij Roginskij und seine Mitstreiter von der Moskauer Menschenrechtsorganisation Memorial, verankert in den Dissidententraditionen der Sowjetzeit, haben sich stets als die Anwälte sowjetischer Repressionsopfer empfunden. Jetzt, zum 70. Jahrestag der größten Verfolgungswelle unter dem Stalin-Regime, wollen sie den Opfern ihre Namen zurückgeben - in Zeiten, in denen in Russland wieder öfter die, wie es heißt, "positiven Seiten" der Stalin-Ära betont werden. Roginskij:

    "Allein in Moskau sind in den Jahren 1937/38 über 33.000 Menschen erschossen worden. Nicht eine einzige Gedenktafel in dieser Stadt erinnert an sie! Nicht eine einzige! Wenn wir heute die Namen nennen, dann tun wir dies stellvertretend für diese fehlenden Gedenktafeln. Alle 30 Sekunden fällt das Wort: 'Ras'strelen' - 'Erschossen!'- Das soll an die Rechtlosigkeit erinnern. Und nur wenn wir das tun, wird uns klar werden, wie dringend wir einen Rechtsstaat benötigen!"

    "Dudaladov, Wladimir Michailovitsch - 40 Jahre alt - Ökonom - erschossen am 9. Oktober 1937 - / - Dug, Semjon Andrejewitsch - 31 Jahre alt - Drechsler - erschossen am 16. November 1937..." Die Liste ist schier endlos.

    "Ich muss einfach kommen","

    sagt der 81-jährige Aleksandr Gorbatiuk,

    ""Dort, da drüben in der Lubjanka, ist mein Vater erschossen worden, um 15 Uhr und 10 Minuten, am 2. Juli 1937, auf persönliche Anweisung Stalins in der Liste vom 26. Juni."

    Kirill Aleksejevskij, eine imposante Erscheinung mit gepflegtem, langem weißen Bart, stützt sich auf seinen Gehstock. Erst 1939 habe man ihm, dem knapp 13-Jährigen, das Urteil mitgeteilt, das offiziell über seinen Vater gefällt worden war, einen ordensübersäten Brigadekommandeur der Roten Armee, der im Ersten Weltkrieg in der Armee des Zaren gekämpft hatte:

    "Zehn Jahre, ohne Recht auf Briefwechsel!"

    Damals wusste Aleksejevskij noch nicht, dass diese Auskunft nur eines bedeutete, dass sein Vater, der Bürgerkriegsheld, schon tot war. Ja, sagt er, wenige Leute seien heute gekommen:

    "Ganz einfach: Die offiziellen Medien haben auf diese Veranstaltung auch nicht hingewiesen!"

    Selbst er habe, so Aleksejevskij, nur aus dem Auslandssender Radio Svoboda davon erfahren. Bleibe Putin an der Macht, und das werde er, dann könnte sogar das vor 16 Jahren demontierte Denkmal für Felix Dzherzhinskij, den Gründer des Sowjet-Geheimdienstes am Ende wieder auf seinen Platz vor der Lubjanka gestellt werden:

    "Wenn wir im Chor für Putin stimmen werden, stimmen wir zugleich für den Eisernen Felix ab und für die Fußfesseln, die man uns dann wieder allen anlegen wird. Und dass ich mich mit Ihnen einem ausländischen Korrespondenten unterhalte, wird in ein, zwei Jahren wieder gefährlich sein. Kaum werde ich dort hinten in die U-Bahn einsteigen wollen, könnte ich schon verhaftet werden."