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Der Pianist Keith Jarrett
Zwischen Transzendenz und Improvisation

Keith Jarrett ist vielen als früherer Pianist in Miles Davis’ Elektro-Funkband bekannt. Kenner schätzen aber vor allem seine Solowerke und -konzerte. Spiritualität und Transzendenz ziehen sich wie ein roter Faden durch seine musikalische Identität – das inspiriert auch Geistliche.

Von Burkhard Reinartz | 24.05.2021
Der Pianist Keith Jarrett (aufgenommen im Juli 2011)
Der Pianist Keith Jarrett (aufgenommen im Juli 2011) (picture alliance / dpa | Franck Fernandes)
Vorsichtig berührt Keith Jarrett die Tasten des Steinway-Flügels. Hört wie unter seinen Fingern die ersten Klänge entstehen. Langsam spielt er sich in Stimmung, beugt sich über die Tastatur, stöhnt leise auf. Mensch und Instrument werden zur Einheit. Viele der Zuschauer schließen die Augen, folgen dem Pianisten in eine Welt, in der alles Klang ist. Jetzt ist Jarrett im Fluss. Nichts hält ihn mehr auf dem Klavierhocker. Halb im Stehen spielt er sich frei, steigert sich in einen Rausch. Die linke Hand ist purer Rhythmus, die rechte tanzt über die Tasten. In solchen Augenblicken klingt sein Spiel so leicht, als würde es über allem schweben und die Schwere des Irdischen hinter sich lassen - die Seele fliegt.
"Es ist immer wieder, als würde ich nackt auf die Bühne treten. Das wichtigste bei einem Solokonzert ist die erste Note, die ich spiele oder die ersten vier Noten. Wenn sie genug Spannung haben, folgt der Rest des Konzerts fast von alleine."
Der amerikanische Pianist Keith Jarrett.
"Alle wirkliche Kunst erinnert uns an vergessene oder fast vergessene Beziehungen, egal ob es um Gott oder einen Menschen geht, eine Frau oder einen Mann, die Erde und die Menschheit. Was, wenn Kunst der einzige Weg wäre, die Rüstung, die wir um uns gebaut haben, zu durchdringen, um unsere wahre Natur zu erkennen? Menschen, die dem Pfad folgen, auf dem ich mich befinde, sind dazu angehalten, sich ihrer selbst zu erinnern, der Essenz. Hinter den Verstand, den Gefühlen und Empfindungen jenen Platz zu finden und dort zu verweilen, während man seinen ganz normalen Alltag lebt. Es ist eine Art Meditation, die nur wenige mehr als zwei Sekunden schaffen. Aber selbst wenn es nur eine Sekunde gelingt - dort ist die wahre Heimat."
Pianist Keith Jarrett - Der lässige Magier
Schon als kleines Kind spielt er nach dem Gehör Melodien auf dem Klavier, später brilliert Keith Jarrett mit frei improvisiertem Jazz oder klassischer Musik. Sein "Köln Concert" von 1975 ist legendär.
Die musikalischen Welten, aus denen Jarretts Solokonzerte aufsteigen, reichen von Klassik bis Broadway, von Jazz und romantischer Ballade über Blues und Gospel bis zu zeitgenössischer Avantgarde. Aus allen Stilen der Musikgeschichte erschafft der Pianist seit den 1970er-Jahren seinen unvergleichlichen Kosmos. Auch wenn Jarrett mit Jazz-Trios oder -Quartetten spielt, entstehen viele Stücke aus dem Moment heraus. Im Kontrast dazu interpretiert er mit Kollegen wie Gary Peacock, Jack DeJohnette oder Charlie Haden auch bekannte Jazzstandards.
"Ich höre in seinem Pianospiel eine unglaubliche Vertiefung in die Musik, eine Bekanntschaft mit allen musikalischen Richtungen, allen musikalischen Formen... Und diese Mischung, die er da auf dem Flügel präsentiert, die habe ich so bei anderen Musikerinnen und Musikern nicht gehört", sagt der Theologe und Musiker Hans-Jürgen Buhl.

"In dieser Stadt gab es nichts: keine Musik, kein Leben"

Begonnen hat Keith Jarretts Leben an Amerikas Victory Day, dem 8. Mai 1945, in der kleinen Provinzstadt Allentown. Im Rust Belt, dem ehemaligen Schwerindustrie-Gürtel Pennsylvanias, kommt er in einer Familie der Mittelschicht zur Welt. Er hätte sich in seiner Geburtsstadt immer als Fremder gefühlt, erinnert sich Jarrett.
"In dieser Stadt gab es nichts: keine Musik, kein Leben. Es ist eine tote Stadt."
Der Junge wird schon früh durch die christlich-religiöse Einstellung der Eltern geprägt. Sie vermitteln ihm, dass ethisch-moralische Grundsätze im Leben mehr gelten sollten als materieller Erfolg. Und sorgen dafür, dass ihr hochbegabter Sohn sich nicht nur auf sein musikalisches Talent konzentriert, sondern genauso auf Basketball, Tischtennis und Football.
Hans-Jürgen Buhl: "Wahrscheinlich ist in seiner Jugend ein christliches Menschenbild angelegt."
Nachdem der Vater, ein Immobilienmakler, die Familie verlassen hat, geht es seiner Frau und den fünf Söhnen nicht nur finanziell schlecht. Die Mutter, die zu Highschool-Zeiten Trompete, Posaune und Schlagzeug spielte, erkennt schon früh die Musikalität ihres ältesten Sohnes, der das absolute Gehör besitzt. Mit drei Jahren erhält der Junge klassischen Klavierunterricht. Mit acht Jahren gibt er sein erstes Konzert. Und beendet den Auftritt zur Überraschung der Zuhörer mit Improvisationen.
"Schon früh baute ich Improvisationen ein. Ich wusste damals überhaupt nicht, was ich tat. Es ist wie ein roter Faden, der seitdem niemals abgerissen ist. Er zieht sich seitdem durch mein ganzes Musikerleben."
Mit 15 beendet Jarrett den Unterricht in klassischer Musik und interessiert sich für Jazz. Er studiert am Berklee College of Music in Boston. Nach einem Jahr bricht er das Studium ab, um ins Mekka der Jazz-Avantgarde nach New York zu ziehen. Eine kurze Jam-Session im "Village Vanguard"-Club führt 1965 zu einem viermonatigen Engagement bei Art Blakey und den Jazz Messengers. Jarrett ist damals gerade 20 Jahre alt. Bebop und Cool Jazz laufen allmählich aus, sind aber immer noch gegenwärtig. Jarrett bewegt sich durch die Szene, findet sich aber musikalisch nirgendwo wieder. Am ehesten noch im Quartett des Saxofonisten Charles Lloyd.
"Meine Musik war damals schon ziemlich ausgebildet. Ich hatte größten Respekt für Bandleader wie Art Blakey oder Charles Lloyd. Es war aber nicht so, dass ich durch sie in Bezug auf meine Musik viel lernen konnte."

Der Weg in die Elektrizität: Fender Rhodes bei Miles Davis

Ähnlich ging es ihm in der Elektro-Funkband des legendären Trompeters Miles Davis. Dessen Musik hatte sich Anfang der 70er-Jahre völlig von dem warmen Ton gelöst, den man mit seiner Trompete verband: Keine Stücke mit Anfang und Ende, sondern lange elektronische Klangströme von größter Offenheit - und vor allem spontan improvisiert. Eine Qualität, die wenig später auch Jarretts Solokonzerte auszeichnen werden. Dem Pianisten missfällt, dass er in der Band von Miles Davis nur das elektrische Fender Rhodes-Piano und Orgel spielen soll. Noch mehr stört ihn die fehlende geistige Ausrichtung der Musik.
"Ich möchte, dass meine Musik auch schön ist, schön im Sinne einer höheren Ebene: mehr Wahrheit. Wenn wir spielen, habe ich das Gefühl, dass wir etwas übersetzen, was größer ist als die Musik - wie eine Übersetzung des Lebens."

Bereits im Alter von 27 Jahren verweist Jarrett hier auf das, was religiöse Menschen als die transzendente Kraft der Musik bezeichnen. Später wird Keith Jarrett seine spirituellen Überzeugungen so auf den Punkt bringen.
"Meine Musik reflektiert die Hingabe an eine Harmonie im Universum, die ohne uns oder auch mit uns existiert. Ich glaube nicht, dass ich eigenständig etwas erschaffen kann, aber ich kann ein Kanal für das Schöpferische sein. Ich glaube an einen Schöpfer und in diesem Sinn ist meine Musik seine Musik - durch mich als Instrument."
Hans-Jürgen Buhl: "Zuallererst würde ich über einen Menschen sagen, der an einen Schöpfer glaubt, dass es ein glaubender Mensch ist. Und ihn noch nicht automatisch festlegen. Das kann ja auch jemand aus einer anderen religiösen Richtung sagen, die an einen Schöpfergott glaubt, als jetzt das traditionellere Christentum. Transzendenz der Klänge weist schon darauf hin, dass das reine Hören von Musik, also ich spiele eine Taste auf dem Klavier an und es erklingt ein Ton in diesem Zusammenspiel von Tönen, nicht alles ist. Es ist nicht allein das akustische Erlebnis, sondern da ist das, was ich mit dem verbinde, was ich höre. Da ist mehr als die musikalische Erfahrung oder das musikalische Wissen, da ist mehr als Harmonielehre. Das nenne ich für mich selber Transzendenz. Es geht über den reinen Klang, über den Sound, über das instrumentelle Können hinaus."

Das legendäre Konzert in Köln

Jarrett verlässt die Miles-Davis-Band und gründet sein eigenes Trio mit Paul Motian am Schlagzeug und Charlie Haden am Bass. Doch zum eigentlichen Durchbruch kommt es erst durch ein Konzert, dass er am 24. Januar 1975 auf einem zweitklassigen Bösendorfer-Konzertflügel in der Kölner Oper gibt. Die Pedale haken, einige Tasten klemmen, weshalb sich Jarrett auf die mittleren und tiefen Tonlagen beschränken muss. Er will das Ganze absagen, doch die Veranstalterin und sein Produzent Manfred Eicher bitten ihn, trotz aller Hindernisse zu spielen. Der Mitschnitt des "Köln Konzerts", ist bis heute mit vier Millionen verkaufter Tonträger das meistverkaufte Solo-Klavieralbum aller Zeiten.


Hans-Jürgen Buhl: "Dieses Vorhaben, mit nichts auf die Bühne zu gehen, sich freizumachen und dann eine Stunde, anderthalb Stunden, zwei Stunden am Stück zu erfinden, was einem der musikalische Geist eingibt, das ist, finde ich, einzigartig. Diese Mischung aus leisesten Tönen, zarten Melodien, Ausbrüchen daraus, die Ostinati, die schaffen manchmal eine hypnotische Atmosphäre. Denn sonst könnte ich mir ja auch kaum vorstellen, dass man selbst als Zuhörender da eine Stunde oder anderthalb Stunden dem zuhören kann. Ich werde hineingezogen in diese Musik, die mich manchmal bis zum Äußersten fordert."
Blick auf das CD-Cover des legendären Köln-Konzerts von Keith Jarrett im Jahr 1975 in der dortigen Oper.
Blick auf das CD-Cover des legendären Köln-Konzerts von Keith Jarrett im Jahr 1975 in der dortigen Oper. (picture alliance / dpa | Oliver Berg)
Jarrett: "Ich versuche, den Denkprozess auszuschalten. Ich möchte mich hinsetzen, als ob ich noch nie zuvor Piano gespielt hätte. All diese Musik entsteht in einer spontan sich entwickelnden Weise. Nichts wird wiederholt, nichts wurde je zuvor gemacht."
Keith Jarrett: "Budapest Concert" 
Der US-Pianist Keith Jarrett hat bekannt gegeben, dass er seine Konzertkarriere aus Gesundheitsgründen beendet. Mit "Budapest Concert" ist zumindest ein weiteres Live-Album erschienen.
Erst die Solokonzerte haben Keith Jarrett weit über den Jazz hinaus weltberühmt gemacht. Sie sind Abenteuer mit offenem Ausgang. Die Musik atmet, sie schwillt an und ab wie die Gezeiten. Sie wechselt zwischen lyrischen Klangflächen, eruptiven Ausbrüchen, betörenden Melodien und Phasen des sich Verlierens und Suchens. Und wenn man einer Definition aus dem "Musikalischen Lexikon" von 1802 folgen will, hat diese Form des Musizierens etwas mit Begeisterung zu tun:
"Improvisieren. Darunter versteht man in dem eigentlichen Fache der Musik die Geschicklichkeit eines Tonsetzers, aus dem Stegreif eine Komposition zu verfertigen und solche sogleich unter Begleitung eines Instruments vorzutragen und sich dabei in einen Zustand zu versetzen, den man die Begeisterung nennet."
Bei aller Virtuosität und technischen Raffinesse haben Jarretts Klänge eine starke emotionale Wirkung auf das Publikum.
"Wir nehmen wahr: Es ist ein besonderes Erlebnis, insbesondere in dieser Stille der großen Räume, dieses Klavier zu hören. Wir nehmen wahr: Da wird etwas angeboten, was über uns hinausgeht. Und dann haben wir die Situation, dass am Ende eines solchen Konzertes Menschen in Tränen aufgelöst sind", sagt Hans-Jürgen Buhl.
Jarretts Musik schafft einen sakralen Raum der Stille: Ruhe- und Konzentrationsinseln in aufgewühlten Zeiten.
Buhl: "Diese Musik weist über den Musiker, sein Instrument und auch mich selbst hinaus. Und da spüre ich etwas, was weitergeht als das, was wir gerade nur gehört haben. 17.46 Ich finde, das ist zu beobachten, dass unsere säkulare Welt, unser säkulares Umfeld geradezu danach ruft, dass wir immer auch uns nach Ritualen sehnen, nach Formen geistlichen Lebens und das ist das, was Jarrett bei seinen Solokonzerten anbietet."
Konzertbesucher beschreiben Jarretts Klänge nicht selten mit metaphysischen Begriffen. Seine Konzerte würden etwas Göttliches offenbaren, das die reine Musik transzendiere.
"Wenn es diese Transzendenz der Klänge gibt, ... dann muss es natürlich auch eine Resonanz bei den Zuhörenden geben. Die müssen ja etwas davon spüren, was da auf der Bühne passiert. Wir spüren plötzlich, dass diese Musik über uns hinausweist. Ob das jetzt göttlich oder universell oder wie auch immer genannt wird, das hängt ja auch ganz und gar von der Aufnahmekapazität des einzelnen zuhörenden Menschen ab."
Der Theologe Hans-Jürgen Buhl geht soweit, Jarretts Konzerte als eine Art von Gottesdienst zu bezeichnen.
"Da wird ein Flügel in der Mitte der Bühne angeleuchtet. Der Musiker tritt in einer schwarzen, sehr ritualisierten Kleidung auf, setzt sich, braucht eine Minute der Stille. Und dann ist es plötzlich ein gemeinsames Erlebnis. Es ist der Musiker, der etwas aus sich heraus schafft. Und wir dürfen daran teilhaben."
Sobald Menschen sich tief in Musik versenken, können sie für Augenblicke einen anderen Raum außerhalb der physikalischen Zeit betreten. In dieser Zwischenzone scheint es eine eigentümliche Verschmelzung zu geben zwischen dem Klang und dem menschlichen Bewusstsein.
"Wir haben alle unsere Rüstungen, wir haben alle unsere Masken, mit denen wir uns im Alltag bewegen. Und so kommen wir auch vielleicht in ein Jarrett-Konzert. Und mit dieser Musik, die so viel transzendiert, die so viel Geistliches und Kreatives beinhaltet, gibt es immer wieder einen Stoß an diese Maske, an diesen Panzer. Und im besten Falle - und das erzählen uns ja die Rückmeldungen aus diesen Konzerten - werden wir durchdrungen und werden wir geöffnet."
Nur wenige der Stücke von Keith Jarrett haben einen Titel. Manche heißen schlicht: "Hymne".
Jarrett: "Ich mache das in dem Sinn, wie Bach seine Stücke mit einer Widmung an Gott enden lässt. Wenn ich alles, was ich je gemacht habe, eine Hymne nennen würde, wäre das schon angemessen. Ich verbinde jede Erfahrung des Klavierspielens mit einer großen Kraft; und wenn ich mich dieser Kraft nicht hingebe, geschieht gar nichts. In diesem Sinne fühlt sich alles wie eine Hymne an, weil es geschieht nicht dadurch, dass ich Keith Jarrett bin und diese ganzen Aufnahmen mache. Es ist jedes Mal ein Geschenk. Und um dieses Geschenk anzuerkennen, nenne ich es manchmal Hymne. In gewisser Weise wäre Ritual auch ein gutes Wort für etwas, das vielleicht von einem Zustand des Gebets umgeben ist."
Hans-Jürgen Buhl: "Es sind diese Stücke, die mich packen und nicht wieder loslassen. Es ist das Kraftvolle in Jarretts Spiel. Es ist das Gospelhafte, das Blueshafte, das immer mal wieder in einzelnen Zitaten durchschwingt und doch eingebunden wird in seinen gesamten musikalischen Kosmos. Und dann kann man sagen: Ja, es ist alles wie ein einziger Hymnus, ein Loblied. So wie Deo Gloria."

Der Einfluss Georges Gurdjieffs

Jarrett hat im Laufe seines Lebens Impulse aus unterschiedlichen Bereichen aufgenommen. Eine besondere Stellung nimmt dabei der armenische Komponist und spirituelle Lehrer Georges Gurdjieff ein. Der Saxofonist Charles Lloyd hatte Jarrett in den 1970er-Jahren ein kleines Buch dieses ungewöhnlichen Künstlers und Denkers geschenkt. Jarrett ist fasziniert von den 300 Kompositionen, die Gurdjieff gemeinsam mit dem russischen Pianisten Thomas de Hartmann unter dem Titel "Sacred Music" geschrieben hat. Gurdjieff wollte ähnlich wie Jarrett das Essenzielle der Musik innerhalb der Vielfalt der Formen erforschen - und dadurch Musik in einen kosmischen Zusammenhang stellen. 1980 spielt Jarrett eine Auswahl dieser Stücke ein.
Ein paar Jahre später umreißt Keith Jarrett sein Gottesverständnis mit dem Bild einer Flamme - im Beiheft zum "Vienna Concert":
"Ich habe die Flamme für eine sehr lange Zeit umworben und viele Funken sind dabei gestoben, aber die Musik dieser Aufnahme spricht letztlich die Sprache der Flamme selbst. Ich glaube an einen Schöpfer und deshalb ist dieses Album in Wirklichkeit sein Album, durch mich für dich, mit so wenig Distanz dazwischen wie möglich auf dieser medienüberfluteten Erde."
Viele Anmerkungen Jarretts zu seiner Weltanschauung stammen aus den 1970er- und 1980er- Jahren. Im Laufe der Zeit spricht er immer weniger über die Bedeutung von Musik und lässt die Klänge fast nur noch durch sie selbst sprechen.
"Der kreative Prozess ist mit Sprache nicht zu fassen. Ich habe erst kürzlich verstanden, wie vergeblich und zwecklos es ist, zu beschreiben, was auf der Bühne geschieht."
Dass die zunehmende Sprachskepsis des Künstlers nichts mit einer Abkehr von seiner spirituellen Haltung zu tun hat, zeigt ein Interview aus dem Jahr 2017. In der "Jazz Times" antwortet Jarrett auf die Frage, wie wichtig ihm Spiritualität sei:
"Spiritualität ist für mich essenziell. So essenziell, dass ich gar nicht darüber nachdenke. Ich lebe nicht mehr in diesem Zeitmilieu, aber ich habe nichts davon vergessen. Musik bedeutet, bewusst im Augenblick zu sein und etwas mit extremer Integrität zu schaffen - und etwas von Bedeutsamkeit und Gefühl und sogar Funkyness. Musik hat die Kraft zu einer spirituellen Erfahrung. Ich spiele keine religiöse Musik und doch empfinde ich viele Momente von tiefer Meditation - und von Freude."
Neben der Freude ist auch der Schmerz ein Teil von Jarretts intensivem Leben. Der Preis für über 50 Bühnenjahre und seine ekstatische Spielweise: chronische Rückenschmerzen. Oft musste er sich in sein Landhaus zurückziehen, um sich von den Schmerzen und der Anspannung des Konzertlebens zu erholen. Zwei Ehen gingen zu Bruch, was ihn extrem mitnahm. Ende der 1990er-Jahre litt er drei Jahre lang unter dem "Chronischen Erschöpfungssyndrom" und konnte in dieser Zeit nicht mehr Klavier spielen. Im Oktober 2020 sagte Jarrett in einem Interview mit der "New York Times", er habe bereits im Jahr 2018 zwei Schlaganfälle gehabt. Er werde nie mehr Klavier spielen können.
Am Ende seiner Solokonzerte gab Jarrett oft Zugaben in Form von Balladen. Mehrfach beendete er ein Konzert mit seiner Interpretation von "Somewhere over the rainbow". Solche Zugaben wird es nicht mehr geben, was für den Theologen Hans-Jürgen Buhl ein Verlust ist, auch wenn Keith Jarretts Werk bleibt.
"Dieser Mann hat mir, uns, über so viele Jahrzehnte so wunderbare Musik geschenkt. Und es ist wirklich ein Geschenk, dass wir diese Musik auf Tonträgern haben und manche auch in Konzerten gewesen sind, sodass ich sagen kann, das ist etwas, was nicht weggenommen werden kann. Aber mit heute Mitte siebzig wäre er durchaus in der Lage, noch zu spielen und wenn es nur zuhause wäre am Klavier, diesem Instrument, mit dem er sich Zeit seines Lebens auseinandergesetzt hat. Das finde ich, ist tragisch und es tut mir sehr, sehr leid."