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Der siebte Nährstoff

Biologie.- Im Fachmagazin "Cell Research" ist eine Studie chinesischer Forscher erschienen, die Hinweise darauf liefert, dass der Ernährung durchaus eine erweiterte Rolle für das Wohlergehen der Menschen zukommt. Genregulatoren aus Pflanzen, die wir mit der Nahrung aufnehmen, können offenbar auch Zellvorgänge im menschlichen Körper kontrollieren.

Von Lucian Haas | 07.11.2011
    Der menschliche Stoffwechsel unterliegt einer ausgeklügelten Steuerung. Enzyme und andere Proteine sorgen für den Auf-, Ab- und Umbau von Stoffen in den Zellen. Kontrolliert wird diese Aktivität unter anderem von sogenannter Mikro-RNA. Das sind kurze Abschnitte von Ribonukleinsäure, einem Verwandten der Erbsubstanz DNA. Mikro-RNA kann die Produktion von Proteinen blockieren.

    Chinesische Forscher haben jetzt eine erstaunliche Entdeckung gemacht. Im Blut und in Gewebeproben von Probanden fanden sie Mikro-RNA-Abschnitte, die ursprünglich aus Pflanzen stammen. Besonders interessant ist dabei: Die pflanzliche Mikro-RNA kann offenbar genauso wie ihr humanes Pendant steuernd in den menschlichen Stoffwechsel eingreifen. Für Chen-Yu Zhang, Leiter der RNA-Forschungsgruppe an der Universität von Nanjing, eröffnet das ganz neue Sichtweisen auf unsere Ernährung:

    "Allgemein heißt es, es gebe sechs Nährstoffe in der Nahrung: Kohlenhydrate, Eiweiß, Fette, Vitamine, Mineralstoffe und Wasser. Mikro-RNA aus Pflanzen scheint aber einen direkten Einfluss auf unsere Gene und den Stoffwechsel zu haben. Man könnte sie deshalb als den siebten Nährstoff bezeichnen."

    Chen-Yu Zhang fand beispielsweise bei allen 50 chinesischen Probanden, die er untersuchte, im Blutserum und in der Leber Mikro-RNA des Typs MIR 168a. Dieser ist unter anderem in Reis reichlich vorhanden. Im menschlichen Körper blockiert MIR 168a die Produktion eines Proteins, das beim Abbau von Cholesterin in der Leber beteiligt ist. Wer Reis konsumiert, liefert seinem Körper demnach nicht nur Energie, sondern reguliert über die enthaltene Mikro-RNA auch den Umsatz von Stoffen im Körper.

    Bisher galt die Lehrmeinung, dass pflanzliche DNA und RNA im Darm komplett verdaut und abgebaut wird. Der Fund intakter Mikro-RNA aus der Nahrung im Blut und Gewebe kam deshalb für die Forscher durchaus überraschend. Noch ist nicht klar, wie die RNA es schafft, aus dem Darm in den Blutkreislauf zu gelangen.

    "Wir kennen den genauen Mechanismus noch nicht. Wir vermuten aber, dass die Mikro-RNA-Stränge aus den Pflanzen von Endothelzellen in der Darmwand aufgenommen werden können. In kleine Membranabschnürungen verpackt, sogenannte Mikrovesikel, geben sie die Mikro-RNA in den Blutkreislauf ab."

    Chen-Yu Zhang sieht in seiner Entdeckung auch eine neue Erklärung für die pharmazeutische Wirkung mancher Kräuter, die in der traditionellen chinesischen Medizin verwendet werden. In Versuchen, deren Ergebnisse noch nicht publiziert sind, mischte der Forscher ein in China bekanntes Krautextrakt gegen Grippesymptome in das Futter von Mäusen, die er zuvor mit Influenza-Viren infiziert hatte. Mikro-RNA aus diesen Pflanzen fand er im Lungengewebe der Tiere wieder, wo sie die Produktion eines für die Virusvermehrung wichtigen Proteins blockierte und den Ausbruch der Grippe verhinderte.

    "Diese Entdeckung ist geradezu revolutionär. Möglicherweise können wir künftig spezifische Mikro-RNA einsetzen, um verschiedenste Krankheiten zu behandeln. Die Aufnahme des RNA-Wirkstoffes erfolgt dann ganz einfach über die Nahrung. Daraus ergeben sich ganz neue therapeutische Strategien."

    Die Möglichkeit, Mikro-RNA als Medikamentenwirkstoffe einzusetzen, wird seit einigen Jahren in der Pharmabranche heiß diskutiert und erforscht. Bisher scheiterten die meisten Versuche allerdings an der Frage: Wie lässt sich Mikro-RNA zielgenau an den gewünschten Wirkungsort im Körper bringen? Cheng-Yu Zhangs Erkenntnisse zeigen, dass die Natur dafür bereits Wege gefunden hat. Nahrungsmittel sind offenbar weitaus mehr als nur Energielieferanten.