Freitag, 29. März 2024

Archiv

Diary Slam
"Lustiger als alles, was man sich ausdenken könnte"

Poetry Slam war gestern, der neue Trend heißt Diary Slam. Vorgetragen werden hier Texte aus Tagebüchern der eigenen Jugendzeit. Die Veranstalter sagen: Es geht nicht darum, sich übereinander lustig zu machen, sondern sich selbst wiederzuerkennen.

Von Monika Hebbinghaus | 12.12.2013
    „Es war Weihnachten und ich fühle mich so furchtbar traurig und leer. Ich weiß nur, dass ich allein sein möchte, in Ruhe, nicht mit den anderen ins Allgäu. Ich kann nicht leben in dieser Welt, und möchte es auch gar nicht. Meine Gefühle passen nicht hierher, sie sind so sentimental und einfach für diese Welt voller Betrug, Ehebruch und Aberglaube.“
    Das sind die harten Worte der fünfzehnjährigen Freddie im Jahr 1995. Denn für Teenager ist Weihnachten nicht das Fest der Familie, sondern das Fest, wo man der Familie nicht ausweichen kann. Wenn die heute 34-jährige Friederike Gralle aus ihrem alten Tagebuch vorliest - ist sie dann manchmal versucht, ihren Text von damals ein wenig, nun ja, zu zensieren?
    „Man darf schon Sachen auslassen - was man jetzt nicht versteht, was die Familie und Freunde angeht, was vielleicht auch mal langweilig ist. Ich habe immer das Gefühl, das, was man damals geschrieben hat, ist so viel lustiger als alles, was man sich im Nachhinein ausdenken könnte. Und ich glaube, das macht auch den Charme aus, genau die Sprache, weil man die nicht mehr rekreieren kann.“
    Seit sie einen der ersten Diary Slams in Hamburg besuchte, ist Friederike begeisterte Tagebuch-Vorleserin. Seit etwa einem halben Jahr veranstaltet sie den Diary Slam Berlin - zusammen mit Nadine Finsterbusch:
    „Bei mir war das vor circa drei Jahren so, dass ich umgezogen bin und dabei mein Tagebuch gefunden habe. Und festgestellt habe, dass es unglaublich lustig ist und dann eine Lesung machen wollte für meine Freunde. Und das ist eigentlich das Lustige, dass ich über Umwege erfahren habe, dass es mehr Leute gibt, die das auch machen.“
    „15.12. Ich bin zurzeit wieder viel unterwegs, und Natascha ist wieder sehr nett. Sie ist wieder meine beste Freundin. Vorhin rief sie an, „Babe“ kam auf MTV. Mein Vater wollte es nicht erlauben, es zu sehen. Ich träume oft davon, dass Take That mich fragen, ob ich mit ihnen nach England kommen will. Dort wäre nicht alles unbedingt besser, aber ich hätte doch einen besseren Bezug zu Take That als zu meiner Familie...“
    Wichtiges Kriterium: innere Distanz
    Eine Voraussetzung gibt es allerdings für den ungetrübten Unterhaltungswert der Teenager-Ergüsse: innere Distanz. Man sollte das beschriebene Problem verarbeitet haben, sonst droht es für alle Beteiligten peinlich zu werden, sagt Nadine Finsterbusch:
    „Wir sind auch nicht hier, um uns übereinander lustig zu machen, sondern mitzulachen, aber mit dieser Distanz. Eigentlich geht es darum, sich selber wieder zu erkennen und zu erkennen, dass das eigentlich gar nicht so schlimm war, was man damals durchgemacht hat. Dass wir das eigentlich alle teilen.“
    Und die Themen? Sind immer dieselben. Liebe, Aussehen, Schule, die kompromisslose Abrechnung mit der Welt im Allgemeinen und den Eltern im Besonderen. Worüber habe ich eigentlich damals geschrieben? fragt man sich als Zuschauer unwillkürlich, stöbert zu Hause das alte Tagebuch auf und findet eine jüngere Version seiner selbst. Auf diese Weise rekrutieren Nadine und Friederike auch immer neue Vorleser für den nächsten Diary Slam - oder besser: Vorleserinnen. Männliche Leser sind rar gesät. Einer aber ist fast jeden Monat dabei: Kai. Seine Jugend hat er in immerhin 17 Tagebuch-Bänden dokumentiert. Und erkennt dabei durchaus geschlechtertypische Schreibmuster:
    „Männer kommen öfter mit stenoartigen Fakten. Dann war das, dann war das, dann war das. Frauen reden mehr über ihre Gefühle, glaube ich.“
    Der Beweis: Kais alljährliche Weihnachtsgeschenke-Aufarbeitungsliste.
    „Swatch. Mami und Papi. Tickt zu laut. Schulmappe. Tante Kati. Gut. Schwarzer Rolli. Mami und Papi. Super. Grüner Rolli. Mami und Papi. Kratzt.“
    Größte Lebenskrisen sind beste Anekdoten
    „Ich habe auch irgendwann meinen Stil geändert - das steht auch in den Tagebüchern, dass ich das jetzt machen will - und irgendein Tagebuch heißt dann auch 'Meine Gedanken', und da fängt es dann an, dass ich wieder mehr emotional schreibe. Ist aber zum Vorlesen eher ein bisschen langweiliger als die anderen Sachen.“
    Jedenfalls hat auch der damals etwa 13-jährige Kai das eine oder andere Lebensdrama in seinem Tagebuch verewigt - natürlich auch an Weihnachten.
    „In ein paar Stunden gibt es schon wieder Geschenke. Papi ist felsenfest davon überzeugt, dass er für mich das genialste Geschenk überhaupt hat. Ich habe Riesenzweifel. Es fängt mit D oder Z an, und er hat es selbst gemacht. Darunter kann ich mir nichts Tolles vorstellen....“
    Und bei allem Unterhaltungswert, eine tröstliche Nebenwirkung hat der Besuch des Diary Slam allemal: die Erkenntnis, dass selbst die größten Lebenskrisen im Nachhinein die besten Anekdoten sind. Vielleicht sollten wir wieder mehr Tagebuch schreiben.