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Die 15-Prozent-Formel

Mathematik. - Die Europäische Konferenz über Komplexe Systeme beleuchtet, inwieweit Physik und Mathematik dazu beitragen können, ökonomische und gesellschaftliche Probleme zu lösen? Doch dabei geht es nicht nur um Börsenkurse oder Wählerverhalten, sondern auch um Fragen der Stadtplanung.

Von Frank Grotelüschen | 04.10.2007
    Er liebt Metropolen. Wann immer es sich einrichten lässt, nutzt Luis Bettencourt die Gelegenheit, eine Megastadt zu besuchen, Tokio zum Beispiel. Womöglich eine Berufskrankheit. Denn zu Hause, am Los Alamos National Laboratory in den USA, widmet sich Bettencourt mit wissenschaftlicher Akribie folgender Frage: Was haben große und kleine Städte gemeinsam, und wodurch unterscheiden sie sich?

    "Wir haben Unmengen von Daten analysiert, die es über Städte gibt – Daten unter anderem über Einwohnerzahl, Energieverbrauch, Durchschnittseinkommen, Kriminalitätsrate, aber auch die Anzahl der Patente, die aus einer Stadt kommen. Dann haben wir Städte unterschiedlicher Größe miteinander verglichen und analysiert, inwiefern die Eigenschaften einer Stadt von ihrer Größe abhängen."

    Dabei interessierten die Physiker vor allem für Durchschnittsgrößen – etwa das Pro-Kopf-Einkommen, oder die Anzahl der Verbrechen oder der Patente pro 1000 Einwohner. Folgen diese Durchschnittswerte in einer Riesenmetropole anderen Regeln als in einer beschaulichen Kleinstadt? Nach diversen Computersimulationen und mathematischen Analysen stießen die Forscher auf die Antwort. Man könnte sie als 15-Prozent-Formel bezeichnen.

    "Vergleicht man eine Stadt mit einer Million Einwohnern mit einer, in der zwei Millionen leben, werden die Bürger der größeren Stadt im Durchschnitt 15 Prozent mehr verdienen und auch 15 Prozent mehr ausgeben. Pro Einwohner gibt es dort 15 Prozent mehr Patente, aber auch 15 Prozent mehr Verbrechen."

    Bettencourt weiß auch einen Grund für seine 15-Prozent-Regel. Große Städte sind schneller als kleine, hektischer und betriebsamer. Und dahinter steckt Folgendes:

    "Zeit lässt sich auffassen als die Zahl der sozialen Kontakte, die man pro Tag hat. In großen Städten ist diese Zahl viel größer, weil dort viel mehr Menschen aufeinander treffen, und zwar Menschen in unterschiedlichen Positionen und Funktionen. Dadurch wird die Zeit komprimiert und das Leben beschleunigt. Und deshalb entstehen in großen Städten auch die meisten Innovationen."

    Doch gibt es ein Limit, eine Grenze, wo sich dieser Trend umdreht? Denn glaubt man den Schlagzeilen, drohen Megacities wie Sao Paulo oder Mexiko-Stadt, eben weil sie so rasant wachsen, an ihren Problemen zu ersticken – an kollabierendem Verkehr, wachsendem Müllbergen oder steigender Kriminalität. Doch Luis Bettencourt winkt ab.

    "Lange dachte man, eine Stadt könne nicht über eine bestimmte Größe hinaus wachsen. Doch das können wir nicht bestätigen. Unsere Ergebnisse sagen, dass sich das Leben selbst bei Megastädten von 20 Millionen Einwohnern weiter beschleunigt. Und wir sehen keine Anzeichen dafür, dass diese Städte nicht noch weiter wachsen können."

    Der Grund: Je größer die Stadt, desto mehr Innovationen bringt sie hervor. Eben dieses Mehr an Innovationen ermöglicht es der Stadt dann, immer weiter zu wachsen. Behält Bettencourt Recht, wird sich die Welt daran gewöhnen müssen, dass ein Moloch wie der Großraum Tokio, in dem sich heute schon mehr als 35 Millionen Menschen drängen, in Zukunft noch weiter zulegt.