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Die Dattel und das Dromedar

Die Nomaden von Marokko haben zwei Dinge, die ihnen besonders heilig sind: Die Dattel, aus der sich auch teure Öle gewinnen lassen, und das Dromedar, welches Fortbewegungsmittel in der Wüste ist. Im Orient gilt das Wort "Kamel" sogar als Kosewort.

Von Anna Deibele | 15.04.2012
    Eine arabische Legende besagt, Allah verblieben zwei Klümpchen Erde bei der Schöpfung der Welt. Aus dem einen formte er die Dattel, aus dem anderen das Dromedar. Erst dann war sein Werk vollkommen. In Marokko gehört diese Legende, lange Zeit vor der Islamisierung des Landes, zum alltäglichen Leben:

    Im 2. Jahrhundert nach Christus führen die Römer das Dromedar aus dem vorderen Orient in Nordafrika ein. Unterschiedliche Berberstämme beherrschen damals das Land.
    In großen Karawanen transportieren die Wüstennomaden Gebrauchsgüter und Lebensmittel auf dem Rücken des Dromedars über den Atlas und quer durch die Sahara. Bis zu 250 Kilogramm trägt der Paarhufer problemlos auf seinem Höcker und legt täglich eine Entfernung von bis zu 40 Kilometern zurück. Ein dichtes Winterfell schützt das Dromedar vor Kälte bei verschneiten Atlaspässen auf 2800 Metern Höhe. Kommt es an einer Oase vorbei, kann das Tier bis zu 135 Liter Wasser auf einmal tanken und es 17 Tage im Magen speichern. Als genügsames und ausdauerndes Lasttier ermöglichte das Dromedar den transsaharischen Handel.

    In den Oasen, wo viele Karawanen Rast machten, dienen die Datteln mit ihrem hohen Zucker- und Nährstoffgehalt nach wie vor als wichtigstes Nahrungsmittel. Ihre Bedeutung als Karawanenstützpunkt haben die Oasen heute verloren. Ein modernes Transportwesen ersetzte die vierbeinigen Wüstenschiffe. Viele Berber gaben ihr Leben als Halb- und Vollnomaden auf.

    Der Handel jedoch bestimmt bis heute in einem neuen Gewand die marokkanische Lebensart. Das Herz einer jeden Stadt Marokkos, der Markt der Händler, von den Marrokanern Souk genannt, pulsiert so stark wie nie zuvor.

    An der mächtigen Lehmmauer des Souk El-Had von Agadir im Süden Marokkos lehnen an die 200 kleine und große eingerollte Teppiche. Elf Tore führen ins Innere des sieben Hektar großen Geländes mit rund 2200 Händlern. Jetzt, am Sonntag, um 10 Uhr, öffnen die Geschäfte ihre Rollläden und packen ihre Ware aus: Turnschuhe, Kleidung, Möbel, Schmuck, riesige Berge von Fleisch, Obst und Gemüse: Die Auswahl an Waren ist schier unbegrenzt. Unser Führer Abderrahim erklärt, warum der Souk bei den hereinströmenden Männern und Frauen in ihren knöchellangen Djellabahs noch heute so beliebt ist:

    "Dieser Souk war während der lang anhaltenden Dürreperioden in den 70er-Jahren die wichtigste Versorgungs- und Vorratsquelle für alle Wüstenstädte Marokkos. Deshalb kann man hier alle möglichen Waren finden."

    Ursprünglich boten hier die Nomaden ihre Waren in Zelten an. Heute sind es moderne Boutiquen, welche das ganze Wochenende die Kunden anlocken. Mit dem städtischen Markt hat der größte Souk Marokkos nichts gemein, erklärt Abderrahim:

    "Der Souk hat immer einen ländlichen Charakter, weil hier vor allem die Berber aus allen Regionen des Landes und die Saharabewohner ihre Geschäfte machen."

    Einer von ihnen ist der Kräuterhändler Monsieur Hassan. Sorgfältig angeordnete rote, ockerfarbene, gelbe und braune Kegel von Curcuma, Safran und intensiv duftendem Kreuzkümmel locken in sein Geschäft, das er in siebten Generation führt:

    "Das ist Ingwer, das sind Koriandersamen und das ist Ginseng zur Stärkung von Kraft, Gedächtnis und Energie. Und dort in der Dose sind Parfümwürfel, Jasmin zum Beispiel."

    Monsieur Hassan geht ins Ladeninnere und öffnet die Dose aus Glas mit den wohlriechenden Würfeln:

    "Die Parfümwürfel eignen sich hervorragend für Schränke und Furnierholz. Wir Berber nehmen nur natürliche Parfümstoffe. Es eignet sich auch gut für die Haut oder für Kleidung. Kann ich Ihnen einen Tee anbieten?"

    Schon brennt die Flamme des kleinen Gaskochers. Monsieur Hassan mischt die Zutaten:

    "So bereitet man den Tee zu: Ein bisschen von den Rosenblüten, dann Orangenblüten, Minze und schließlich etwas Berbertee – alle vier sind für den Geschmack wichtig! Dann gibt man die Mischung in kochendes Wasser und lässt den Tee noch einen Moment auf heißer Flamme, ganz ohne Zucker."

    Monsieur Hassan reicht das aromatisch duftende, süßliche Heißgetränk. Während dessen packt er die Tüte mit den Gewürzen, Jasminwürfeln, Berberlippenstift und Tee zusammen. Vierzig Euro soll der Einkauf kosten. Mit Hartnäckigkeit und rücksichtslosem Feilschen gibt er sich nach einer Weile mit einem Drittel des Preises zufrieden.

    Viele wichtige Handelsgüter kommen aus der Agrikultur. Folgt man der Landstraße N1 in Richtung Essaouira, so wachsen zahlreiche Arganbäume auf den trockenen Hügeln. Etwa drei Millionen Berber leben von den Produkten dieses Baumes. Sämtliche Händler der Region verkaufen das teuerste Öl der Welt, das von den Früchten des Baumes gewonnen wird. Das "flüssige Gold" ist reich an Vitaminen. Als eine Pflanze, die kaum Nährstoffe und Wasser braucht, passte sich der Arganbaum an das trockene Wüstenklima an. Seit 80 Millionen Jahren, als Arganien wahrscheinlich noch weite Flächen in Nordafrika und Südeuropa bedeckten, wachsen diese Bäume in Marokko. Inzwischen schrumpfte der Baumbestand wegen der klimatischen Abkühlung auf circa 820.000 Hektar um Agadir. Die Bäume spielen heute eine große Rolle im Kampf gegen die fortschreitende Wüstenbildung. Im Dorf Tidzi in der Nähe von Essaouira befindet sich eine der zahlreichen Arganöl-Kooperativen der Region.

    Ein etwa 15 Meter langes Gebäude ist in einzelne Zimmer unterteilt. In jedem sitzen ein Dutzend Frauen an die Wand gelehnt und zerschlagen mit einem Stein die harte Schale der olivenähnlichen Arganfrüchte. Eine ältere Frau mit einem gelben geblümten Tuch stimmt ein Lied an. Hafida Elhantati, die Beauftragte für Qualitätskontrolle der Kooperative Ajddigue, erzählt vom Leben der hier arbeitenden Frauen vor der Gründung der Kooperative:

    "Früher haben die Frauen das Öl bei sich zu Hause hergestellt. Sie haben die Arganfrüchte geschält, die Kerne aufgeklopft, die Samen zermahlen und gepresst. Dann haben sie das herausgefilterte Öl ihren Männern gegeben, damit sie es auf dem Markt verkaufen, um wiederum andere Sachen dafür zu kaufen. Die Frauen hier haben aber kein Geld für ihre Arbeit bekommen. Der Mann hat das ganze Geld eingenommen."

    Insgesamt 60 Frauen arbeiten in der Kooperative Ajddigue. Der Gewinn durch den Verkauf des Arganöls an Kosmetikfirmen in Frankreich, der Schweiz und Italien wird am Ende des Jahres geteilt. Sie lernen Lesen und Schreiben und kaufen sich von dem Geld eigene Haushaltsgeräte, erzählt eine Frau. Auch eine ihrer Töchter arbeitet hier. Ihr Leben sei jetzt anders, sagen beide und strahlen. Hinter jeder Frau steht eine Familie von fünf bis zehn Personen, erklärt Hafida Elhantati:

    "Nun ermöglicht die Mehrheit der Frauen ihren Kindern den Schulbesuch. In Marokko gibt es viel Analphabetentum, vor allem deshalb, weil die Eltern, sobald die Kinder die Grundschule beendet haben, keine finanziellen Mittel mehr haben, um ihre Kinder weiter in die Schule zu schicken."

    Direkt neben der Kooperative stehen jetzt zwei Schulen, eine für Mädchen und eine für Jungen. Neugierig und voller Lebensfreude blicken sie auf die Fremden. Auf dem staubigen Fußweg zur einsamen Landstraße schallt ihr "Bonjour!"

    Vorbei an den roten Stadtmauern Marrakeschs und den kahlen grauen Gipfeln des Hohen Atlas geht die Fahrt weiter in Richtung Sahara. Majestätisch thront auf einem steilen Hügel die Kasbah Ait-Ben-Haddou am Ufer des Asif Mellah. Die Lehmburg aus gestampften mit Stroh, Palmen- und Oleanderholz gemischten Ziegeln schützt ein massives meterdickes Tor. Einst war die Kasbah wichtiger Stützpunkt auf der Karawanenstraße zwischen Marrakesch und Timbuktu. Noch heute residieren hier die örtlichen Berberstämme. Seit 1960 dient die Stätte jedoch vor allem als Kulisse für Hollywood-Produktionen. Über 20 Filme sind hier entstanden, darunter die Monumentalfilme "Alexander" und "Gladiator".

    Die Berber am massiven Eingangstor sehen eher ärmlich aus. Umgerechnet 90 Cent verlangen sie für einen Besuch der Kasbah. Mehrere Stockwerke hoch geht es an einer Schlängelstraße bis zur Spitze. Von oben bietet sich ein atemberaubender Blick über das Drâatal mit dem eingetrockneten Flusslauf und den riesigen Palmenoasen.

    Die prachtvolle Oasenlandschaft erstreckt sich 200 Kilometer lang am Oued Drâa, einem der längsten Flüsse Marokkos. Goldig leuchten die Dattelstränge der Palmen im Abendlicht entlang der modernen Straße. Die Arganbäume haben hier einen langen Stamm und eine hohe Baumkrone. Fast fühlt man die Savanne atmen. Auf dieser Strecke liegt auch Zagora. Das Schild eines Hotels mit der Aufschrift "52 Tage nach Timbuktu" erinnert an vergangene Tage. Früher Ausgangspunkt für die Karawanen in die Sahelzone, ist Zagora heute das Zentrum des Kameltrekkings und ein wichtiger Marktort am Rande der großen Palmengärten. Agrar- und Handwerksprodukte der städtischen Oasenbevölkerung werden hier gegen die Waren der Nomaden wie Vieh, Häute, Wolle, Teppiche und Silberschmuck getauscht.

    Im Gegensatz zum restlichen Marokko leben hier die Berber noch als Teil- oder Vollnomaden. Touristen gewähren sie gerne einen Einblick in das Leben der Sahara: Die Übernachtung in einem Biwak, ein traditionelles Essen und eine kleine Tour auf den Dromedaren gibt es mit etwas Handelsgeschick und wenig Ansprüchen schon für 29 Euro. Nach einer halben Stunde Autofahrt im Sand bei kompletter Dunkelheit, ohne erkennbare Straße, tauchen einzelne Lichter auf.

    Die Kameltreiber führen zu den etwa zehn kreisförmig um das Lagerfeuer angeordneten Biwaks. Matt erleuchtet die Kerze vier harte Liegematten. Im Nomadenlager herrscht völlige Stille. Schon bald unterbrechen sie wilde Hunde, die periodisch aufheulen.

    Im Hauptzelt ertönt Gerumpel: Die Kameltreiber tischen landestypische Gemüsesuppe und Tajine, eine Gemüse-Fleischpfanne, auf. Danach greifen die Nomaden zu ihren Trommeln und vertiefen sich am Lagerfeuer in ihre Gesänge und Rhythmen. Sternenhaufen schimmern durch die Wolken hindurch. Ismael Prosedo aus Madrid erzählt, warum er bereits zum zweiten Mal die Wüste bereist:

    "Was mich am meisten in der Wüste beeindruckt hat, war die Stille, man hört wirklich nichts. Es ist so, als wäre dieser Ort abgeschnitten von der restlichen Welt, als wäre dies ein Fleckchen, wo das Alltägliche einer Großstadt, wie Stress oder Lärm, nicht existiert. Sich von all' dem abgesondert zu fühlen, gefällt mir am meisten."

    Am nächsten Morgen geht es früh raus. Zum Frühstück ganz europäisch Kaffee, Weißbrot mit Butter und Marmelade. Der Himmel ist bewölkt, es ist Winter in der Sahara. Die Dromedare stehen schon bereit. Mit einem Ruck wird der Reiter nach oben gehoben, als das Dromedar mit den Hinterbeinen zuerst aufsteht. Bei leichtem Nieselregen setzen sich die vier Wüstenschiffe schaukelnd in Bewegung. Der Kameltreiber ist stumm. Das Sitzen auf dem Dromedar erfordert einige Balance. Vor allem wenn es eine Düne hinabsteigt, schleudert es den Reiter fast kopfüber aus dem Sitz. Einige wilde Hunde folgen der kleinen Karawane. Das in 20 Meter Entfernung liegende Gerippe eines Kamels interessiert sie nicht weiter. Linkerhand zeichnen sich schwarze Berge vor der steinigen Wüste ab. Nach zwei Stunden ist die Fahrt zu Ende. Vorbei an einigen Kameltreibern mit unbeladenen Karawanen gibt es noch unweit von Zagora einen letzten Blick auf die "große Düne". Außer eines einsamen Nomaden mit zwei Kamelen, der sich als Fotomotiv anbietet, ist hier die Wüste leer. Die Mundwinkel des Kameltreibers hängen nach unten. Regen ist schlecht für's Geschäft.

    Durch die Pfützen geht es zurück in Richtung Marrakesch. Wo werden sie jetzt sein die Wüstenhändler? Unweit der großen Kasbah Ait-Ben-Haddou versteckt sich in einer Nebenstraße das Maison d'Artisanat in Ourzazate. Im Inneren grüßt ein hochgewachsener Mann mit Turban und blauem Gewand, einer der Händler der Maison d'Artisanat. Sieben Sprachen spricht Monsieur Hassan – auf jeden Kunden vorbereitet.

    Nun werden die Teppiche ausgerollt und der Silberschmuck ausgepackt. Wie hoch ist das Budget? Nein, wir kaufen nichts. Der Händler ist enttäuscht, die Luft ist sichtlich raus.

    Hier sind sie, die Nomaden. Sie haben sich niedergelassen – aber nur für ein halbes Jahr, verteidigt sich Monsieur Hassan. Dann ziehen sie wieder mit ihren Karawanen durch die Wüste und sammeln ihre Waren ein. Mit dem Dromedar natürlich. Und die Datteln? Die Datteln sind das Reichtum der Oasen, erzählt Monsieur Hassan stolz:

    "Isst man am Morgen Datteln mit der Milch eines Dromedars, dann ist man den ganzen Tag satt. So übersteht man am besten lange Reisen auf den Dromedaren. Die Datteln sind sehr nahrhaft."

    Bei dieser Gelegenheit war da noch die Sache mit den Frauen, die gegen Kamele getauscht werden. Auch hier weiß Hassan eine Antwort:

    "Nein, das war in früheren Zeiten so. Das gilt nicht für ausländische Frauen, sondern für die Stammesangehörigen. Da war es üblich, Kamele als Mitgift zu schenken. Wenn wir eine Frau für einen Familienangehörigen suchen, dann schenken wir ihnen vier oder fünf Kamele, weil das Kamel in unserer nomadischen Kultur so wertvoll ist."

    Im Orient gilt das Kamel sogar als Kosewort. Ein Schmunzeln lässt sich nicht verkneifen. Die Nomaden haben ihren Platz in einer internationalen Wirtschaft gefunden. Am Ausgang verabschieden die modernen Wüstennomaden die Besucher gebührend. Vorbei an den sich im Nu gefüllten Flüssen geht es zurück nach Marrakesch. Hinter den schweren Wolken strahlt die Sonne noch einmal zum Abschied, bevor sie hinter den Gipfeln des Hohen Atlas ganz verschwindet.