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Die Fortschrittsfalle in der Medizin

Die Gesundheitskosten explodieren. Eine optimale Behandlung für jeden lässt sich nicht mehr bezahlen, darüber sind sich viele Statistiker und Mediziner einig. Doch wie können bei der medizinischen Versorgung Prioritäten gesetzt werden?

Von Barbara Weber | 04.02.2010
    "Für mich ist es eine absolute Horrorvorstellung, dass eines Tages ein Arzt bei mir am Krankenbett steht und sich überlegt, lohnt es sich bei dem Krämer noch oder ist der schon zu alt?"

    "Wir wissen, dass in Deutschland im Durchschnitt jeder Deutsche 18 Mal im Jahr einen Arzt aufsucht."

    Düsseldorf, Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und Künste: Rund 60 Teilnehmer haben sich in dem hellen, holzgetäfelten Saal versammelt; Rund ein Drittel Akademiemitglieder, zwei Drittel interessierte Bürger, darunter viele Ärzte.

    Die Akademie residiert gediegen: Der großzügige komfortable Bau aus den 50ern von Prof. Hans Schwippert steht ganz im Zeichen der klassischen Moderne. Die Innenausstattung der lichten, großzügigen Räume mit - zum Teil noch - Original-Designermöblierung signalisiert: Hier ist der Fortschritt zu Hause. Hier wird geforscht für die Zukunft. Ein Ort als Sinnbild des Aufbruchs.

    Als Hans Schwippert diesen Bau entwarf, waren Fortschritte und Möglichkeiten in der Medizin noch überschaubar: Die ersten Arzneimittel für Diabetiker kamen auf den Markt. Es gab noch keine künstliche Blutwäsche für Nierenkranke. Transplantation von Herz oder Leber waren unbekannt. An die Möglichkeiten der Gendiagnostik wagten wahrscheinlich nicht mal Watson und Crick zu denken. Künstliche Gliedmaßen, gesteuert durch das Gehirn, gehörten in das Reich von Science Fiction Autoren.

    Der paradoxe Effekt dieses damals ungeahnten medizinischen Fortschritts ist,

    "dass wir immer mehr zu einem Volk von Kranken werden","

    so Professor Walter Krämer, der den Lehrstuhl für Statistik an der Technischen Universität Dortmund hat.

    ""Denn dadurch, dass die Medizin in Deutschland so erfolgreich ist, schaffen wir es, dass es acht bis zehn Millionen Zuckerkranke gibt. Wir haben mit die höchsten Raten an Nierenkranken in Deutschland auf der ganzen Welt, aber doch nicht weil unsere Medizin so schlecht ist, sondern weil sie so gut ist, weil eben bei uns Leute mit Nierenerkrankungen glücklich und zufrieden 80 werden können. In der Türkei oder Algerien wären sie gestorben."

    Je größer der medizinische Fortschritt, umso größer wird die Kluft zwischen dem Machbaren und dem Gewünschten. Doch was ist zu tun? Soll man Patienten sterben lassen, um Kosten zu sparen? Nein, sagt der Statistiker, für das Individuum sollte alles getan werden. Die Entscheidung müsste auf höherer Ebene fallen. Ein Beispiel:

    "Es gab in der Tat im amerikanischen New York mal eine lange Debatte, wollen wir eine neue Brandklinik bauen für die Stadt New York. Am Ende der Debatte kam heraus - damals war der Oberbürgermeister Edward Koch: Nein, er lehnt den Bau ab und expressis verbis mit dem Argument, durch diese Klinik werden jedes Jahr zwölf Bürger unserer Stadt vor dem Tod durch Verbrennen bewahrt. Dafür ist mir die Klinik zu teuer. In dem Moment, wo Herr Koch sagt, die Klinik wird nicht gebaut, weil: Für diese zwölf Menschen ist mir die Klinik zu teuer, weiß ja kein Mensch, wer diese zwölf sind. Vielleicht ist es ja Herr Koch selber. Das heißt, es betrifft nur die Überlebenswahrscheinlichkeiten. Durch diese Entscheidung von Herrn Koch ist die Wahrscheinlichkeit, an Brandverletzungen zu sterben, für jeden New Yorker um 1/10.000 Prozentpunkt gestiegen, und das ist ein riesen Unterschied. Und wenn so was die Konsequenz einer Entscheidung ist, dann ist das meiner Meinung nach ethisch durchaus vertretbar."

    Die Antwort, die sich aus dem Finanzproblem ergibt:

    "Vielleicht der zehnte Rettungshubschrauber, den werden wir erst mal nicht kaufen, stattdessen machen wir vielleicht einen besseren Übergang vor der Grundschule. Solche Sachen, die wir sowieso jeden Tag entscheiden müssen, sollten wir dann systematisch unter dem Gesichtspunkt treffen, wie können wir mit unseren knappen Mitteln die meisten - nicht Menschenleben retten, denn den Tod kann man nur hinausschieben - die meisten Lebensjahre erzeugen. Das wäre eine rationale und ethisch sinnvolle Herangehensweise."

    Diese Herangehensweise ruft wiederum Diskussionsbedarf hervor. Soll er zusehen, wie sein Patient stirbt, nur weil dieser auf den Termin beim Kardiologen zehn Monate warten muss?, fragt ein praktischer Arzt. Das Problem der Rationierung stellt sich schon heute auch in anderen Bereichen, meint auch Professor Eckart Nagel, Chefarzt und Leiter des Transplantationszentrums im Klinikum Augsburg. Statt auf der Metaebene zu sparen, empfiehlt er in seinem Vortrag:

    "Und eine Alternative - und da unterscheide ich mich von Herrn Krämer deutlich - ist die Priorisierung, die letztendlich eine Rangfolge ist."

    Der Mediziner plädiert dafür, einen Katalog aufzustellen und nach diesen Kriterien die Patienten zu behandeln. Doch wie diese Kriterien aussehen sollen, darüber diskutiert er mit Kollegen seit drei Jahren im Rahmen einer Arbeitsgruppe der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Denn was soll in der Rangfolge ganz oben stehen? Medizinische Aspekte? Finanzielle Aspekte? Oder womöglich soziale und gesellschaftliche Aspekte? Hätte ein Nelson Mandela, wenn er eine Herztransplantation 1992 benötigt hätte, bevorzugt operiert werden müssen, weil er womöglich Leben rettet? Diese Fragen sind noch offen.

    Ganz andere Prioritäten setzt der Philosoph und Mediziner Professor Klaus Bergdolt, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik in der Medizin an der Universität Köln.

    "Das entscheidende Problem liegt meiner Meinung nach im Gesundheitsbereich darin, dass die Gesellschaft, dass die Bevölkerung nicht wirklich über den Ernst der Lage aufgeklärt wird."

    Das Problem daran sei der trügerische Glauben, dass für alle die optimale Versorgung nach dem letzten Stand der Wissenschaft auf Kosten der Allgemeinheit möglich sei.

    "Das ist eine ganz bittere, eine schreckliche Wahrheit. Die Lösung ist die, dass die Gesellschaft ihre Ansprüche auch im Gesundheitssystem zurückschrauben müsste."

    Das heißt im Klartext: Nicht bei jedem Zipperlein zum Arzt zu laufen. Altern als das zu akzeptieren, was es ist, nämlich ein Nachlassen und Verschleißen von Kräften und keine Krankheit.

    "Für mich ist auch klar, dass es in 15, 20 Jahren ganz selbstverständlich ist, dass die Menschen einfach wissen, dass die Behandlungsqualität auch etwas mit ihrer eigenen Entscheidung zu tun hat. Und das wird bedeuten, dass man sich relativ früh, nämlich wenn man sich versichert, entscheiden muss, in welcher Weise man behandelt werden will, ob man optimal behandelt werden will, dann muss man aber, zumindest wenn man kein Krösus ist, auf andere Dinge verzichten, auf ein tolles Auto, auf Reisen und so weiter. Das Problem ist nur: Ethisch ist das auf wackligen Füßen, wenn nämlich so jemand plötzlich dann irgendwann einen Unfall hat oder schwer erkrankt, dann müsste ja nach dieser Theorie, der ich im Grunde anhänge, der Arzt zu ihm sagen: Mein Lieber, eigentlich könnten wir jetzt das und das machen, aber du bist leider nur auf einem anderen Level versichert, also müssen wir darauf verzichten. Das ist natürlich ethisch auch wieder ganz umstritten."

    Eines hat die Diskussion gezeigt: Für die Gesellschaft ist der Fortschritt unbezahlbar geworden. Doch um Lösungsmöglichkeiten ringen zumindest die Wissenschaftler. Die breite Diskussion in Gesellschaft und Politik steht hingegen noch aus.