Montag, 06. Mai 2024

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"Die gute Schule"

"Ich habe fast jede geistige Mode dieser Zeit mitgemacht, aber vorher, nämlich als sie noch nicht Mode war. Wenn sie dann Mode wurde, nicht mehr. (... ) Ich konnte mit Goethe sagen: Wenn die Leute glauben, ich wäre noch in Weimar, dann bin ich schon in Erfurt." Diese Sätze stammen nicht etwa, wie man denken könnte, von Hans Magnus Enzensberger, dem Igel im Wettlauf mit dem Hasen des literarischen Zeitgeistes im ausgehenden Zwanzigsten Jahrhundert. Diese Sätze schrieb vielmehr, vor fünfundsiebzig Jahren, in seiner Autobiographie der österreichische Schriftsteller Hermann Bahr, der um die Jahrhundertwende eine Literaturbetriebsnudel ersten Ranges war, ein Hans Dampf in allen Ismen und Tendenzen des jeweils wechselnden letzten Schreis. Bahr, geboren 1863 in Linz, gestorben 1934 in München, war Dramatiker, Romancier, Essayist, Tagebuchschreiber, Populärphilosoph, Theaterregisseur und Dramaturg sowie Theater-, Kunst- und Kulturkritiker. Vom Naturalismus über Décadence, L'art pour l'art und Impressionismus bis hin zum Expressionismus nahm er aktiv und zumeist sehr lautstark an jeder auch nur einigermaßen bedeutenden, kulturellen Richtung seiner Zeit teil. Getreu seiner Maxime, der Künstler habe stets modern und revolutionär zu sein, vertrat Bahr unentwegt radikale Positionen, um kurze Zeit später mit gleicher Entschiedenheit fürs Gegenteil einzustehen. Feinde, wen wundert's bei solcher bedenkenlosen Umtriebigkeit, hatte er viele; am bekanntesten Karl Kraus, von dem die Bemerkung stammt. "Herr Bahr fördert das Unkraut, ich jäte es aus." In der Tat war Bahr ein unentwegter Förderer neuer Talente, aber zwischen all dem Kraut, das sich seiner Protektion erfreute, gab es auch immer wieder wohlgeratene Rüben: So war Bahr zum Beispiel einer der ersten und entschiedensten Fürsprecher des jungen Hugo von Hofmannsthal, dessen Stern im Wien der Jahrhundertwende wie eine Rakete am literarischen Firmament aufleuchtete. Aber ob nun Bahr "ein ordinärer Schwindler" war, wie Arthur Schnitzler befand, ein "hochgradiger Hysteriker", wie Max Nordau meinte, oder ob es sich bei ihm mit den Worten Maximilian Hardens um "den Mann von übermorgen" handelte - das bleibe als Schnee von vorgestern einmal dahingestellt. Ein wendiger, gelegentlich hellsichtiger Mann der Moderne war er mit Sicherheit. Es ist allerdings kein Zufall, daß von seinen zahlreichen Werken bis heute eigentlich nur seine theoretischen und programmatischen Aufsätze "Zur Überwindung des Naturalismus" überlebt haben und das eigentlich auch nur im akademischen Diskurs. Gelesen wird Hermann Bahr wohl kaum noch, obwohl zum Beispiel sein Roman "Die gute Schule" von 1890, der jetzt als Taschenbuch erschienen ist, durchaus noch lesbar ist - zumindest ist an diesem Werk, das im Untertitel bezeichnenderweise "Seelenstände" heißt, sehr klar abzulesen, was ein Roman vor hundert Jahren aufzubieten hatte, wenn er das werden wollte, was "Die gute Schule" wurde: Eine kleine, literarische Sensation und auch ein wenig ein Skandal. Aufgeboten werden hier nämlich erstens die Problematik des Künstlers als gesellschaftlicher Außenseiter, zweitens eine recht grobe beziehungsweise populäre Psychologie, die irgendwo zwischen Nietzsche und Freud angesiedelt ist, drittens eine gehörige Portion Zynismus, dazu antibürgerliche Affekte im Dutzend und letztens und vor allem exzessiv: Sex. Genauer gesagt: Sadomasochismus. Derart "perverse Wollust", wie das damals hieß, mag auf die Zeitgenossen Bahrs provozierend gewirkt haben - heute wirkt das eher unfreiwillig komisch. Ein Beispiel: "Die Kleider herunter, in Fetzen, bog sie über, und mit seiner Hundepeitsche. Er wollte sie ganz verwüsten und entfleischen, bis gar keine Spur mehr übrig und er befreit wäre. Sonst wußte er nichts, als nur diese unnachgiebige Begierde, daß er nicht früher aufhören könnte. Nur Blut, Blut. Da wurde ihm erst gut, wie es herunter striemte. Da zwang er sie dann zur Liebe und züchtigte sie mit Küssen, während sie stieß, speichelte und fletschte. Bis ihnen die Sinne vergingen, wie in den Tod hinein."

Klaus Modick | 01.01.1980
    Hermann Bahrs Roman heißt übrigens deshalb "Die gute Schule", weil der Autor hier die Ansicht vertritt, daß so wörtlich, "die Liebe die gute Schule der wirklichen Weisheit" ist. "Man kann ihre Lehre das ganze Leben nicht wieder vergessen." Das ist, wie so häufig bei diesem Autor, ein sich als tiefsinnige Sentenz gebender Allgemeinplatz. Gleichwohl ist es Hermann Bahr gelungen, das ästhetische Endzeit - und Krisenbewußtsein der Jahrhundertwende im Medium eines erotischen Unterhaltungsromans einzufangen. Die Tabuverletzungen sind fraglos spekulativ und manchmal trivial - und vielleicht ist das auch der Grund, warum "die gute Schule" verblüffende Parallelen zum Krisenbewußtsein jener Jahrhundertwende aufweist, auf deren Schwelle wir stehen.