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"Die Menschen in Tibet sind verzweifelt"

Die Selbstverbrennungen seien ein "Akt des politischen Protestes von Tibetern", sagt Kelsang Gyaltsen, Sonderrepräsentant des Dalai Lama in Europa. Den Dalai Lama könne man für die Selbstmorde nicht verantwortlich machen. Man solle lieber fragen: Was tut die chinesische Regierung dagegen?, so Gyaltsen.

Kelsang Gyaltsen im Gespräch Christine Heuer | 01.12.2012
    Christine Heuer: Seit vier Jahren kommt kein journalistischer Beobachter mehr nach Tibet. Die chinesischen Statthalter haben die Einreise verboten. Was wir also über die Selbstverbrennungen wissen, das erfahren wir über andere Quellen, beispielsweise über die tibetische Exilregierung in Indien und über ihre Vertreter in aller Welt. Einer von ihnen ist der in Zürich lebende Kelsang Gyaltsen. Über Jahre war er Unterhändler der Exiltibeter bei ihren Gesprächen mit Peking. Heute ist er Sonderrepräsentant des Dalai Lama für Europa. Praktisch heißt das, er ist in Europa sein politischer Vertreter. Jetzt ist er bei uns am Telefon. Guten Morgen, Kelsang Gyaltsen!

    Kelsang Gyaltsen: Guten Morgen, Frau Heuer.

    Heuer: Her Gyaltsen, warum verbrennen sich die Menschen in Tibet?

    Gyaltsen: Die Selbstverbrennungen in Tibet sind klar als Akte des politischen Protestes von Tibetern gegen die kulturelle, religiöse und politische Unterdrückung ihres Volkes erkennbar. Die Menschen in Tibet sind verzweifelt. Sie sehen keinen anderen Weg, ihre Unzufriedenheit und ihre Rechte einzufordern in der Situation, in der sie sich befinden, als doch diese drastische Form des Protestes.

    Heuer: Aber Herr Gyaltsen, wieso kommt es gerade jetzt zu einer solchen Häufung? Mehr Menschen haben sich im November selbst verbrannt als je zuvor.

    Gyaltsen: In 2008 gab es auf dem tibetischen Hochplateau einen Volksaufstand von Tibetern gegen die chinesische Unterdrückung. Seither hat sich die Situation in Tibet immer mehr verschlechtert. Und hinzu kommt auch, dass heute eine neue Generation von Tibetern in Tibet herausgekommen ist, die viel, viel politisch bewusster ist, die auch bereit ist, ihr Anliegen und ihre Unzufriedenheit über die gegenwärtig vorherrschende Situation durch Proteste zum Ausdruck zu bringen. Es hat natürlich auch die Bewegung, die im Mittleren und Nahen Osten und in Nordafrika stattgefunden hat, und dann die dramatische Eskalation von Selbstverbrennungsfällen in Tibet haben sicherlich auch mit dem 18. Parteikongress der Kommunistischen Partei – hängt sicher zusammen, die noch vor wenigen Tagen, vor einer Woche, zwei Wochen stattgefunden hat. Man wollte die chinesische Führung auf die dramatische Situation der Tibeter aufmerksam machen und eine Änderung der Politik fordern.

    Heuer: Hoffen Sie auf eine Änderung der Politik? Es heißt ja, dass der neue Parteichef Xi Jinping moderater im Umgang mit Minderheiten sein könnte als seine Vorgänger.

    Gyaltsen: Wir Tibeter sind in einer Situation, wo wir nur hoffen können. Und wie Sie gesagt haben, Xi Jinping, der jetzige kommunistische Parteiführer in China, sein Vater war ein sehr, sehr moderater und auch ein kommunistischer Führer, der auch viel Verständnis für die Anliegen des tibetischen Volkes hatte. Viele Tibeter hoffen natürlich, dass unter der neuen Führung eine positive Änderung der chinesischen Politik gegenüber dem tibetischen Volk zustande kommt.

    Heuer: Im Moment sterben die Menschen in Tibet. China sagt nun, ein Wort des Dalai Lama würde reichen, um die Selbstverbrennungen zu stoppen. Wieso sagt er nichts?

    Gyaltsen: Der Dalai Lama ist sehr, sehr besorgt über die Situation in Tibet. Und da die ganze Welt weiß über seine Haltung zu Gewaltlosigkeit und auch Gewalt gegenüber sich selbst. Der Dalai Lama hat klar betont, als der erste Fall von Selbstverbrennung 1998 in Delhi stattfand, hat er klar geäußert, dass auch Gewalt gegen sich selbst auch eine Gewalttat darstellt und vermieden werden muss.

    Heuer: Aber das ist 14 Jahre her. Warum sagt er jetzt nichts?

    Gyaltsen: Warum er jetzt nichts dazu sagt, ist – in dieser Situation, wenn der Dalai Lama keine Alternative bieten kann zu den Tibetern, wie sie zu ihren Rechten kommen können – er kann nicht einfach die Tibeter verbieten, gegenüber der Unterdrückungspolitik der Chinesen zu protestieren. Seit Jahren bietet er an, Gespräche zu führen. Er macht klar, dass er keine Unabhängigkeit und Trennung sucht, sondern eine echte Autonomie im Rahmen der Volksrepublik China. Aber die chinesische Regierung reagiert nicht auf dieses Angebot. Wenn die chinesische Regierung ein Zeichen senden würde, dass die chinesische Führung ernsthaft gewillt ist, die Anliegen der Tibeter, die Unzufriedenheit der Tibeter ernsthaft in Angriff zu nehmen, dann bin ich ganz überzeugt, dass der Dalai Lama jegliche Hilfe und Zusammenarbeit anbieten würde.

    Heuer: Herr Gyaltsen, dann verstehe ich Sie aber richtig: Solange dass nicht der Fall ist, billigt der Dalai Lama die Selbstmorde, weil sie ein Protest gegen die chinesische Herrschaft sind und weil sie Öffentlichkeit schaffen?

    Gyaltsen: Das stimmt überhaupt nicht. Es kann keine Rede von Billigung sein. Er muss den Tibetern eine Alternative bieten, wie sie zu ihrem Recht kommen können, ohne sich selbst zu verbrennen. Und nennen Sie mir diese Alternative.

    Heuer: Ich kann die Ihnen nicht nennen, aber feststeht, dass sich die Menschen weiter umbringen. Und dass Sie nichts dagegen unternehmen, dass der Dalai Lama nicht eingreift.

    Gyaltsen: Doch! Das ist nicht richtig. Die gewählte tibetische Führung hat öfter mal an die Tibeter in Tibet appelliert, nicht zu diesen drastischen Formen des Protestes zu greifen. Und der Dalai Lama hat all diese Aufrufe von der gewählten tibetischen Führung unterstützt.

    Heuer: Herr Gyaltsen, die internationale Gemeinschaft schweigt überwiegend zu dem, was wir gerade in Tibet erleben. Ich möchte das mal auf Deutschland fokussieren. Wir haben zuletzt erlebt, dass Angela Merkel den russischen Präsidenten Putin öffentlich kritisiert hat und sich mit ihm angelegt hat. Wünschen Sie sich Ähnliches auch im Umgang mit der chinesischen Regierung?

    Gyaltsen: Natürlich. Die Frage, Frau Heuer, müsste in diesem Zusammenhang sein: Was tut die chinesische Regierung, um die Selbstverbrennung der Tibeter zu stoppen? Was tut die internationale Gemeinschaft, um die Tibeter davon zu überzeugen, nicht zu diesen Formen von Protesten zu greifen? Man kann nicht, wie die Chinesen, für all die Probleme, die es in Tibet gibt, immer den Dalai Lama schuldig machen. Der Dalai Lama ist seit über 50 Jahren, ist er außerhalb von Tibet. Über 95 Prozent der Tibeter, die heute in Tibet leben, haben noch nie den Dalai Lama gesehen. Und noch immer machen die Chinesen für jeden Protest in Tibet, für jede dieser Selbstverbrennungen den Dalai Lama als den Schuldigen. Ich glaube, in diesem Zusammenhang ist natürlich – Deutschland ist in einer sehr guten Position, auf China Einfluss zu nehmen. Deutschland ist Chinas größter Handelspartner in Europa und hat großen Einfluss. Und ein aktives Engagement der deutschen Bundesregierung, um diese Situation in Tibet zu entspannen und einen echten Dialog zwischen Tibetern und der chinesischen Führung herbeizuführen, wäre von uns Tibetern aus gesehen sehr, sehr willkommen.

    Heuer: Also ein Appell an die deutsche Bundesregierung, unter anderem sich starkzumachen für die Rechte der Tibeter. Kelsang Gyaltsen war das, der Sonderrepräsentant des Dalai Lama für Europa. Vielen Dank für das Gespräch!

    Gyaltsen: Ich danke Ihnen, Frau Heuer!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.