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Die Renaissance einer toten Sprache

Bei der Wahl der zweiten Fremdsprache behauptet sich Latein nur bei jedem zehnten Schüler, lebendige Sprachen machen eben augenscheinlich mehr Sinn. Doch sobald sich der Studienwunsch konkretisiert, bereuen viele ehemalige Schüler die frühere Entscheidung. Im Lateinkurs, begleitend zum Studium, muss nachgeholt werden, was in der Schulzeit zurückgestellt oder versäumt wurde.

Von Svenja Üing |
    "Ich möchte bei dem Buch anfangen mit dem Vokabelverzeichnis zur ersten Lektion. Auf Seite 114 steht das."

    Raum 3 an der Kirchlichen Hochschule in Wuppertal, morgens um kurz nach neun. 26 Studentinnen und Studenten sitzen tief gebeugt über ihren Büchern. Für die meisten ist es die allererste Lateinstunde.

    "Auf Seite 114 steht als erste Vokabel "ave"…"

    In kleinen Schritten zum Latinum. Von jetzt an werden sie sich mindestens zwei Semester lang jeden Morgen hier treffen, um sich auf die Prüfung vorzubereiten, sagt Lateindozent Karl-Heinz Pridik:

    "Nun müssen Sie lernen, dass eine Sprache aus Wörtern besteht, aus flektierten Formen besteht und dass man auf viele Dinge achten muss, um den Sinn eines fremdsprachigen Textes zu erfassen."

    Mit im Kursraum sitzt auch Andreas Schütte. Der 22jährige ist im ersten Semester und braucht den Abschluss in Latein für sein Theologiestudium. In der Schule hat er das Latinum nicht geschafft. Jetzt sitzt er hier im Kurs – nicht ohne Magengrummeln.

    "Ich habe Angst, dass ich eines Morgens bemerke, dass ich absolut nicht mehr mitkomme und dass ich solche Defizite habe und ich mir Latein nicht so verinnerlichen konnte, dass es am Ende für das Latinum reicht."

    Für sein Studium wäre das fatal. Denn ohne Latinum kein kirchliches Examen in evangelischer Theologie. Und die Theologie ist nur eines von etwa 120 Studienfächern, für die die alte Sprache obligatorisch ist – sie reichen von A wie Ägyptologie bis Z wie Zeitungswissenschaft. Das Problem: Nicht alle Studienanfänger wissen das. Anna Lisa Grabe studiert im fünften Semester Geschichte, Englisch und Philosophie auf Lehramt. Dass sie dafür das Latinum braucht, hat sie erst am Tag der Einschreibung erfahren. Bis heute hat sie den Sprachkurs vor sich her geschoben und erst einmal ohne Latinum weiter studiert. Allerdings nicht ohne Risiko:

    "Wenn ich das Latinum nicht schaffe, dann hätte ich mein Studium umsonst studiert und das ist halt schon eine hohe Frustration."

    Das kommt durchaus vor, sagt Dietmar Schmitz, stellvertretender Vorsitzender des nordrhein-westfälischen Altphilologenverbandes und selbst Lateinlehrer an einem Gymnasium. Zweimal darf man durch die staatliche Prüfung fallen, dann ist in der Regel Schluss. Er selbst erklärt deshalb seinen Schülern und deren Eltern schon früh, wofür sie das Latinum später einmal brauchen.

    "Also wir informieren unsere Eltern schon in Klasse 5, beziehungsweise wenn sie mit ihren kleinen neuen Schülern zu uns kommen. Ein Jahr im Schuljahr vorher, vor der Wahl, werden die eingehend informiert, auch darüber, dass es sehr sinnvoll ist, Latein schon an der Schule zu lernen und nicht hinterher an der Universität das nachholen zu müssen."

    Wer das trotzdem muss, kann das neuerdings auch Online tun: Die TU Dresden zum Beispiel bietet unter www.scioviam.de Internet-Vorbereitungskurse an. In drei Semestern und für rund 300 Euro kann man selbstständig die Grammatik erlernen und das Übersetzen üben.

    Ob alleine am PC oder in der Gruppe an der Uni – das Sprachenlernen während des Studiums kostet Zeit – und damit durch die Studiengebühren inzwischen auch Geld. Ein weiteres Problem: die Einführung der BA- und MA-Studiengänge. Die vollen Stundenpläne der neuen Studiengänge lassen kaum Zeitfenster fürs Lateinlernen, sagt Knut Usener, Latein-Dozent an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal:

    "Und insofern ist dann die Frage, wie packt man eine solche Sprache, die nachgeholt werden muss, dann in einen solchen Studienplan mit rein. Das ist das ganz große Problem. Das ist eigentlich noch nirgends zu aller Zufriedenheit gelöst worden."

    Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, ob der Lateinunterricht dem Studium vorangestellt – und damit nicht auf die gesamte Studiendauer angerechnet werden sollen. Knut Usener hält das für eine gute Lösung. Er geht aber noch einen Schritt weiter.

    "Meine Forderung in dem Bereich ist schon seit langem, dass wir das Latinum fachspezifisch gestalten können, das heißt, wenn also Fakultäten da sind, bei denen Juristen mit Latein konfrontiert werden, dann müssen die einen anderen Lateinunterricht, einen anderen Lateinkurs haben als beispielsweise Anglisten."

    Bei den Medizinern wird das längst gemacht. Dort reicht zur Vorbereitung aufs Rezepte schreiben ein so genannter Terminologiekurs aus, in dem die Studierenden sich auf die Fachbegriffe ihres späteren Berufs konzentrieren.