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Die Schattenseiten des Winters

Umwelt.- Die Ozonschicht hat sich noch nie so stark zurückgebildet wie zurzeit - zumindest über der Nordhalkugel. Um etwa 40 Prozent soll sich das Ozon dort ausgedünnt haben. Ursache könnte der extrem kalte Winter sein.

Von Volker Mrasek | 05.04.2011
    Noch nie haben Satelliten und Höhenballons jemals einen so starken Ozon-Verlust über der Nordhalbkugel registriert. Die Situation nach den aktuellen Daten der Atmosphärenforscher: Im Nordpolargebiet ist die Ozonschicht im Moment um etwa 40 Prozent ausgedünnt. Der bisherige Tiefstwert stammt aus dem Frühjahr 2005 und betrug minus 30 Prozent.

    Der norwegische Atmosphärenchemiker Geir Braathen, Ozon-Spezialist bei der Welt-Meteorologieorganisation WMO in Genf:

    "Der Ozonverlust ist beispiellos. Aber er kommt nicht unvorhergesehen. Wissenschaftler sagen schon seit Jahren: Im Fall eines sehr kalten Winters werden wir einen massiven Ozonverlust sehen."

    Dazu ist es jetzt gekommen. Seit Monaten ist die Stratosphäre in mehr als zehn Kilometern Höhe über der Arktis klirrend kalt. Weil sich dort ein riesiger, stabiler Tiefdruckwirbel hält, den die Forscher Vortex nennen. Die Temperaturen liegen fortwährend bei minus 80 Grad Celsius und tiefer. Unter diesen Bedingungen entstehen in der Stratosphäre Eiswolken. Und durch chemische Reaktionen an der Oberfläche dieser Wolken werden die eigentlichen Ozon-Killer Chlor und Brom erst richtig aktiviert.

    Die beiden Elemente stammen aus Treib-, Isolier- und Feuerschutzmitteln, die zwar längst verboten, aber sehr langlebig sind. Daher werden sie noch für Jahrzehnte in der Atmosphäre vorhanden sein. Die Meteorologin Farah Khosrawi von der Universität Stockholm in Schweden:

    "Die polaren Stratosphärenwolken nehmen diesmal keine größere Fläche ein als in vorausgegangenen Wintern. Aber sie halten sich viel länger, jetzt schon bis in den April hinein. Normalerweise erwärmt sich die arktische Stratosphäre im Januar, und die Wolken lösen sich dann wieder auf. Diesmal haben wir ununterbrochene Kälte während der ganzen Polarnacht. Um so mehr Chlor und Brom ist jetzt aktiviert und kann Ozon zerstören."

    Die Dauerkälte hat schon jetzt zu Rekord-Ozonverlusten über der Arktis geführt. Doch sie könnten noch größer werden. Die Atmosphärenforscherin Florence Goutail von der französischen Forschungsorganisation CNRS wollte das heute in Wien nicht ausschließen:

    "Der polare Tiefdruckwirbel ist noch immer stabil. Und nach den Vorhersagen für diese Woche bleibt er das auch erst einmal. Wir werden auf jeden Fall verfolgen, was in den nächsten Tagen geschieht."

    Wird die Ozonschicht dünner, dringt mehr ultraviolettes Licht der Sonne bis zum Erdboden. Tatsächlich wurde in den letzten Tagen erhöhte UV-Strahlung in Finnland gemessen. Teile des Polarwirbels mit dem wenigen Ozon lägen nämlich derzeit über Skandinavien, so die Forscher.

    In den nächsten Tagen soll sich der riesige Tiefdruckwirbel, der förmlich um den Nordpol eiert, ostwärts verschieben. Dann dürfte er den Norden Russlands und Chinas bedecken.

    Könnte auch Mitteleuropa noch unter seinen Einfluss geraten? Das müsse man abwarten, sagen die Forscher. Die Sonne strahle zu dieser Jahreszeit aber noch nicht so stark. Die UV-Belastung am Boden sei deshalb auf jeden Fall deutlich geringer als im Sommer oder bei einem Tropenurlaub.

    Von einem "Ozonloch" wie über der Antarktis wollen die Wissenschaftler noch nicht sprechen. Allerdings scheinen sich die Verhältnisse anzugleichen. Noch einmal Florence Goutail:

    "Wenn wir jetzt einen Ozonverlust von 40 Prozent in der Arktis sehen, dann ist das zwar weniger als in der Antarktis. Aber es entspricht dem Niveau, das man Anfang der 90er-Jahre dort unten beobachtet hat."

    Es gibt einen Trend, den die Forscher zwar noch nicht erklären können, der sie aber beunruhigt: Die kalten Winter in der arktischen Stratosphäre werden seit Jahren immer kälter. Und das erhöht die Chancen für stärkere Ozonverluste. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass auch über dem Nordpol bald etwas klafft, was man dann wie im Süden als "Ozonloch" bezeichnen wird.