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Die singenden Jungs

Anlässlich des 800-jährigen Jubiläums des Thomanerchor Leipzig findet eine Ausstellung im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig statt. Dort kann nicht die gesamte Historie des Chores wiedergegeben werden, sodass das Bachmuseum sich den 27 Jahren mit Johann Sebastian Bach als Kantor widmet.

Von Claus Fischer | 19.03.2012
    Am Anfang steht man vor einer riesigen Bilderwand, einer Art Ehrengalerie. Rund 20 würdige Herren blicken auf die Besucher herab, alle bekleideten sie das Amt des Thomaskantors. Sethus Calvisius sieht man da, der im 16. Jahrhundert konsequent das Bildungsprogramm der Reformation umsetzte. Oder Günther Ramin, der auf Hermann Görings Hochzeit die Orgel spielte und später für seine Bach-Interpretationen den DDR-Nationalpreis bekam. Schon an diesen wenigen Assoziationen wird deutlich, wie ereignisgeladen die Historie des Thomanerchors verlaufen ist. 800 Jahre in einer Ausstellung zu dokumentieren, meint Kuratorin Kerstin Sieblist vom Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig, sei deshalb unmöglich:

    "Wir haben uns natürlich beschränkt auf bestimmte Schlaglichter, die wir setzen wollten. Also zum Beispiel Alltag oder eben ne Frage 'Wie hältst du´s mit der Religion?' Das ist ja schon nicht ganz unwichtig für den Thomanerchor. Auch die Diktaturen sollten mit berücksichtigt werden, da gibt es eben ein Kapitel zum Beispiel, das heißt 'Mit Bach und Hitler' oder eins 'Musica Sacra und Propaganda', das war uns auch ganz wichtig, das auch zu benennen."

    Durch knappe, aber sehr aufschlussreiche Texte werden die einzelnen Themenbereiche erschlossen. Ein absolutes Kontinuum: die liturgischen Dienste in der Thomaskirche. Das Singen im Gottesdienst war und ist die Hauptaufgabe der Choristen.

    Schon kurz nach der Gründung des Thomasklosters durch die Augustiner-Chor-Herren im Jahr 1212 wurden Knaben und junge Männer für die Gottesdienste verpflichtet. Davon zeugt das, so Kuratorin Kerstin Sieblist, wertvollste Exponat der Ausstellung im Stadtgeschichtlichen Museum, das sogenannte Thomasgraduale.

    "Das ist eine prachtvolle mittelalterliche Choralhandschrift und die lässt eben Rückschlüsse darauf zu, was die Thomaner im Mittelalter gesungen haben."

    Wie sich das Repertoire des Thomanerchors über die Jahrhunderte verändert hat, das kann der Besucher unter der Dusche erleben, unter der "Klang-Dusche".

    "Acht verschiedene Musiken sind da zu hören, die auch thematisch angesiedelt sind an den verschiedenen Themen, wo man also zum Beispiel ein Stück aus der Matthäuspassion genau so hören kann wie eine Bachkantate von 1931, also eine historische Aufnahme."

    Ach, ja, Bach…! Die 27 Jahre seines Thomaskantorats hat man in der Schau im Stadtgeschichtlichem Museum bewusst ausgeklammert, sie werden, logischerweise, im Leipziger Bachmuseum dokumentiert. Kuratorin Maria Hübner erläutert den auf den ersten Blick etwas befremdlichen Titel "Netzwerk Thomanerchor".

    "Es gab viele Verbindungen im Alltag der Thomaner, viele Verpflichtungen innerhalb der Schule, sowohl im musikalischen, als auch im ganz alltäglichen Leben. Da sehen Sie hier aufgeschlagen die Thomasschulordnung 'Über die Aufgabe der Purganten', das sind die, die sauber zu machen hatten."

    Die Exponate im Bachmuseum gruppieren sich um eine große Tafel, an der die Besucher auch Platz nehmen können. Der gesamte Aufbau erinnert an die Gemeinschaftstische der Knaben im Internat und ist sehr anschaulich gestaltet. Als wertvollstes Ausstellungsstück zeigt man ein so genanntes Matrikelbuch. In ihm haben sich sämtliche Thomaner zwischen 1730 und 1800 mit ihren Lebensläufen verewigt. Bis vor wenigen Wochen galt das Buch als verschollen.

    "Weil es an einer Stelle lag, wo es keiner gesucht hat","

    erzählt der glückliche Finder, Bachforscher Michael Maul:

    ""Was niemand mehr wusste, ist, dass das Leipziger Stadtarchiv in den frühen 1960er-Jahren einfach einen großen Teil des alten Archivs der Thomasschule abgeholt und in seine Bestände eingegliedert hat."

    Durch das wiedergefundene Matrikelbuch haben wir nun die Handschriften sämtlicher Thomaner der Bachzeit, eine echte Sensation, die in Zukunft womöglich noch manches Rätsel in der Biografie des größten Thomaskantors lösen könnte.