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Die Wirkung neuer Protestbewegungen im Blick

Ob Occupy Wallstreet, die Demonstrationen gegen Stuttgart 21 oder der Arabische Aufstand. Allen Protestbewegungen ist gemeinsam, dass Bürger sich auf eine neue Weise politisch engagieren. Wie diese Form wirkt und die etablierten politischen Foren ergänzt, wurde in Essen diskutiert.

Von Kersten Knipp | 26.01.2012
    Es ist seltsam: Die Menschen in Europa, dem Nahen Osten und in beiden Amerikas gehen immer öfter auf die Straße, verleihen ihrem Willen nicht nur in der Wahlkabine, sondern auch - und vielleicht sogar vor allem - auf Protestmärschen Ausdruck. Diese neuen Formen der politischen Artikulation haben durchaus ihren Sinn, erklärt die Baseler Kulturwissenschaftlerin Francesca Falk.

    "Also was Demonstrationen zu leisten vermögen, und ich fasse jetzt auch demonstrative Besetzungen darunter, sind Konflikte, Ausschlüsse sichtbar zu machen. Und in dem Sinne haben die globalen Occupy-Bewegungen auch schon etwas geleistet. Sie haben nämlich Themen auch in die Mainstream-Medien gebracht, die so vorher nicht verhandelt wurden, beispielsweise eine bestimmte Kritik am Kapitalismus, die in dieser Weise nicht vorhanden war. In Zürich beispielsweise wurde die lokale Occupy-Bewegung auch von der protestantischen Kirche unterstützt, und das hat gezeigt, dass diese Kritik eben auch von Teilen getragen wurde, wo es vorher nicht vermutet worden war."

    Die Protestbewegungen wirken oft sehr jugendlich - zu jugendlich teilweise. Kritiker bemängeln darum, mit solchen Ausdrucksformen könne man keine konsistente Politik machen, sie seien zu bunt, zu vielfältig, womöglich auch zu emotional, um es mit den etablierten politischen Institutionen aufzunehmen. Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie, Leiter der Konferenz, zweifelt an einer solchen Diagnose.

    " "Occupy" wird oft vorgeworfen, kein Programm zu haben, kein "Was machen wir besser im Finanzsystem", keinen Gegenentwurf zum Kapitalismus, kein wirklich praktikables Jenseits der gegenwärtigen Zustände. Das ist aber nicht die Funktion sozialer, das ist es noch nie gewesen. Wir haben es hier zu tun mit einer Art virtuellen globalen Vergemeinschaftung, die sich vor dieses Finanzsystem stellt und sagt "Stopp!", "Halt!", wir wollen nicht. Und das ist genau das, wie Revolutionen, geglückte wie gescheiterte, immer begonnen haben, dass im Grunde so ein Element von Irritation am Anfang stand. "

    Das erstaunlichste Phänomen an den neuen Protestbewegungen ist womöglich die Vehemenz, mit der sie zutage treten. Wie eine Welle scheinen sie durch die Städte der Welt zu laufen. Erstaunlich ist das nicht, erklärt der in Budapest lehrende Kommunikationswissenschaftler Oliver Leistert. Denn die Bewegungen - auch die digitalen Foren, deren sich die Menschen bedienen - artikulieren Anliegen, die in den traditionellen politischen Foren leicht überhört würden.

    "Ich glaube, dass im Prinzip der Erfolg der sozialen Medien in dieser Sache darauf fußt, dass das politische System, wie es organisiert ist, nicht mehr hinreichend die Bedürfnisse der Menschen berücksichtigt. Man kann soziale Medien deshalb als Ergebnis eines Drucks verstehen hinsichtlich zu mehr politischer Beteiligung, zu Partizipation."

    Es ist womöglich kein zu viel, dass die Protestbewegungen gut 20 Jahre nach dem Zusammenbruch des Ostblocks entstanden sind. Denn seitdem hat der westliche Kapitalismus kein Korrektiv mehr - und konnte sich darum auf bisweilen exzessive Art entfalten, Stichwort Managerboni, Stichwort Wetten am Finanzmarkt. So verstanden, nehmen die neuen Bewegungen durchaus die Funktion eines neuen - wenngleich bescheidenen - Korrektivs an, erläutert Francesca Falk.

    "Also man kann ja die Bewegungen und die Umbrüche, die jetzt beispielsweise im nordafrikanischen Raum passiert, sind im letzten und vorletzten Jahr ganz anders darstellen. Also da kämpften sie gegen Diktatoren, wir haben Demokratien, also sind das ganz unterschiedliche Bewegungen. Aber man kann auch die Gemeinsamkeiten fokussieren. Und dann kann gesagt werden, dass auch bei uns Prozesse der Entdemokratisierung und Prekarisierung im Gang sind, dass bestimmte gesellschaftliche Prozesse gar nicht mehr mit politischen Mitteln mitgestaltet werden können, insbesondere im Bereich der Finanzökonomie, der Wirtschaftspolitik, und dass diese Proteste, diese Demonstrationen eben auch die Grenzen der Demokratie markieren und sichtbar machen."

    Diese Grenzen werden nun ganz offenbar erweitert. Und das Korrektiv, erläutert Claus Leggewie, lässt erkennen, wie mächtig es ist.

    "Zunächst einmal ist es ein Legitimationsinstrument für etablierte Politik, zu sagen, holla, wir müssen aufpassen. Und Frau Merkel, unsere Bundeskanzlerin, rechtfertigt unter anderem die Finanztransaktionssteuer mit der Unruhe, die auf Straßen und Plätzen herrscht. Da wird sozusagen ein unmittelbarer Effekt auf die Politik spürbar, ein Konzept wir die "Finanztransaktionssteuer", was vor einem Jahr oder vor zwei Jahren speziell in Kreisen der Bundesregierung als vollständig linksradikal und vollständig undurchführbar und unsinnig gegolten hatte, wird plötzlich - natürlich im Blick auf "Occupy" und wegen des erhöhten Problemdrucks zu einem Konzept, dem jetzt viele zustimmen, inklusive der christlichen Demokratie. "

    Der über das Internet organisierte Protest gegen den ehemaligen Verteidigungsminister von Guttenberg, jetzt die auch in den Neuen Medien artikulierte Kritik an Bundespräsident Christian Wulff - auch dies zeigt, wie mächtig die neuen Protestformen bereits sind. Darin wird sich die traditionelle Politik in Zukunft gewöhnen müssen, erklärt Oliver Leistert.

    "Ich denke mal, dass das eine Herausforderung ist für die repräsentative Demokratie. ... Der Trend des Sich-Äußerns online in massenhafter Form. Das übt Druck aus auf die repräsentative Demokratie, und die muss nun erst einmal ihren Umgang damit lernen. Und mit dem Einzug zum Beispiel der Piratenpartei in das Berliner Abgeordnetenhaus sehen wir auch, dass die ersten Verbindungswege geöffnet werden zwischen diesen beiden Welten. Ja, es ist ein sehr spannender historischer Moment, würde ich sagen, für die Frage dessen was politisches Handeln sein kann. Und es bleibt abzuwarten, inwiefern die repräsentative Demokratie einen Weg findet, produktiv damit umzugehen."

    Und so ist es nicht ausgeschlossen, dass die neuen Protestformen die Macht haben, Einfluss auf derzeitigen Lebensformen zu nehmen und sie nachhaltig zu ändern. Insofern deuten sich durchaus zarte Utopien am politischen Horizont ab, erläutert Claus Leggewie.

    "Im Sinne unserer Tagung wird aus "Communitas", also diesem sehr fluiden, flüssigen Zusammenhang, der sich jetzt da herausbildet, der häufig ja auch über das Internet und die sozialen Medien verlinkt ist, wird dann so etwas wie Kommune. Das heißt, es wird so etwas geben wie Bürgerbewegungen, wie Nicht-Regierungsorganisationen. Und am Ende ist vorstellbar, wenn man sozusagen den großen historischen Wurf im Kopf hat - das muss nicht eintreten, nicht mal die Kommune muss das sein, was dabei herauskommt - so etwas, was wir altmodisch mit einem "C" geschrieben als "Communism" bezeichnen, das heißt, eine neue Form der Vergesellschaftung, die eben nicht mehr das Wirtschaftsgeschehen ins Zentrum rückt, sondern im Grunde genommen Freiheit und Glück."