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Ein Autor mit viel Nachhall in die Gegenwart

Was haben Elfriede Jelinek, Herta Müller und David Lynch gemeinsam? Eine wie auch immer geartete Beziehung zu dem literarischen Außenseiter Heinrich von Kleist. In Bonn ging eine Versammlung von "Kleistianern" diesen und anderen Kleist-Bezügen nach.

Von Christiane Enkeler | 23.10.2011
    Es ist riskant, sich in eine Versammlung von "Kleistianern" zu begeben. Seit Jahren reden sie über Gewalt, Grenzüberschreitung und Terrorismus, und jetzt nennen sie Kleist auch noch einen "Untoten".

    Anne Fleig: "Kleist als 'Untoter', ein Begriff, der auch von Elfriede Jelinek benutzt wird, meint eben, dass es ein Autor ist, der auch die Gegenwart heimsucht, der auch unbewältigt ist, der auch dadurch gerade provoziert oder irritiert, dass niemand mit ihm wirklich fertig ist."

    Literaturwissenschaftlerin Anne Fleig gehört zur dreiköpfigen Leitung der Tagung "Schreiben nach Kleist", die gestern an der Uni Bonn zuende ging. Drei Tage lang wurde über Fortschreibungen von Kleist gesprochen, in Film, Kunst, Literatur, zur Zeit der Moderne vor 100 Jahren bis hinein in die heutige Gegenwart.

    Tagungsleiter Helmut J. Schneider: "Wir wollten nicht, jedenfalls nicht in erster Linie, direkte faktisch belegbare Rezeption verfolgen, sondern kleistische Schreib-Impulse oder überhaupt Artikulationsimpulse aufspüren. Das ist ein Risiko. Positivisten, sehr faktizistisch orientierte Literaturwissenschaftler könnten uns das vorwerfen, aber genau das war unsere Intention."

    Das heißt: Nachwuchswissenschaftler und "alte Hasen", denen Kleist im Kopf rumspukt und die sich aber auch noch mit anderen Themen beschäftigen, tasten in unterschiedlich scharfen Vorträgen nach Verbindungen. Das ist anregend: Immer gibt es Nachfragen, weiterführende Vorschläge, manchmal kontroverse Diskussionen. Es kommen Bezüge zustande zu Kleist und: Musil, Herta Müller und David Lynch. Es geht um Penthesilea-Zitate in Elfriede Jelineks "Sportstück", um die Syntax bei Thomas Bernhard, um motivische Analogien bei Thomas Mann und um eine Art Kleist- "Überschreibung" beim irischen Autor John Banville.
    Germanist Bernhard Greiner vergleicht gemeinsame leitende Denkfiguren bei Kleist und Kafka, "die aber, und das finde ich eben das Interessante, die sind nicht deckungsgleich, sondern die enwickeln immer ganz genau das Gegenbild des anderen."

    Zum Beispiel beim Paradoxon: Kleists Kohlhaas befindet sich zugleich inner- und außerhalb des Gesetzes, weil er zwar mit den Mitteln des Rechtssystems handelt, der Fehde, sich aber auf Naturrecht beruft. Schließlich bekommt er Recht – unterwirft sich dem Todesurteil und nutzt es gleichzeitig für seine Rache.

    Bernhard Greiner findet nun in Kafkas Türhüterparabel "Vor dem Gesetz" mit dem Verharren auf der Schwelle ein dem Kleistschen Paradoxon reziprok entsprechendes – natürlich ist die Sache noch komplizierter.

    Dass jemand Kleist mit Kafka in Beziehung setzt, passiert gar nicht so selten, und Kafka hat sich auch selbst zu Kleist geäußert. Bernhard Greiner berücksichtigt das und geht trotzdem davon aus, dass direkte Bezugnahme des einen Autors auf den anderen nicht unbedingt nötig ist, möchte zeigen, dass sich beide gegenseitig erhellen:

    "Texte lösen sich vom Autor, der Rückbezug ist die Vielschichtigkeit oder das Sinnpotenzial eines Textes."

    Wie entgeht man dann der Gefahr der Beliebigkeit – beziehungsweise seinem eigenen Sinnhorizont, der einen Teil des sogenannten "Hermeneutischen Zirkels" ausmacht?

    Bernhard Greiner: "Das Problem ist ja nicht, dass man sich in dem befindet, sondern: Wie stark reflektiert man ihn? Also natürlich fragt man sich: Wie weit ist das, was ich dann an dem Text herausfinde, nicht schon das, was ich vorher in ihn hineinprojiziert habe. Das kann man nur lösen durch die sehr genaue, eindringliche Arbeit am Text. Den Zirkel können Sie nicht übergehen."

    Die gesamte Tagung hat so sehr mit diesem Widerspruch zwischen den und der Überlagerung der einzelnen "Zirkel" zu kämpfen, wie sie davon profitiert: Sie bewegt sich zwischen der Offenheit, die sich aus dem breiten Spektrum der Beiträge, und einer Geschlossenheit, die sich aus Wissen und Vokabular des Kleist-Diskurses ergibt.

    Als Dorothea von Mücke fragt, wer Pullman kennt, den Jugendbuch-Autor, den sie ins Spiel bringt, melden sich nur vereinzelt ein paar Leute. Man kann ja auch nicht alles gelesen haben.

    Wenn er also nicht in der Schnittmenge sitzt, ist auch der Kleist-Interessierte gleichzeitig inner- und außerhalb eines Themas. Es sei denn, er erweitert jeweils seinen Horizont.

    Was ja nicht die schlechteste Idee ist.

    Link:
    Schreiben nach Kleist. Literarische, mediale und theoretische Transkriptionen - eine Tagung in Bonn