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Ein Dorf spielt Bayern

Das amerikanische Städtchen Helen feiert 2013 sein 100-jähriges Bestehen. Wahrscheinlich wäre es ein unbedeutender Flecken - wenn es nicht seit 44 Jahre vom bayrischen Bazillus befallen wäre.

Von Rudi Schneider | 20.10.2013
    Nordöstlich von Atlanta, wo die ersten Hügel der Blue Ridge Mountains den südlichen Beginn der Appalachen markieren, liegt das Bergdorf Helen. 1926 fand man dort Gold am Dukes Creek, aber der Goldrausch währte nur zwei Jahrzehnte. Nach dem Gold war es das Holz, das gerademal 100 Seelen in diesem Bergdorf rund um die alte Sägemühle eine Lebensgrundlage bot. Als die Sägemühle ihre Tätigkeit einstellte, wurde es wieder still in dem verschlafenen Helen und als wir vor einigen Jahren zum ersten Mal eigentlich nur in Helen durchfahren wollten, erlebten wir eine Überraschung.

    Irgendetwas war falsch an dem Bild, das wir vor uns sahen. Wir waren doch jetzt in Helen, Georgia, in den Vereinigten Staaten. Auf einer leichten Anhöhe thronte ein Haus, wie in Oberammergau, weit ausgezogenes Dach, typisch bayerische Fassadenmalerei, eine weiß-blaue Fahne flatterte frech im amerikanischen Wind und über der Tür lasen wir in großen geschwungenen Lettern "Haus Edelweiß"


    Der Innenraum des Restaurants hat alles, was die typisch bayerische Gaststube braucht. Das reicht vom geschnitzten Mobiliar über die Biergläser Münchener Brauereien bis zur Sammlung von Pfeifen und Schnupftabakdosen an der Wand. Egon Bayer, der Edelweiß-Gastwirt, ist heute Anfang 70 und lebt schon einige Jahrzehnte in Amerika. Und das hat seine Sprache etwas amerikanisch eingefärbt.

    "Herzlich willkommen im Edelweiß. Ich bin der Besitzer des Edelweiß, ich bin auch der Chefkoch und Wurstmacher. Wir tun unsere eigenen Würste machen – right here - wie in Deutschland. Wie haben das Edelweiß gebaut wie im bayrischen Chalet-Style. So habe ich gedacht, warum machst du es jetzt nicht wie daheim, was immer mein Traum war."

    Das Edelweiß ist nicht das einzige Haus in Helen im bayerischen Stil, erzählt Egon. Der ganze Ort begann bereits Anfang der 70er-Jahre mit einer ungewöhnlichen Metamorphose.

    Mit seinen Empfehlungen und Tipps machen wir uns auf, um den Rest des Bayern spielenden Dorfes am Fuß der Blue Ridge Mountains zu entdecken. Die Straße folgt in sanften Windungen dem Chattahoochee River.

    Nach wenigen Metern weitet sich das Tal und gibt den Blick auf eine idyllische Dorflandschaft frei. Sind wir jetzt in Oberammergau oder in Füssen? Vor Jahren waren es noch vereinzelte Fassaden. Der bayerische Bazillus hat mittlerweile offensichtlich ganz Helen infiziert. Kein Haus, kein Geschäft, kein Restaurant ist zu sehen, das nicht jenen typisch bayerischen Baustil bis ins Detail aufweist. Natürlich sind hier alle Straßenschilder deutsch beschriftet und unter den reich verzierten Häusern finden wir beispielsweise, wen wundert es, das Hofbräuhaus oder das Helendorf River Inn, das wie eine Fachwerkburg mit zahlreichen Erkern und Winkeln direkt am Chattahoochee-River liegt. Dort treffen wir Barbara Gay, die uns von jenem Mann erzählt, der Helen Ende der 60er-Jahre aus dem Südstaaten-Schlaf riss und das bayerische Leben einhauchte, Pete Hodgkinson.

    "Pete hatte einen Outlet-Store für Socken in diesem Dorf. Er und die anderen Jungs redeten immer darüber, welch ein Unsinn sich hier jedes Jahr abspielte. Im Herbst kamen all die Leute, die rauf in die Blue Ridge Mountains fuhren, um die bunte Pracht des Herbstlaubs zu bewundern. Sie fuhren in Helen einfach durch. Hier gab es aber auch wirklich nichts Interessantes zu sehen, nur langweilige hässliche Betonhäuser. "Lasst uns etwas machen", sagten sie, "wir müssen die Leute in Helen irgendwie stoppen". Pete kannte John Kolleg, der als Soldat früher in Bayern stationiert war. Ihm war aufgefallen, dass es in Helen fast wie in den bayerischen Bergen aussah. Er sagte: "Lasst uns ein bayerisches Thema darstellen." Er zeichnete auf einem Stück Papier ganz einfach bayerische Fassaden über die alten schmutzigen Häuserfronten. Seine Skizzen zeigten auf einfache Weise, wie die alten Betonhäuser aussehen könnten, wenn man ihre Fassaden im bayerischen Stil umgestalten würde. So einfach war das."

    Aber auch einfache Dinge brauchen meistens eine gute Organisation. Es gab viele Zusammenkünfte der Gemeindeverantwortlichen, um aus der spontanen Idee ein zukunftsträchtiges Konzept entstehen zu lassen, das auch Investitionssicherheit versprach, erzählt Barbara. Ihr Mann Richard zeigt uns alte Fotos aus den Anfangstagen der wunderbaren Verwandlung in ein bayrisches Dorfdesign.

    "Die meiste künstlerische Arbeit hat John Kolleg gemacht. Die Grundlage war einfach nur eine Skizze von typischen Häuserfronten auf einem Stück Papier, wie er sie in Oberbayern gesehen hatte. Er zeigte es den Bauunternehmern, die dann versuchten, nach dieser Skizze zu arbeiten. Es gab keine detaillierten Konstruktionspläne. Bei den späteren Gebäuden wurden dann exakte Konstruktionspläne mit den typisch bayerischen Frontmalereien verwendet. Die ersten Blocks basierten allerdings noch auf diesen Skizzen, die zeigten, wie es ungefähr aussehen sollte."

    Mit Barbara und ihrem Mann Richard wandern wir ein wenig durch den Ort und bewundern das bayrische Flair der Häuser, Straßen und Plätze. Auch das Spiel mit typisch deutschen Worten auf Schildern und Hauswänden fällt auf, wie beispielsweise "Hänsel & Gretel Candy Kitchen", "Bierbrunnen", natürlich auch das "Hofbräuhaus". Keine Frage, das Tal von Helen und der Fluss, es sieht aus wie an der Ammer, irgendwo bei Ettal oder Linderhof.

    Was wäre ein bayrisches Dorf ohne die typisch bayrischen Feste, oder sagen wir besser, das bayrische Fest. Barbara hat das Oktoberfest in München auf der Wiesn eingehend studiert und kennengelernt.

    "Als ich in Deutschland war, ging das so: Eine Menge Wurst oder Hähnchen essen, jede Menge Bier trinken und tanzen. Und noch mal tanzen, bis man nicht mehr stehen konnte. Genau so machen wir das hier auch."

    "Nun, wir hatten hier eine Kleinstadt-Atmosphäre und wir wollten etwas unternehmen, um unsere Stadt touristisch interessant zu machen. Wir dachten uns besondere Veranstaltungen für unsere Besucher aus. Eines davon war natürlich das Oktoberfest. Es dauerte damals gerade mal ein Wochenende. Später verlängerten wir es dann von Jahr zu Jahr und es entwickelte sich zum unserem Hauptfestival."

    Als Festzelt fungiert in Hellen während des mittlerweile zweimonatigen Oktoberfestes eine Halle, an deren Eingang "Helen Festhalle" in großen Lettern steht.

    Die Festhalle ist im wahrsten Sinne des Wortes Dreh- und Angelpunkt für alles, was bayerisches Brauchtum von der Musik über alle typischen kulinarischen Genüsse bis zum Schuhplattler bedeutet.

    Der Ruf des "American Oktoberfest" in Helen schwappte über den großen Teich und er begeisterte offensichtlich die wahren Bayern hierzulande.

    "Wir haben Busse voller Leute aus Deutschland, die nach Helen zum Oktoberfest kommen. Ist das nicht verrückt? Wir träumen immer davon, nach München zum Oktoberfest zu fliegen. Und die Deutschen kommen hier her und sie fühlen sich offensichtlich sehr wohl bei uns."

    Das Oktoberfest ist nicht das einzige deutsche Brauchtum, das man in Helen adaptiert hat. Da wären beispielsweise der Festumzug zum Oktoberfest mit Trachten- und Musikgruppen, pferdegezogenen Brauereiwagen oder die Bavarian Nights, der Volksmarch - man beachte den deutsch-englischen Wort Mix. Und es gibt auch ein Weinfest. Die Habersham Winery schmiegt sich am Ortsausgang an die Hänge der Blue Ridge Mountains, wo man seit 1983 traditionsreichen Weinbau betreibt. Und Kellermeister Steve Gibson wollen wir einen Besuch abstatten. Er begrüßt uns an der Kelteranlage.

    "Wir bauen hier in Nordost-Georgia europäische Rebsorten wie beispielsweise Cabernet Sauvignon, Chardonnay, Merlot oder auch Riesling an. Der Riesling ist hier allerdings etwas schwierig, weil es nachts nicht kühl genug wird. Ansonsten testen wir auch neue und seltene Gewächse aus Amerika, wie sie hier in Nord-Georgia gedeihen, das tun wir ständig."

    Von Mitte August bis Ende September ist Erntezeit in den Weinbergen rund um Helen. 150 Tonnen Trauben werden dann hier gekeltert. In der Etikettieranlage erhalten die Weinflaschen vor uns das Label "Habersham Chardonnay 2012". Und bis die edlen Tropfen hier auf Flaschen gezogen werden, reifen sie im Nebenraum in verschiedenen alten Holzfässern.

    "Wir sind jetzt in dem Raum, in dem wir die meisten unserer Rotweine in 150 Holzfässern reifen lassen. Sie sind aus amerikanischer Eiche gefertigt, einige Fässer sind aus französischer Eiche, die sind allerdings sehr teuer. Für trockene Rotweine verwenden wir gerne diese alten Eichenfächer."

    Steve empfiehlt den Besuchern seiner Kellerei eine Weinprobe seiner mehrfach prämierten Tropfen. Eine Flasche Habersham Cabernet Sauvignon macht sich dann mit uns auf den Weg zurück zu Egon Beyer ins Edelweiß, wo sein hausgemachter Sauerbraten auf uns wartet. In Helen, erzählt Barbara auf dem Rückweg, gibt es mittlerweile viele Kontakte nach Bayern in Deutschland. Eine ganz wichtige Freundschaft verbindet Helen mit der Stadt Füssen im Allgäu, dort, wo dieses wunderschöne Schloss von König Ludwig steht, schwärmt Barbara.

    "In Deutschland gibt es nicht so guten Sauerbraten überall. Es gibt es nur in besonderen Gegenden. Dieses Rezept habe ich von meiner Mutter noch. Normalerweise nehmen wir gutes Fleisch. Wir nehmen ein -Top-Round - hier, wir legen ihn ein in eine Beize von ein bisschen Salz, Essig, Pfeffer, Pfefferkörner Lorbeerblätter, Nelken, Rotwein und auch - some - Karotten. Und Sellerie wird mit reingemacht für die Würze. Wir lassen das mindestens sechs Tage in der Beize. Dann wird das gerostet. Bevor wir rosten, wir tun das, das ist ein kleines Geheimnis von meiner Mutter ihrer Großmutter. Wir nehmen - some - Speckstücken und tun das spicken mit Speck. So das gibt es ein ganz - delikatierten Flavor right here - so das ist ein kleines bisschen -secret - den ich normalerweise niemand sage."

    Der Sauerbraten war köstlich, und Helen hat uns verblüfft, vor allem durch die Konsequenz der Menschen, die dort leben, die sich nach dem Niedergang der Holzwirtschaft durch Witz, Ideenreichtum und Tatkraft eine neue Lebensgrundlage geschaffen haben.
    Vor dem Eheversprechen wird noch ordentlich gefeiert.
    Bayrisches Bier fließt auch in Amerika. (picture alliance / dpa /Peter Endig)