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Ein großes Stigma

15 Prozent der HIV-Neuinfektionen gingen in den 90er-Jahren auf das Konto der Heroinsüchtigen. Verseuchte Spritzen waren der Grund. Heute ist Methadon die Ersatzdroge schlechthin - mit großem Erfolg.

Von Michael Engel | 20.07.2010
    Es ist 7.45 Uhr, wenn Schwester Anikki Gerhard an der Wohnungstür klingelt. Michael hat schon darauf gewartet. Jeden Morgen bekommt der 43-jährige Ex-Junkie und HIV-Infizierte ein Plastik-Fläschchen mit "Pola" wie er sagt: Polamidon als Heroinersatz. Außerdem eine Handvoll verschiedener Tabletten:

    "Und zwar sind das einmal Tabletten gegen HIV. Andere Tabletten sind zum Schlafen und gegen Krampfanfälle. Da kriege ich für einen ganzen Tag so eine Box. Und die teile ich mir dann auch dementsprechend wie ich sie zu nehmen habe ein."

    14 Jahre saß Michael im Knast – seit dem 18. Lebensjahr. Mit Unterbrechungen zwar, doch immer aus demselben Grund: Immer waren es Dealer- und Drogendelikte. Mit 25 – mal wieder in Freiheit und voller Zuversicht – kam der Crash seines Lebens. Er stieß beim Eishockeyspiel zusammen, mit dramatischen Folgen für die rechte Hüfte. 49 Operationen folgten, so auch 1998, als er sich eine folgenschwere Krankenhausinfektion einfing.

    "Man hat bei der ersten Hüft-OP den Fräskopf nicht gewechselt. Dadurch habe ich ins Knochenmark diese Staphylokokkis auris bekommen. Selbst als ich schon gar kein Hüftgelenk mehr drin hatte, habe ich dann Entzündungen gekriegt, wo auf einmal mein Bein aufgeplatzt ist, ich dann auf einmal ins Krankenhaus musste."

    Michael kann heute nur wenige Schritte laufen. Wenn überhaupt, dann nur mit Gehhilfen. Raus auf die Straße geht gar nicht. So ist die Wohnung sein Lebensmittelpunkt geworden. Der Fernseher läuft zum Frühstück. Am liebsten sieht er Tierfilme und Dokumentationen. Nachmittags ist die Spielkonsole dran. Ein kleines 30-Liter-Aquarium mit winzigen Neons und Barschen schenkt ihm Ruhe.

    "Aber wenn ich mal so ein Durchhänger habe, dann mache ich eine Maschine Wäsche oder bügele mal ein bisschen, was sich vielleicht lächerlich anhört, aber es ist halt ein Zeitvertreib, wo eine Hausfrau vielleicht richtig ein Hals kriegt, wenn sie bügeln muss, dann mache ich das ganz gerne. Ja, das sind so die Sachen, die ich halt hier halt so in der Wohnung ganz gerne mache."

    Allein hätte er die Wohnung wohl nicht bekommen. Viele Vermieter sind gerade gegenüber Drogensüchtigen skeptisch, lehnen ab, obwohl Behörden die Miete bezahlen.

    "Mit einer zusätzlichen HIV-Infektion sind sie praktisch chancenlos", "

    … sagt Anikki Gerhard vom Verein "Soforthilfe und Information durch ambulante Versorgung" – kurz SIDA. Die Organisation mit Sitz in Hannover mietet Wohnungen an, hilft bei Behördengängen, assistiert bei Briefen an die Krankenkasse, kümmert sich um Krankenhauseinweisungen. Nur leider – so die ausgebildete Krankenschwester – werden Drogensüchtige oft wie Patienten dritter oder vierter Klasse behandelt.

    ""Also man merkt schon, dass die Behandlung, jetzt nicht unbedingt auf medizinischer Ebene, aber auch vom Pflegepersonal, dass da schon Unterschiede gemacht werden. Patienten, gerade wenn sie eine Drogenkarriere in der Vorgeschichte haben, dass sie anders behandelt werden. Das merkt man schon, sowohl unter den Schwestern als auch unter den Ärzten. Ich meine - einmal Drogi, immer Drogi - ist das so ein typischer Satz. Also HIV ist ja schon ein großes Stigmata, aber wenn dann noch Drogen mit reinkommen, ist das eigentlich, dann ist der Mensch nicht mehr viel wert."