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Ein Scherbenhaufen

Washington wickelt alle Truppentransporte nach Afghanistan oder Irak über die Türkei ab. Der amerikanische Verteidigungsminister Robert Gates sprach in dieser Woche in London seine Sorge um die türkisch-israelischen Beziehungen offen aus.

Von Silke Hasselmann | 12.06.2010
    "Wir müssen uns unabhängig machen von ausländischem Öl!", sagt US- Präsident Obama seinem Volk immer wieder: Dafür gibt es viele Gründe. Der wichtigste: Nationale Sicherheit. Denn besonders stark verwundbar ist, der den Antrieb für sein Wirtschafts- und Konsumleben derart überwiegend in die Hand anderer Länder legt. Womit wir tief im Mittleren Osten stecken, woher die USA seit 1932 vorzugsweise ihr Öl beziehen: Saudi-Arabien, Golfstaaten wie Kuweit, Irak. Doch stimmt überhaupt noch, dass es den Amerikanern dort vor allem um den Zugang zu Öl geht? Brian Kutalis vom Center for American Progress in Washington meint:

    "Erstens würde ich mal sagen: was steht für die gesamte Welt auf dem Spiel, nicht nur für die Nationale Sicherheit der USA? Diese Region verfügt immer noch über die größten Öl-Vorkommen, die wir alle für unsere Wirtschaft brauchen. Sie ist zweitens die Quelle vieler Terrornetzwerke, die nicht nur die USA bedrohen. Es geht also um enorm viel, und dabei wir beobachten eine Region, die in den vergangenen 30 Jahren noch instabiler geworden ist."

    Die Konfliktherde sind bekannt: der Iran mit seinem mutmaßlichen Atomwaffenprogramm, Pakistan-Indien, der nach wie vor unruhige Irak, Afghanistan, der israelisch-palästinensische Dauerkonflikt. Auch aus amerikanischer Sicht das größte Problem: dass diese Konflikte beinahe untrennbar miteinander verbunden sind. Und so kommt es, dass die palästinensischen Gebiete und Israel zwar kein Öl haben, aber: Brian Kutalis ist sich sicher: Amerikas Kerninteresse besteht darin, sich auf eine nachhaltige 2-Staaten-Lösung im arabisch-israelischen Konflikt zu konzentrieren.

    "Wir dürfen nicht nur auf plötzliche Ereignisse reagieren und uns kurzfristig taktisch zu den Beteiligten verhalten, sondern wir müssen das langfristige Ziel im Auge behalten: einen stabilen Mittleren Osten, der so in sich vernetzt ist, dass er kein Problem mehr darstellt und wir uns Sicherheitssorgen machen müssen."

    Der Weg dahin? Könnte über so etwas wie das Camp-David-Abkommen von 1979 zwischen Ägypten und Israel führen, meint Kutalis. Das behandelte die akuten Probleme, doch in seinem Anhang wurden auch die langfristigen, komplizierten Bereiche angerissen. Ähnliches schwebt der Obama-Regierung mit den Israelis und Palästinensern vor. Doch ad-hoc-Krisenmanagment bleibt ihr nicht erspart. Erst recht, wenn sie von den eigenen Freunden so kalt überrascht wird wie von Israels Überfall auf das türkische Schiff gen Gaza. Denn neben dem üblichen internationalen Aufschrei gegen Israel entstand noch ein anderes Problem: die Türken hatten Israel die Freundschaft gekündigt. Ganz schlecht aus Sicht der Amerikaner, die beide brauchen. Denn die Türkei sei nicht nur als NATO-Partner im Scharnier zwischen Orient und Oxident sehr wichtig, sondern, so Brian Kutalis, vor allem im Mittleren Osten/ Südasien, wo er die Türkei vor allem an diesen vier "Fronten" sieht:

    "Erstens in Afghanistan und bis zu einem gewissen Grade auch in Pakistan. Dort ist die Türkei ein stiller Partner im Bereich Sicherheit, was sehr hilfreich ist. Die Türkei ist eines der wenigen überwiegend muslimischen Länder, die sich überhaupt auf afghanischem Boden engagieren. Zweitens der Irak: da war das türkische Vorgehen zuletzt ziemlich konstruktiv im Vergleich zu 2006/07, als sie in den kurdischen und ölreichen Nordirak einmarschiert sind. Jetzt haben mehrere Dutzend Übereinkommen mit der irakischen Regierung entwickelt und somit auch Spannungen in Nordirak abgebaut."

    Nicht einer Meinung sind sie zur Zeit bei den anderen beiden Fronten: Iran und Israel/Palästina. Doch das heißt nicht, dass Washington Ankaras Rolle unterschätzt. Im Gegenteil: Man beobachtet das wachsende Selbstbewusstsein der Türken sehr genau.

    "Wir haben es mit einer bedeutenden Macht zu tun.", meint der Nahostexperte vom eher israel-freundlichen "Centre for American Progress". Brian Kutalis glaubt, "dass viele in der Obama-Regierung diese Ansicht teilen." Nicht zuletzt der Präsident, der nicht zufällig während seiner ersten Europa-Tour auch in der Türkei gelandet war. Außerdem ist wohl auch US-Verteidigungsminister Gates vor diesem Hintergrund zu verstehen. Der erklärte dieser Tage in London zum Wohlgefallen Ankaras, die Europäer trügen dazu bei, "die Türkei vom Westen wegzutreiben", indem sie den EU-Zutritt blockierten.

    "Ich verstehe, was der Minister ausdrücken wollte, halte das aber für zu vereinfacht. Denn selbst wenn sich der Beitrittsprozess verlangsamt hat, so fühlen doch meiner Erfahrung nach die meisten Türken noch immer eine starke Verbindung zu NATO, EU und zu allem, was der Westen anzubieten hat."

    Soll heißen: der Westen hat die Türken noch lange nicht verloren. Doch Gates´ Botschaft ging an die Mitspieler im Nahen und Mittleren Osten: noch brauchen wir euer Öl und außerdem Sicherheit vor Terrorismus und Atomwaffen in den falschen Händen. Daher beachten wir jeden, der seinen Einfluss auch im langfristigen amerikanischen Interesse ausüben könnte.

    Und heute, 2010? Ihre Balancepolitik als NATO-Verbündeter und "strategischer Partner" Amerikas einerseits, als Nachbar Irans, Iraks und Syriens andererseits, als muslimisches Land noch vorwiegend orientalischer Kultur aber schon westlicher Orientierung, als Kooperationspartner Israels mit einer im übrigen pro-arabischen Haltung im Palästinakonflikt macht die Türkei zu einer schwer berechenbaren Größe. Die USA haben dies in den vergangenen Jahren wiederholt erfahren müssen, als sie in militärischen Konflikten auf die aktive Unterstützung der Türkei bauten und dabei enttäuscht wurden, zuletzt im Irak-Krieg 2003, als Ankara den Aufmarsch eines US-Armeekorps in Südanatolien zur Eröffnung einer zweiten Front gegen Bagdad verweigerte. Mit oder ohne regionale Verbündete bleibt Amerika die letzte fremde Macht im Nahen und Mittleren Osten, deren Interessen im Zentrum aller politisch-strategischen Konstellationen stehen und deren militärisches Gewicht
    seit dem Golfkrieg von 1990/91 die Region beschwert und damit eine weiteres Problem geschaffen hat.

    Hinzu kommt die ständige Gefahr einer Ausbreitung des irakischen Bürgerkriegs, der begonnen hat, über die Grenzen des Irak hinaus. Damit verbunden sind Interventionschancen des Iran im grenznahen schiitischen Süden um Bassrah, ein möglicher Interventionsanlass für die Türkei im kurdischen Norden und Saudi-Arabiens im sunnitischen Nordwesten nach Abzug der Amerikaner. Solange die US-Streitkräfte am Golf bleiben, wenn auch nur in Kuwait und zur See, ist eine solche Entwicklung trotz der ständigen Einmischung Irans, saudischer Drohungen, die irakischen Sunniten zu unterstützen, und der türkischen Drohung gegen eine Abspaltung des nordirakischen Kurdistan mit militärischer Gewalt einzuschreiten, nicht zu befürchten. Aber es bleibt das alte türkische Interesse am nordirakischen Erdölgebiet um Kirkuk, das der Türkei bei der Aufteilung des Nahen/Mittleren Ostens in den 1920er-Jahren vorenthalten wurde. Alle Mittelostkriege waren auch Ölkriege.

    Erdölwirtschaft, Erdölmacht und Erdölpolitik sind die Stichworte für die Interessen nicht nur der regionalen Staaten, sondern auch der fremden, und unter diesen der internationalen Akteure, angefangen mit den Großmächten, von denen heute nur eine einzige am Golf präsent ist: Amerika.

    Im Weiteren Mittleren Osten, im westlichen Zentralasien mit dem Kaspischen Becken um die ehemals sowjetrussisch beherrschten Staaten Aserbaidschan, Kasachstan und Turkmenistan wird die aktive Konkurrenz zwischen Amerika, Russland und China um Bohr- und Nutzungsrechte, Erdöl- und Erdgasleitungen und Raffinerien fortgesetzt. Auch Iran und Indien haben dort ihre Interessen schon markiert.

    Trotz des bündnisartigen Schutzverhältnisses zu Israel, dem es strategische Abschirmung in der weiteren Dimension und politischen Rückhalt gibt, hat die amerikanische Vormachtstellung ihren Schwerpunkt nicht im engeren Nahen Osten, sondern primär am Golf, ergänzend in Ägypten. Die in der arabischen Welt weitverbreitete Ansicht, Israel sei ein "strategischer Vorposten" Amerikas, werde deshalb von Washington unterstützt, ist falsch.