Donnerstag, 25. April 2024

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Ein Tag mit Hippokrates

Arbeit ist mehr als Broterwerb - Arbeit bedeutet Anerkennung, Selbstständigkeit, Würde. Und wer einen Beruf hat, der muss sich zwar nicht immer berufen fühlen. Aber doch befähigt. Ein Beruf gehört zur eigenen Identität und Persönlichkeit - auch, wenn er kein Garant mehr ist für einen Arbeitsplatz oder ein sicheres Einkommen.

Redakteur am Mikrofon: Thilo Kößler | 27.01.2007
    Und doch hat jeder Beruf seinen eigenen Stellenwert, sein eigenes Selbstverständnis, seine eigene Tradition, seine eigene "Lebenswelt": "Lebenswelten" - das ist der Titel unserer Sendereihe, mit der wir den Programmschwerpunkt "Werkstatt Europa" des Deutschlandfunk begleiten wollen. In sechs Folgen werden wir den Alltag verschiedener Berufe in Europa schildern und dabei nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden fragen: Was bringen sie in die Gemeinschaft ein und was hat ihnen die Gesellschaft zu bieten, damit sie das bekommt, was sie von ihnen erwartet - im Falle der Ärzte: Heilung und Gesundheit.

    Ärzte sind Ansprechpartner, Hoffnungsträger, Vertrauenspersonen. Ihnen gelten oft die ersten und die letzten Fragen. Sie leisten erste Hilfe und sind oft die letzte Rettung. Kaum ein anderer Beruf ist mit so einem hohen Sozialprestige, aber auch mit so großem Erwartungsdruck verbunden.

    Ärzte sollen das Versprechen einlösen, das der Staat gegenüber seinen Bürgern abgegeben hat - das Versprechen auf Fürsorge. Norwegen tut sich noch relativ leicht damit, weil das Öl aus der Nordsee milliardenschwere Einnahmen in die öffentlichen Kassen spült. Doch im Norden des Landes ist es schwer genug, die Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Im Umkreis von 2000 Kilometern leben 500.000 Menschen in Dörfern, Weilern, Einödhöfen. Um sie überall erreichen zu können - auf Bergen und Inseln, an Fjorden und Flüssen, bei Eis und Schnee und Wind und Wetter - ist nicht nur ein immenser technischer Apparat erforderlich. Es braucht auch Ärzte wie Mads Gilbert, denen es egal ist, ob sie mit einem Hubschrauber zu einem Patienten kommen oder mit einem Hundeschlitten. Marc-Christoph Wagner war mit ihm unterwegs.


    Im Norden Norwegens:
    Das Versprechen des Staates auf umfassende Versorgung der Patienten
    Es ist kurz nach sieben, Mads Gilbert sucht nach der Dose mit dem Kaffee. Er ist zwar frisch geduscht und rasiert, aber die Strapazen der Nacht sind dem Mittfünfziger noch ins Gesicht geschrieben: Mit müden Augen blinzelt er ins kalte Neonlicht der Teeküche.

    " Wir waren die ganze Nacht im Einsatz, ein Verkehrsunfall in der Nähe von Narvik - etwa fünf Autostunden von uns entfernt. Diese Aktion dauerte von halb zwei bis gerade eben. "

    Mads Gilbert lehnt sich in seinem Stuhl in der Einsatzzentrale des Tromsøer Krankenhauses zurück. Vor ihm der Pott mit dem dampfenden Kaffee. Um ihn herum fünf Mitarbeiter, die eingehende Notrufe aufnehmen und die Einsätze koordinieren. Das Licht in dem Raum ist gedämpft, überall stehen Telefone, Computer, Funkgeräte - an den Wänden meterhohe Landkarten.

    Seit 33 Jahren arbeitet Gilbert als Arzt in Tromsø. Seit 2003 leitet er die akute Abteilung des Universitätskrankenhauses, das für ganz Nord-Norwegen zuständig ist. Den Bereitschaftsdienst lässt er sich nicht nehmen, dann steht er sieben Tage rund um die Uhr zur Verfügung. Wann und wo das nächste Unglück passiert - das lässt sich nie vorhersehen:

    " Es darf nicht sein, dass nur diejenigen, die in den Städten wohnen, Hilfe bekommen, wenn sie in Not geraten sind. Das Ziel unserer Gesundheitspolitik lautet: Alle sind gleich, alle haben dieselben Rechte. Wir dürfen nie vergessen, dass es die Leute an der Küste und auf dem Lande sind, die unsere Nahrung sichern. Sie sind es, die den Fisch aus dem Meer holen, die die Kartoffeln anpflanzen, die Kühe melken - sie sind es, die in Gefahr geraten können. Und eben deshalb haben sie denselben Anspruch auf medizinische Versorgung wie die, die in der Nähe eines Krankenhauses wohnen. "

    Ein Notruf. Mads Gilbert springt auf - und plötzlich geht alles ganz schnell. Routiniert legt er den Rettungsanzug an, zieht sich den Helm über den Kopf, bespricht sich kurz und knapp mit dem Piloten.

    " Wir fliegen auf eine Insel außerhalb von Tromsø. Eine 60jährige Frau hat starke Schmerzen in der Brust, das könnte ein Herzinfarkt sein. Ein Notarztwagen ist ebenfalls unterwegs, aber er ist noch so weit weg, dass wir mit dem Hubschrauber schneller dort sein werden und die Frau auf jeden Fall schneller ins Krankenhaus bringen können. "

    Der Hubschrauber hebt ab - in einer dichten Wolke von aufgewirbeltem Schnee. Wenige Augenblicke später hetzt er über die norwegische Winterlandschaft: die Stadt Tromsø am Fuße schneebedeckter Berge, die Schiffe auf dem Fjord, ein rosafarbener Streifen inmitten des kühl-matten Lichts des Winters. Mads Gilbert blickt konzentriert aus dem Fenster.

    Keine zehn Minuten später landet der Hubschrauber auf einer Landstraße, Mads Gilbert eilt ins Haus. Eine ältere Frau stützt sich in ihrer Küche auf einen Stuhl, die rechte Hand drückt sie gegen die Brust. Gilbert und sein Assistenzarzt betten sie auf das Sofa im Wohnzimmer. Im Nu haben sie die Elektroden des mobilen EKG-Gerätes auf dem nackten Oberkörper der Frau verteilt:

    " Wir haben hier alles, was wir brauchen - eine Art Feldlazarett. Wir können sie genauso behandeln wie im Krankenhaus, nur eine halbe bis dreiviertel Stunde früher. So ist das bei den Entfernungen hier - wir benutzen alle uns zur Verfügung stehenden Mittel, um Zeit zu sparen. Und gerade bei einem Herzinfarkt ist Zeit ja ein entscheidender Faktor. "

    Eine Viertelstunde später hat auch der Notarztwagen das Haus erreicht, draußen sind die laufenden Rotoren des wartenden Hubschraubers zu hören. Die Patientin ist stabilisiert, ihr Atem geht gleichmäßig - das gespritzte Nitroglyzerin und Morphium beginnen zu wirken. Mads Gilbert hält die Hand der Frau. Seine Augen sind hellwach, seine Gesichtszüge entspannt:

    " Für mich als Arzt ist es faszinierend, auf diese Weise zu arbeiten. Man leitet nicht einfach eine Abteilung in einem Krankenhaus, sondern kommt zu den Menschen nach Hause. Ich bin oft ganz alleine auf mich gestellt und muss eigene Entscheidungen treffen. Das sind außerordentlich starke menschliche Eindrücke: Es geht um Leben und Tod, um menschliche Fürsorge, Menschen mit psychischen Problemen, kleine Kinder mit Magenschmerzen. Es ist das Drama des Lebens, das sich da immer wieder vor unseren Augen abspielt. Für mich ist dieser Job ein enormes Geschenk. Es geht um Menschen, nicht um Geld. "


    Das ist vielen Ärzten in Europa gemeinsam: Sie klagen, dass sie immer weniger Zeit für ihre Patienten haben und einander immer fremder werden. Der Arzt als Techniker, der Patient als Kunde - viele Mediziner fordern daher eine Rückbesinnung auf die hehren Inhalte eines Textes aus dem 5. Jahrhundert vor Christus, der ihnen bis heute als das Herzstück der ärztlichen Standesethik gilt. Jeder angehende Arzt schwört auf ihn.

    Hippokrates von Kos: DER EID DES HIPPOKRATES
    Ich schwöre und rufe Apollon, den Arzt und Asklepios und Hygieia
    und Panakeia und alle Götter und Göttinnen zu Zeugen an,
    dass ich diesen Eid und diesen Vertrag nach meiner Fähigkeit
    und nach meiner Einsicht erfüllen werde.
    Ich werde den, der mich diese Kunst gelehrt hat, gleich meinen Eltern achten,
    ihn an meinem Unterricht teilnehmen lassen, ihm wenn er in Not gerät,
    von dem Meinigen abgeben, seine Nachkommen gleich meinen Brüdern halten
    und sie diese Kunst lehren, wenn sie sie zu lernen verlangen, ohne Entgelt und Vertrag.
    Und ich werde an Vorschriften, Vorlesungen und aller übrigen Unterweisung
    meine Söhne und die meines Lehrers und die vertraglich verpflichteten
    und nach der ärztlichen Sitte vereidigten Schüler teilnehmen lassen,
    sonst aber niemanden.

    Hippokrates hat seine Zöglinge nicht nur auf ihre ethischen Verpflichtungen eingeschworen, sondern auch auf frühes Standesbewusstsein: auf strikte Geheimhaltung nämlich des medizinischen Wissens. Schließlich galt schon damals das Prinzip des freien Wettbewerbs: In der griechischen Polis musste der Arzt seine Leistungen buchstäblich auf dem freien Markt anbieten.
    Im Rückblick erscheint Hippokrates als antiker Vordenker der modernen Zulassungsbeschränkungen, mit der heute jeder Medizinstudent zu tun hat: Gar nicht so einfach, einen Studienplatz zu bekommen - da ist der Numerus Clausus vor. Später die Bewerbung um die Assistentenstelle - da ist der Professor vor. Und dann schließlich die Niederlassung als praktischer Arzt - darüber wacht die ganze Zunft.

    Das ist bei uns so - und nicht anders in Italien, trotz aller Reformbemühungen. Dort gelingt zwar derzeit Katzen, Mäusen und Ratten eine unrühmliche Krankenhauskarriere, wie die Schlagzeilen von immer neuen Hygieneskandalen bezeugen - nicht aber jungen Ärzten. Sowohl in den Kliniken des Landes als auch auf dem freien Markt weiß sich das ärztliche Establishment vor der unliebsamen Jung-Konkurrenz zu schützen. Da können die Patienten noch so sehr über lange Wartezeiten, Leistungskürzungen und den Trend zur Zwei-Klassen-Medizin klagen - besonders in den großen Städten haben es praktische Ärzte schwer, Fuß zu fassen. Karl Hoffmann aus Rom.


    Als kleiner Fisch im Haifischbecken:
    Der Überlebenskampf eines praktischen Arztes in Rom
    Eigentlich wollte Alfredo Cuffari wie viele Studenten seiner Fakultät ganz hoch hinaus: berühmter Chirurg, Spezialist in weltberühmten Kliniken. Doch dann bekam er die Chance, bei einem Landarzt ein Praktikum zu machen. Und das hat sein Leben verändert:

    "Unversehens wurde ich Hausarzt, ganz normaler praktischer Arzt in dem kleinen Ort Marino vor den Toren Roms, den ich bis dahin nur dem Namen nach kannte. Und da fand ich dann ein Betätigungsfeld, das völlig anders war, als die Arbeit im Krankenhaus oder die Forschung an der Uni. Hier hatte ich es mit alltäglichen Menschen zu tun."

    Dottore Cuffaris Entschluss war schnell gefasst: er wollte sich vor allem um seinen Patienten kümmern und nicht um die übliche Vetternwirtschaft im italienischen Gesundheitswesen, mit der er bereits während seines Studiums konfrontiert war.

    "Ich habe wirklich Kollegen erlebt, die hoch qualifiziert waren. Aber jedes Mal wenn es um eine Ernennung ging oder um den Eignungstest für bestimmte Posten, hatten andere Leute, die mit bekannten Namen, immer ihre Nase vorne."

    Auch Alfredo Cuffari gehörte nicht zu den Privilegierten, deren Väter berühmte Professoren waren und ihren Kindern die besten Plätze an der Uni oder in den öffentlichen Klinikern zuschanzen konnten. Nach fast 20 Jahren Berufserfahrung stört ihn das auch nicht mehr weiter. Er hat sich eine winzig kleine Praxis an der Via Tuscolana eingerichtet, eine der Ausfallstraßen am südlichen Stadtrand von Rom. Ein Viertel mit einfachen Bürgern in großen Wohnblocks, viele davon Rentner, deren Krankheiten er oft über viele Jahre hinweg behandelt. Und oft muss der groß gewachsene Mann mit den glatten schwarzen Haaren und dem immer freundlichen Lächeln für seine Patienten auch kämpfen. Bei Notfällen erweist sich das öffentliche Gesundheitssystem als unzulänglich. Eilige Untersuchungen gibt es nur in privaten Labors, die der Patient aus der eigenen Tasche bezahlen muss. Kann er das nicht, dann helfen nur Doktor Cuffaris Beziehungen:

    "Hier am Stadtrand passiert das häufig, dass ich bei einem Kollegen in irgendeinem innerstädtischen Krankenhaus anrufe und um seine Hilfe bitte. Der besorgt dann sofort das Röntgen oder den Ultraschall meines Notfalls ungeachtet der Wartelisten und ohne dafür etwas verlangen. Das geht nur mit viel gutem Willen und auf der Basis der gegenseitigen Kollegialität und des persönlichen Respekts. Der Kollege, wenn ich ihn um solch einen Gefallen bitte, dann handelt sich wirklich um einen ausgesprochenen Notfall. Und ich opfere meine Zeit um meine Patienten vor schlimmen Folgen zu bewahren. Aber das kann ich nicht immer machen..."

    Unzufrieden ist Dottore Cuffari nicht nur mit dem mangelhaften System, sondern auch mit der Geringschätzung vieler Patienten für seine Arbeit. Ein Hausarzt wie er erlebt es oft, dass die Kranken mehr der Apparatemedizin in den Krankenhäusern vertrauen als seiner umfassenden Berufserfahrung und seinem Urteilsvermögen. Und am meisten stört ihn, wenn er zum Bürokraten erniedrigt wird. Ein Hausarzt taugt nach Meinung Vieler nur für Atteste und zum Krankschreiben. Dreist schickt man dazu einen x-beliebigen Familienangehörigen, den Dottore Cuffaro zum Ärger der Patienten aber klar abweist:

    "Manchmal kommen die Leute und verlangen Sachen, die ich nicht machen kann. Ich kann doch nicht wissen ob einer gesund oder krank ist, wenn er nicht selber zur Visite kommt."

    Den mäßigen Ruf seines Berufes erklärt sich Alfredo Cuffari mit zählebigen Vorurteilen:

    "Für Kranke, so die allgemeine Auffassung, ist das Krankenhaus zuständig, alles andere, wie Arztpraxen, hat eine geringere Bedeutung für die Leute. Tatsächlich gab es bis vor wenigen Jahren noch nicht einmal eine spezielle Ausbildung für Allgemeinmediziner."

    Dementsprechend ist die Bezahlung. Nach Abzug aller Unkosten bleiben Dott Cuffari, heute 47 Jahre alt, etwa 2500 Euro zum Leben im Monat. Das ist wenig für einen aufreibenden und verantwortungsvollen 12-Stunden-Job. Seine 12 jährige Tochter jedenfalls glaubt er nicht dafür begeistern zu können.

    "Sie sieht halt vor allem die Schattenseite meiner Arbeit, dass ich nie zuhause bin und nicht wie andere Eltern um 5 Uhr nachmittags meinen Dienst beende. Aber manchmal ist sie dann auch wieder zufrieden , wenn die Patienten zum Beispiel an Weihnachten an mich denken und mir selbstgemachte Plätzchen mitbringen. Über solche Zeichen der Anerkennung meines Berufes freue ich mich auch."


    In Osteuropa standen viele Politiker mit dem Zusammenbruch des Sowjetreiches, mit der Unabhängigkeit und der politischen Wende vor einer doppelten Herausforderung: Sie mussten das zentralistische Erbe der sozialistischen Gesundheitspolitik abstreifen, was hieß: Bürokratieabbau, Personalabbau, Bettenabbau. Gleichzeitig standen sie vor der Aufgabe, ein neues, leistungsfähiges Gesundheitssystem zu schaffen. In der Ukraine ist das bis heute nicht gelungen. Schon vor ein paar Jahren schlugen Experten Alarm: Die Kliniken und Krankenhäuser marode, das System bankrott, das Gerät veraltet, das Personal unterbezahlt und schlecht ausgebildet: alles in allem die Versorgung der Patienten nicht mehr gewährleistet. Das wiegt umso schwerer, als die Ukraine nicht nur mit den Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl zu kämpfen hat - sondern so viele Aids-Infizierte behandeln muss wie kein zweites Land in Europa.

    Zwar hat die ukrainische Regierung jetzt die medizinische Versorgung von Kindern zum obersten Gebot erklärt. Doch noch immer liegt die Kindersterblichkeit 25-mal höher als im europäischen Durchschnitt - und es hat sich weder an der Ausstattung etwas geändert, noch am Gehalt der Ärzte. Kein Wunder, dass die Korruption um sich greift. Aus Kiew Florian Kellermann.



    Eine Kinderklinik in Kiew
    Die Ukraine und der Wert von Kindern in einer postsozialistischen Gesellschaft
    Es ist noch früh am Morgen, als Vera die Stufen aus der U-Bahn hinaufsteigt und ins Grau der Kiewer Stadtkulisse tritt. Sie geht an verschachtelten Plattenbauten vorbei und durch schmutzige Straßenunterführungen. Die Menschen tragen Regenjacken statt Wintermäntel - auch in Kiew hat es in diesem Winter noch kein einziges Mal richtig geschneit.

    " Unsere Kinder-Poliklinik ist für diese ganzen Hochhäuser zuständig. Wir beobachten jedes Kind sehr intensiv im ersten Lebensjahr - und dann je nach Bedarf. Ein Arzt sollte eigentlich nur ungefähr 600 Kinder betreuen. Aber um das Einkommen ein bisschen aufzubessern, sind es oft doppelt so viele. Dabei habe ich noch Glück, das ist ein guter Bezirk. Hier gibt es nur wenige Familien mit Alkoholikern. "


    In der Klinik zieht sich Vera den weißen Kittel über und empfängt den ersten Patienten: Der zehnjährige Sascha muss sich auf die Plastik-bezogene Pritsche setzen, direkt unter ein verblichenes Werbeplakat für Hustentropfen aus Deutschland. Vera hört seine Brust mit einem Stethoskop ab. Sascha darf bald wieder in die Schule gehen, seine Grippe ist fast ausgestanden. Vera schlägt ein großes Buch auf und beginnt zu schreiben.

    " Fünf mal muss ich den Befund aufschreiben, auf eine Krankenkarte, in dieses Buch, auf das Rezept und so weiter. Wie im 19. Jahrhundert, wirklich. Nicht einmal einen Computer bekommen wir. Eine Bekannte von mir lebt jetzt in Belgien. Sie hat mir mal am Telefon erzählt, dass der Arzt dort auf Knopfdruck alles über den Patienten erfährt, alle Behandlungen, alle Nebenwirkungen. Davon können wir hier nur träumen. "

    Vera Tschetschenjewa hat ihr Medizinstudium gerade hinter sich - ihr erster Arbeitsplatz ist ein kleiner, muffiger Raum - außer der Pritsche gibt es noch einen Schreibtisch aus Pressspan. Die 23-jährige sitzt auf der einen, eine Krankenschwester auf der anderen Seite.

    " Wir haben sehr viele Patienten und sehr wenig Platz. Nicht einmal Blutanalysen können wir hier vornehmen. Es gab schon mal eine Unterschriftenaktion für den Bau einer eigenen Poliklinik. Aber daran hat der Stadtrat kein Interesse. Der lässt lieber noch ein Hochhaus bauen und sich für die Genehmigung ordentlich schmieren. "

    Mit viel Enthusiasmus stürzte sich Vera vor sechs Jahren ins Studium - gegen den Wunsch der Eltern, die ihr zu einer Ingenieurlaufbahn rieten, weil man damit viel mehr Geld verdienen könnte. Sie sollten Recht behalten. Als junge Ärztin bekommt Vera gerade mal 80 Euro auf die Hand - viel zu wenig, um in Kiew zu überleben.

    Deshalb greift die Korruption auch unter den ukrainischen Ärzten immer weiter um sich. Viele Ärzte behandeln nur noch gegen Vorkasse, die meistens in einem Briefumschlag überreicht wird.

    " Ich verlange kein Schmiergeld. Ich habe dazu kein moralisches Recht, finde ich. Denn ich muss ja jedem Kind gleich gut helfen. Gott sei Dank verstehen viele Eltern, dass wir von unserem Gehalt nicht leben können. Die geben uns dann etwas Geld - eine Art wohltätige Spende ist das. "

    Beinahe hätte Vera den weißen Kittel schon frühzeitig wieder an den Nagel gehängt. Die Perspektivlosigkeit deprimierte sie so sehr, dass sie ein Jobgesuch im Internet aufgab. Ein Mobilfunk-Anbieter meldete sich, Vera ging sogar zum Vorstellungsgespräch. Und erfuhr, dass sie hier fünf Mal so viel verdienen könnte - wenn sie sich aufs Verkaufen von Handyverträgen verlegen würde.

    " Diese Aussicht hat mich dann plötzlich schockiert. Nein, ich will zurück zu meinen Kindern, dachte ich nur. Das ist mein Platz. "

    Gegen Mittag verlässt Vera die Poliklinik und macht sich an die Hausbesuche. Drei sind es heute, nicht allzu viele. Manchmal sind es acht oder zehn - und dann ist sie bis weit in den Abend hinein beschäftigt. Auf der Straße wird sie von einer Mutter angesprochen und um Rat gefragt. Der Husten ihres Sohnes habe zwar aufgehört, aber das Fieber will nicht zurückgehen.

    " Als Ärztin werde ich wenigstens geachtet. Die Eltern zum Beispiel glauben und vertrauen mir. Und auch die Kinder: Das ist schon ein schönes Gefühl, wenn sie mich auf der Straße grüßen, wenn ich sehe, dass sie mir dankbar sind. "

    Und dennoch spielt Vera mit dem Gedanken wegzugehen - wie viele ihrer Kollegen überlegt sie sich, ihre Heimat zu verlassen, um woanders ihrem Beruf nachzugehen: Norwegen könnte sie sich gut vorstellen oder irgendein anderes westeuropäisches Land, in dem Ärzte gesucht werden.

    " Ich sehe hier eigentlich keine Perspektive. Es gibt keine Anzeichen, dass einmal mehr Geld in das Gesundheitssystem fließen wird. Das einzige, was mich noch hier hält, das sind meine Eltern. Irgendwie ist das doch meine Heimat hier. Ja, deshalb zweifle ich noch. "


    Überfordert sind allerdings auch die Politiker in Westeuropa. Die Gesundheitssysteme sind längst an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gestoßen. Überall ist von Sparzwängen die Rede und vom Reformstau. Deutschland ist da beileibe kein Einzelfall. Die Symptome sind überall dieselben: Die Menschen werden immer älter, die Behandlung wird immer teurer, der technische Fortschritt fordert seinen Tribut. Doch die Gesellschaft wächst nicht mit, die Zahl der Kinder nimmt ab und mit ihr die Zahl der künftigen Beitragszahler. Niemand weiß, wie sich vor diesem Hintergrund die maroden Gesundheitssysteme Europas sanieren und auf tragfähige Füße stellen lassen.

    In Großbritannien setzte Tony Blair Ende der neunziger Jahre auf staatliche Finanzspritzen: Er pumpte über 50 Milliarden Pfund in das staatliche Gesundheitssystem NHS und machte den National Public Health Service zum teuersten englischen Patienten. Inmitten privatisierter Staatsbetriebe zu Wasser, zu Land und in der Luft ist der NHS der letzte noch verbliebene Hort staatlichen Monopols.

    Dabei ist er allerdings keinesfalls leistungsfähiger geworden. Tatsächlich scheint das englische Gesundheitssystem auf den demographischen Wandel ausgesprochen schlecht vorbereitet zu sein. Schon jetzt lebt jeder fünfte der 11 Millionen Rentner unterhalb der Armutsgrenze. Für sie hält der Staat nichts mehr bereit, seit schon Maggie Thatcher mit eiserner Hand Tagesstätten, Pflegeheime und Seniorenstifte schließen ließ. Die Folge: Heute müssen sich 6 Millionen Familienangehörige, Freunde, Nachbarn um bedürftige Alte kümmern- ehrenamtlich, ohne jede Bezahlung. Und auch die geriatrischen Stationen der öffentlichen Krankenhäuser, die nur Notfälle aufnehmen dürfen, sind zunehmend überfordert. Aus London Ruth Rach.


    Großbritannien und der NHS
    Eine geriatrische Station und die Frage nach dem Umgang mit Alter, Gebrechen und Tod
    Ein Labyrinth von Korridoren, grau gesprenkelte Böden, auf Hochglanz poliert. An den Wänden periodisch die Mahnung: "Ansteckungsgefahr! Hände waschen!"

    Die Geriatrie ist im dritten Stock. Taubenblaue Wände. Beißender Mief, künstliche Aromastoffe, Desinfektionsmittel.

    Die Schwestern können den Arzt nicht finden. Das Therapie- und Wartezimmer ist verlassen. An den Wänden Kollagen, mit altmodischer Kraxelschrift unterzeichnet: Louisa, Edith. Ein Poster: How to love yourself. Lerne, dich selbst zu lieben. Auf Regalen ungelenke Töpfereien: Muscheln, Körbe, Tiere, ein Glücksschwein.
    In der Ecke Rollstühle, ein Münztelefon, Stapelweise Kartons mit Windeln für Inkontinenz. Am Fensterbrett ein alter Nelkenstrauß, eine verdorrte Topfpflanze. Draußen im gelben Sodiumlicht, endlose Straßenzüge mit Reihenhäuschen. Das Gefühl, die Welt hat einen vergessen. Die Zeit bewegt sich nicht. Jedes Geräusch ist eine Erleichterung.

    Geoffrey Cloud, sympathisch auf den ersten Blick. Ende dreißig. Zugänglich. Offenes Gesicht, blaue Augen. Facharzt für Geriatrie und Schlaganfälle.

    " Meine Schlaganfallpatienten sind zwischen 18 und 102 Jahre alt. Akute geriatrische Patienten zumeist Ende 80 bis Mitte 90. Meistens sind sie gestürzt, verwirrt, können nicht zuhause behandelt werden. Sie stellen uns vor komplexe gesundheitliche und soziale Probleme, die eine holistische Antwort erfordern. "

    Sein typischer Tag beginnt um halb acht. Dr. Cloud setzt sich an den PC, erledigt Verwaltungskram. Um halb neun geht er auf seine erste Runde. Sprechstunde ist ab dreizehn Uhr, Geoffrey Cloud will sich auch mit Verwandten und Angehörigen beraten. Drei Stunden in der Woche gelten der Lehre. Für Forschung bleibe zu wenig Zeit. Leider.

    Die häufigste Behandlungsform? Dr. Cloud lächelt. "Reden - nicht gleich operieren." Und dann natürlich auch investigative Medizin: CT- Scanner, magnetische Resonanz. Und Physiotherapie. Restorative Medizin. Ältere Leute - er vermeidet das Wort ‚alt' - sollen so lange wie möglich ihre Unabhängigkeit bewahren und in ihrem gewohnten Umfeld bleiben.

    Auf die Thomas Young Station kommen nur die allerdringlichsten Fälle.

    26 Betten, zumeist Vierer und Zweierzimmer. Nach Geschlechtern getrennt, betont Geoffrey Cloud. Vereinzelt gibt es nämlich in englischen Krankenhäusern immer noch gemischte Säle. Die Türen stehen weit offen, die Kranken sind durch große Glasfenster vom Korridor aus zu sehen. Von wegen Privatsphäre.

    Eine alte Frau murmelt pausenlos "Gott hilf uns allen, bitte helft mir". Im Hintergrund läuft der Fernseher.
    Der Saal für Krankengymnastik ist abgeschlossen. Zunächst kennt niemand den richtigen Code.

    Mit sichtbarem Stolz erläutert Dr. Cloud dann die Gerätschaften.

    Ein typischer Fall? Ältere Frau, lebt zuhause, dreimal am Tag kommen ihre Pfleger. Leichte Demenz, Athritis, Gehgerät. Sie stürzt. Hat ein Geschwür am Fuß. Wir behalten sie etwa drei, vier Wochen lang in der akuten Abteilung, danach wird sie in Pflegeheim eingewiesen oder nachhause entlassen.

    Fünf Uhr. Auf der Station wird das Abendessen ausgeteilt.

    Rindseintopf, Käsequiche, Krabbensandwich. Halal, vegetarisch, koscher.

    Unter dem Pflegepersonal sind kaum weiße Briten. In der Nähe des Krankenhauses wohnen Afrokariben und Migranten vom Subkontinent, die hier arbeiten. Viele Krankenschwestern wurden auch direkt aus Übersee rekrutiert.

    Das Berufsbild des geriatrischen Arztes hat sich enorm geändert, erzählt Geoffrey Cloud auf dem Rückweg zu seinem Büro. Früher wurden Kranke über 65 in alte Hospitale geschickt, und nur Patienten unter 65 in moderne Krankenhäuser. Seit 2001 versucht man, institutionalisierte Alters-Diskriminierung abzuschaffen.

    Es gibt viele Gründe, warum sich Geoffrey Cloud für die Geriatrie entschied. Weil er nicht nur mit Ärzten, sondern auch mit anderen Stellen zusammenarbeiten muss. Weil er sich für Sozialgeschichte interessiert. Weil er das Schicksal eines Patienten oft wie ein Detektiv rekonstruieren muss. Weil sie dankbarer sind als alle anderen.

    " Jeder Patient hat seine Geschichte, hatte vielleicht einen Beruf, der gar nicht mehr existiert. Wenn mir diese Menschen ihre Geschichten erzählen, rückt das ihr Leben in eine ganz andere Perspektive und reduziert es nicht nur auf eine Phase, in der sich sie am verwundbarsten fühlen. "



    Mit dem Beitritt Rumäniens und Bulgariens am 1. Januar 2007 hat das Wohlstandsgefälle innerhalb der Europäischen Union noch einmal zugenommen - und damit geht ein dramatisches Gesundheitsgefälle einher: In keinem Land der EU ist die Sterblichkeitsrate unter Kindern und Müttern so hoch wie in Rumänien, nirgendwo sonst ist die Lebenserwartung von Männern und Frauen so niedrig. Die Systemwende ist im rumänischen Gesundheitssystem noch nicht geschafft - und an den psychiatrischen Stationen ist sie vorbeigegangen.

    Diese Anstalten gelten als das vergessene Kapitel der rumänischen Gesundheits- und Sozialpolitik. Früher wurden psychisch Kranke weggesperrt, weil sie nicht in die sozialistische Ideologie vom neuen Menschentyp passten. Dabei landeten häufig auch Alkoholiker oder Dissidenten hinter den Mauern abgelegener Verwahranstalten, weil Familienangehörige oder das Regime sie abschieben wollten. Heute kümmern sich selbstlose Ärzte und Hilfsorganisationen um Tausende von Patienten, die der Staat vergessen und abgeschrieben hat.

    Sie vegetieren unter unmenschlichen Bedingungen vor sich hin - sie werden nicht gepflegt, betreut, beschäftigt. Und von medizinischer Versorgung kann keine Rede sein. Die junge Ärztin Erzsebet Turos hätte die psychiatrische Anstalt von Borsa am liebsten fluchtartig wieder verlassen. Sie blieb - und nimmt Belastungen auf sich, die nirgendwo in Europa vorstellbar wären. Keno Verseck hat sie getroffen.


    Die Verwaltung des Mangels
    Armut und Elend in den Psychiatrischen Anstalten Rumäniens
    Sieben Uhr früh, eine holprige Landstraße in Nordwestrumänien. Im Halbdunkel steuert die Ärztin Erszébet Túrós einen Kleinbus um Schlaglöcher herum. Wie jeden Morgen fährt die schwarzhaarige 39jährige zusammen mit zwei Assistentinnen in das Dorf Borsa. Dort arbeitet sie seit zehn Jahren als Stationsärztin der örtlichen geschlossenen Psychiatrie. Fast genauso lange war sie mit den 200 Patienten allein. Kaum ein Arzt will in den heruntergekommenen rumänischen Psychiatrien arbeiten, schon gar nicht für ein Gehalt von umgerechnet 300 Euro im Monat. Erst seit knapp einem Jahr teilt Erzsébet Túrós sich die Arbeit mit einer Kollegin.

    " Ich hänge sehr an den Patienten, und sie hängen an mir. Sie fühlen sich vergessen und verlassen vom Rest der Welt. Ihre Anhänglichkeit ist ehrlich, und das berührt mich immer sehr. Wirklich, ich denke, es wäre hässlich von mir, sie einfach dem Schicksal zu überlassen. "

    Das Dorf Borsa. Es liegt zehn Kilometer abseits der Hauptstraße, zwischen kahlen Hügeln, eine Stunde Autofahrt entfernt von der siebenbürgischen Metropole Klausenburg. Von der Stadt trennt das Dorf eine ganze Welt. Das moderne Klausenburg prosperiert, im ärmlichen Borsa leben die Bauern fast wie im Museum - mit Pferdewagen und Wasserbrunnen. Die Psychiatrie in der Dorfmitte ist untergebracht in dem ehemaligen Gutsschloss, das seit Jahrzehnten nicht mehr renoviert wurde.

    Acht Uhr morgens, Erzsébet Túrós bei der Visite in einem Krankensaal. Zwanzig Männer leben hier, einige kauern unter dünnen Decken auf ihren Betten. Es ist eiskalt, von den Wänden und der Decke bröckelt der Putz ab. Am Bett eines Alten bleibt Erzsébet Túrós stehen. Der Mann kann nicht laufen und liegt in dreckigem, nach Urin stinkendem Bettzeug. Die Ärztin schüttelt entsetzt den Kopf und befiehlt dem Pfleger, das Bett neu zu beziehen.

    Solche Situationen erlebt Erzsébet Túrós jeden Tag. Sie ist eine Frau mit gutmütigen Augen und weichem Herzen, sie ist empört und fühlt sich zugleich ohnmächtig. Geld für eine Sanierung des Schlosses wie auch für mehr Möbel und Betten fehlt. Duschen können die Insassen nur einmal in der Woche, es wimmelt von Flöhen und Läusen, viele Kranke schlafen zu zweit in einem Bett. Manche Familien haben ältere, pflegebedürftige Angehörige in die Psychiatrie Borsa abschieben lassen, obwohl sie nicht psychisch krank sind. Die entsprechenden Diagnosen - das ist ein offenes Geheimnis in Borsa - haben Ärzte gegen Bestechung gestellt. Ein Teufelskreis aus Missständen und Ignoranz, den Erszébet Túrós kaum durchbrechen kann. Schon bei ihrer eigenen Arbeit fängt es an: Das medizinische Gerät von Borsa besteht aus einem Stethoskop und einem Blutdruckmessgerät.

    " Es ist schwer und frustrierend, unter solchen Bedingungen zu arbeiten. Man hat ein Studium an einer Universitätsklinik hinter sich, und dort sah alles ganz anders aus. Aber die Patienten hier sind ja auch Menschen. Ich denke immer daran, dass es auch jemand aus meiner Familie sein könnte, dass sogar ich selbst es sein könnte, der hier ist. Das hilft mir, es auszuhalten. Aber ich glaube nicht, dass es normal ist, so wie es hier ist. "

    Später am Vormittag, Erzsébet Túrós sitzt in ihrem Büro. Alle paar Minuten kommen Insassen zu ihr - mal möchten sie Kaffee trinken, mal einen Brief abgeben, mal einfach nur reden. Die Ärztin ist die bevorzugte Ansprechpartnerin der Patienten, denn sie ist freundlich und bemüht sich, ihre Sorgen ernst zu nehmen.

    Erzsébet Túrós sieht Krankenakten durch und macht Einträge. Manchmal stockt sie, wenn sie die Geschichten von Patienten liest.

    " Ja, es gibt Kranke wie zum Beispiel den hier, dessen Akte ich vor mir habe, die wirklich in die Gesellschaft zurückkehren könnten oder mindestens in eine betreute Wohnung, wo sie von einem Sozialarbeiter besucht werden würden. Aber dafür müsste das gesamte Gesundheitswesen und vor allem das Psychiatriewesen geändert werden. Das bedarf einer Initiative von oben, vom Ministerium. Ehrlich, ich glaube nicht, dass dieses Problem in absehbarer Zukunft gelöst werden wird. "

    Nachmittags, vier Uhr, Erzsébet Túros fährt wieder zurück in die Stadt. Das Tor schließt sich hinter dem Kleinbus. In Gedanken bleibt die Ärztin in der Anstalt.

    " Es kommt ziemlich oft vor, dass ich mich überfordert fühle. Wenn ich dann müde nach Hause komme, erzähle ich meinem Mann und meiner Tochter, was in Borsa war. Es hilft mir, meine inneren Spannungen abzubauen. Ich weiß, ich sollte das nicht tun, ich langweile meine Familie mit Sachen, die nichts mit ihnen zu tun haben. Oft fühlen sie sich deswegen von mir vernachlässigt, wohl auch zu Recht. "


    Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer weiter. Das wachsende Wohlstandsgefälle gehört in Europa längst zum Alltag und macht auch vor der Gesundheitsversorgung nicht halt: Alle Reformvorschläge setzen darauf, über kurz oder lang die staatlichen Gesundheitssysteme zu entlasten und die Patienten stärker zur Kasse zu bitten. Das Postulat von der Rundum - Versorgung für jedermann ist ins Wanken geraten, der Weg in die Zweiklassen-Medizin für viele bereits vorgezeichnet.

    Für einige Ärzte ist das schon lange eine Selbstverständlichkeit - und sie leben gut damit: Die Schönheitschirurgen bieten ihre Dienste in der Regel außerhalb des kassenärztlich zugelassenen Leistungskatalogs an - bezahlt wird cash oder gegen Vorkasse. Früher bestand ihre Klientel fast ausschließlich aus Schauspielerinnen, Models und anderen Promis: Heute ist der Kreis der Kunden bedeutend größer. Gebucht wird der Eingriff nach Katalog - der Zeitgeist gibt die ästhetischen Ideale vor.

    Auf 160 Millionen Euro wird allein das Umsatzvolumen der Schönheitschirurgen in der Schweiz geschätzt. Das ist nichts gegen die Vereinigten Staaten und bleibt auch noch weit hinter Deutschland zurück. Doch besonders die Kundschaft aus Osteuropa hält große Stücke auf die Expertise der Schweizer Spezialisten. Wenn Walter Chiara nicht im OP steht, kann er von seinem Schreibtisch aus auf den Luganer See und die gegenüberliegenden Berge sehen. Alexander Grass hat ihn besucht.


    Medizin als Luxusartikel
    Ein Schönheitschirurg im Tessin
    Die Website der Spitalgruppe Ars Medica wird in drei Sprachen geführt: auf italienisch, englisch und russisch. Doktor Walter Chiara trägt ein schwarzes Polohemd, er hat gepflegte graue Haare. Seine Praxis in der Clinica Sant Anna in Lugano ist mit klassischen Möbeln eingerichtet.

    Im Behandlungszimmer nebenan startet Chiara seinen Fraxel 1500. Das bisher einzige Lasergerät dieser Art in Europa. Das Ding kostet so viel wie ein Ferrari.

    Ein Kabelstrang verbindet den Laserkopf mit der Zentraleinheit aus Computer und Steuerungselektronik. Chiara programmiert das Gerät, auf der ganzen Welt reise er umher sagt er stolz, immer auf der Suche nach neuen Behandlungsmethoden. Zum Beispiel der neue Laser. Oder Stammzellen und Fibroplasten - jene Körper-Zellen, die in der Haut das Bindegewebe bilden. Sie sollen künstliche Implantate ersetzen.

    Er sehe in seiner Praxis Patientinnen aus Russland sagt er, aus Kasachstan, aus den arabischen Emiraten, England, Griechenland, Italien und der Schweiz.

    Er habe mit vielen reichen Menschen zu tun und so fehle ihm gelegentlich jener menschliche Bezug, den ein Landarzt in Norwegen genieße.

    Oft soll Chiara Augenfalten entfernen, Liftings im Gesicht und am Hals vornehmen, Nasenkorrekturen, Operationen an der weiblichen Brust, Fettpolster am Bauch entfernen oder absaugen.

    Es sei das überflüssigste vom überflüssigen. Walter Chiara sagt es zweimal.

    Und erzählt, wie er von asiatischen Frauen oft um einen westlicheren Gesichtsausdruck gebeten wird, die Lidfalten ihrer Mandelaugen sollen wegoperiert und europäischer werden.

    Walter Chiara ist ausgebildeter Facharzt für Chirurgie. Schon immer begeisterte er sich für die Malerei. Und so kam seine Passion für die darstellende Kunst, für Proportionen und Harmonie zusammen mit dem Handwerk der Chirurgie. Als Kunsthandwerker versteht er sich.

    Das schönste für ihn seien die strahlenden Augen der Patientinnen, ihr Dank nach der Behandlung sagt er. Die Welt des Unnötigen, der Schönheitschirurgie verlässt Chiara, wenn er sich als Kriegschirurg zur Verfügung stellt in Somalia. Und in Lugano behandelt er arme Patientinnen gratis.

    Früher lebte er zu 80 90 Prozent von der Schönheitschirurgie, sagt Chiara. Jetzt aber, seit er den neuen Laser habe, komme die Hälfte der Patienten zu ihm wegen der Sanierung von Narben.

    Er habe hier Patienten mit grauenhaften Traumata, sagt er. Er sucht Fotos heraus, die er auf einer besonderen Festplatte abspeichert. Es gibt Menschen die sind entstellt nach Unfällen nach Krebsbehandlungen und Operationen.

    Er zeigt Bilder einer Frau, die an der Nase und im Gesicht operiert werden musste. Zwischen dem entstellten Antlitz vorher und dem heiteren Gesicht danach ist die Frau kaum wieder zu erkennen. Sehen sie nur hin sagt Chiara. Sehen sie ihre Augen. Sie ist es. Sie ist zufrieden.

    Walter Chiara lacht. Er der Kunsthandwerker hat dem Schicksal ein Schnippchen geschlagen. Einmal mehr.