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Ein zweiter Gedanke zur ersten Liebe

Ist die erste Liebe das wichtigsten Ereignisse in unserem Leben oder nur ein Mythos, der in Romanen und Erzählungen zur Verklärung beiträgt. Am Potsdamer Einstein Forum haben darüber Wissenschaftler diskutiert.

Von Bettina Mittelstraß | 02.02.2012
    Die Gäste waren längst weggefahren. Die Uhr schlug halb eins. Im Zimmer befanden sich nur noch der Hausherr sowie Sergej Nikolajewitsch und Wladimir Petrowitsch. Der Hausherr klingelte und befahl, die Reste des Abendessens abzutragen. "Es ist also abgemacht", begann er, setzte sich bequemer in den Sessel zurück und zündete sich eine Zigarre an, "dass jeder von uns die Geschichte seiner ersten Liebe erzählen muss. Sie sind an der Reihe, Sergej Nikolajewitsch.

    Erste Liebe zum Nachtisch. Ivan Turgeniews Novelle von 1860 mit dem Titel "Erste Liebe" ist eine berühmte Geschichte über ein Gefühl, das wahrscheinlich bei jedem Menschen eine zentrale Rolle einnimmt. So auch bei Turgeniew: Drei Männer im gesetzten Alter wollen mit gefülltem Bauch über Existenzielles reden, die erste Liebe. Es sei verraten: Dazu kommt es an diesem Abend nicht. Doch einer von ihnen - Wladimir Petrowitsch - verspricht, seine Geschichte aufzuschreiben und sie zu einem späteren Zeitpunkt vorzulesen. Die Novelle besteht aus seinem Manuskript. Das umwerfende Großgefühl ist eben vor allem eines: eine gute Geschichte.

    "Was ist denn überhaupt ein bearbeitbares Problem für die Wissenschaft? Meine Antwort ist der außergewöhnliche, anhaltende Erfolg dieser Erzählung. Was ist das für ein Erfolg? Wieso ist er möglich? Hat er Voraussetzungen? Ist er gebunden an eine bestimmte historische Zeit?"

    Nikolaus Wegmann ist Professor für Literatur- und Medienwissenschaft an der Princeton University in den USA. Als anthropologisches Phänomen interessiert ihn die "Erste Liebe" nicht. Auf die Frage, "was" die erste Liebe "eigentlich" ist, meint er: Die Anzahl der Interpretationen ginge gen unendlich. Die mag man genießen. Die Tagung, die das Einstein Forum in Potsdam zu "Ersten Liebe" organisierte, hatte deshalb auch zahlreiche Schriftsteller eingeladen, ihre Geschichten beizutragen. Nikolaus Wegmann indessen erklärt auf zwei Ebenen den nachhaltigen Erfolg der Empfindsamkeitsliteratur, wie sie im 18. Jahrhundert auftritt:

    "Es ist zum einen der Erfolg einer spannenden Geschichte. So wie es die Robinsonade gibt: junger Mann aufs Schiff - Schiffbruch - Insel - muss sich durchsetzen. Das läuft. Das ist einfach eine tolle Geschichte. Und jetzt gibt es eine neue tolle Geschichte, die heißt: Abenteuer des Herzens."

    Der zweite Grund ist ein neuartiges Leseverhalten, das sich in dieser Zeit durchsetzt. Ein verschlingender Konsum von Liebesromanen, deren Menge auf dem Markt entsprechend sprunghaft zunimmt.

    "Diese Lesetechnik - wer die beherrscht, wer die anwendet, der bekommt, was sollen wir sagen: eine Intensität. Er ist abgetaucht in das Buch. Der englische Ausdruck, der da kaum zu übersetzen ist, heißt: "lost in a book" - Es ist eine völlige Immersion, ein völliges Eintauchen, sodass der Leser, wenn er das gut kann, gar nicht mehr genau unterscheiden kann: Was lese ich? Welche Buchstaben, welche Wörter, welche Satzkonstruktionen?"

    Die verschlingende Leseweise, erläutert Nikolaus Wegman, wird schon im 18. Jahrhundert medienkritisch unter die Lupe genommen. Von krankhafter Lesesucht war die Rede, von Frauen, die darüber ihre Pflichten vergäßen. Der Ruin der sozialen Ordnung sei gewiss. Das tat der Ausbreitung der Lektüre und ihrer Lesart keinen Abbruch. Im Gegenteil. Die Story "Erste Liebe" wird wieder und wieder von prominenten Schriftstellern erzählt - darunter Goethe, später Turgeniew. Sie zirkuliert über die ganze Welt und ist bis heute ein Kassenschlager - in allen Medienformen. Schnell recherchiert fand Wegmann allein neun Spielfilme, die "First Love" bereits im Titel tragen - in Indonesien, Japan oder Thailand. In Südkorea sogar eine Fernsehserie: Erste Liebe, in 66 Folgen. Erste Liebe also ein ewiges Mysterium, wie es die Religion kennt?

    "Ich will nicht sagen, dass es eine religiöse Erfahrung sei. Alles was ich glaube sagen zu können ist, dass es erstens bei der ersten Liebe immer um Geheimniskommunikation geht und zweitens, dass unter diesem Terminus verschiedene Formen der Geheimniskommunikation in der Lektüre praktiziert werden."

    Plötzlich glaubte ich Stimmen zu hören; ich schaute über den Zaun - und erstarrte. Ein seltsames Schauspiel bot sich mir. Wenige Schritte von mir entfernt, auf einem Platz zwischen grünen Himbeersträuchern....

    "Bei Turgeniew ist es eine Ausweitung der Geheimniskommunikation in Richtung, ich sag mal, religiöser Muster: patterns. Das heißt, wenn man die Stelle liest, die Stelle aller Stellen, genau jene, wo der junge Wladimir seine später dann seine heiß geliebte Sinaida trifft oder sieht - er sieht sie ja natürlich nur - dann ist er hin und weg. Zwei Seiten lang vollkommenes Hin und Weg und Vergessen, und er könnte aufschreien. Also die extremste Wirkung wird Zeile für Zeile dem Leser gegeben."

    "Erste Liebe" ist doppelt spannend: Detektivgeheimnis und religiöses Geheimnis, also die Präsenz des Nichtkommunikativen.

    "Gerade weil es unerklärlich ist, hat es eine extreme Attraktivität. Es ist das ganz Außerordentliche. Es ist jenseits der normalen Kausalität. Jenseits des Alltags. Und das liest man natürlich besonders gerne."

    Und sieht es gerne. Um 1600 entwickelte sich eine bis heute offenbar gültige Bildsprache der "Ersten Liebe". Die Kunsthistorikern Victoria von Flemming, Professorin an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig beschreibt Mittel, mit denen "Erste Liebe" gekennzeichnet wird.

    "Mit dem Wechseln der Gesichtsfarbe, die merkwürdigerweise gemalt werden, mit niedergeschlagenen Augen, mit Übersprungshandlungen, wo eigentlich der Geliebte umarmt werden sollte, aber es wird lieber die Freundin umarmt. Eine etwas affektierte, hilflose Gestik der Hände, der Arme, ein sehr vorsichtiges Nähern."

    Diese Sprache findet sich auch in moderner Fotokunst. Beide Sprachen, in denen von der "Ersten Liebe" erzählt wird, - die der Malerei und die Literatur - schrieben sich über Jahrhunderte in ein kollektives kulturelles Gedächtnis ein. Sie dienen ihren Betrachtern, Lesern und Analytikern bis heute zur Interpretation des Phänomens. Prägen sie auch das Verhalten und Empfinden selbst? Legen Frauen für ein Date Rouges auf, weil sie längst wissen, wie die "Erste Liebe" daher kommen muss? Nämlich errötend?

    "Das greift immer ineinander. Das Auflegen von Rouge ist erstmal hermeneutisch offen. Es kann Eifer bedeuten, es kann aber eben auch so eine aufgelegte Keuschheit oder eine aufgelegte Scham bedeuten, die keineswegs echt sein muss. Interessant finde ich, dass sie sozusagen als Körpersprache der Ersten Liebe aufgelegt wird, aufgetragen wird als Kosmetik, als Maskierung. Das heißt, dass sich da etwas Wichtiges herausgebildet hat, das dann wiederum womöglich unseren affektiven Haushalt geprägt hat, dass das so ineinandergreift. Das wissen wir nicht."

    "Es gibt Muster. Die muss man so sehen wie in der Ethomethodologie: als Drehbücher für den Alltag. Und die haben Variationsbreite. Und deswegen lesen wir auch so viele "Erste Liebe"-Geschichten, um die Variationsbreite immer mitzuführen: Damit wir uns als Individuen singulär empfinden können, wenn wir erste Liebe erleben."

    Sergej Nikolajewitsch, ein dicklicher Mann mit rundem Gesicht und blondem Haar, schaute zuerst den Hausherrn an, dann richtete er den Blick zur Decke. "Bei mir gab es keine erste Liebe", sagte er schließlich, "ich habe gleich mit der Zweiten begonnen.