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Ein Zyklon spielt Robin Hood

Selbst starke Stürme mit meterhohen Wellen lassen das Meer 100 Meter unter der Oberfläche unbeeindruckt - soweit die gängige Vorstellung. Allerdings haben spanische Forscher beobachtet, wie ein starker Sturm selbst in über 1000 Meter Tiefe noch eine prägende Wirkung zeigen kann.

Von Lucian Haas | 15.02.2012
    Der zweite Weihnachtstag im Jahr 2008 ist den Küstenbewohner Kataloniens in unheilvoller Erinnerung geblieben. Ein Sturm überzog das Land, wie es ihn laut Wetteraufzeichnungen dort noch nicht gegeben hatte. Bis zu acht Meter hoch schlugen die Wellen an die Mittelmeerküste Nordostspaniens, zerstörten Hafenmolen und Strandpromenaden und rissen mehrere Menschen in den Tod.

    "Es war ein Jahrhundertsturm mit dem höchsten jemals registrierten Wellengang. Und er hat nicht nur die Küstengebiete getroffen, sondern sich bis in die Tiefen des Meeres ausgewirkt."

    Anna Sanchez-Vidal ist Meeresforscherin an der Universität von Barcelona. Für sie war der große Sturm ein Glücksfall. Gerade einmal vier Wochen zuvor hatte sie gemeinsam mit Kollegen 300, 1000 und 1500 Meter tief in einem Graben vor der Küste Kataloniens Strömungsmessgeräte und Sedimentfallen installiert. Ziel war es zu erfassen, wie viele Sedimente und daran gebundene Nährstoffe aus flacheren Gewässern in die Tiefsee gelangen. Größere Mengen erwartete die Forscherin nicht. Die Tiefsee gilt allgemein als Hungerzone des Meeres. Weil das Licht fehlt, gibt es dort keine Fotosynthese. Alle Lebewesen müssen mit den geringen Einträgen organischer Stoffe von oben auskommen. Doch dann erlebte Anna Sanchez-Vidal eine Überraschung.

    "Am meisten hat mich beeindruckt, wie sich so ein Sturm bis zum Meeresgrund in 1500 Meter Wassertiefe auswirkt. Theoretisch sollten die Effekte von Wind und Wellen nur in den obersten 100 Metern der Wassersäule zu spüren sein. Aber unter bestimmten Bedingungen kann ein Sturm Sedimentlawinen auslösen, die in viel tiefere Regionen vordringen."

    Das vom Sturm aufgepeitschte Meer zerstörte in den flacheren Gewässern riesige Seegrasflächen. Der Meeresboden wurde aufgewirbelt. Grober und feiner Sand samt der daran haftenden organischen Materie schwebte im Wasser. Zugleich trieb der Sturm Strömungen in der Tiefe an, sodass große Mengen der Schwebstoffe 1500 Meter hinab in die Seegräben gespült wurden. Das Ergebnis war eine enorme Umverteilung von Nährstoffen.

    "Der Sturm hat die Ökosysteme in den flacheren Küstengewässern ausgeraubt. Weil dort durch die Einstrahlung des Sonnenlichts Fotosynthese stattfindet, sind sie reich an Nahrung. Der Sturm hat diese Nährstoffe in die dunkle Tiefsee verfrachtet, wo es an Nahrung mangelt. Er hat also den Reichen genommen und den Armen gegeben.
    Wir nennen das den Robin-Hood-Effekt."

    Die massive Umverteilung von organischem Material aus den flachen Küstenzonen stellt allerdings mehr dar als nur ein überraschendes Festmahl für die Tiefseefauna.

    "Was auch noch geschieht, ist: Der organische Kohlenstoff von der Oberfläche wird in der Tiefsee vom Austausch mit der Atmosphäre abgeschnitten. Das trägt dazu bei, die Einlagerung von Kohlenstoff in den Meeressedimenten zu erhöhen."

    Anna Sanchez-Vidal hat mit ihrer Studie eine bisher kaum vermutete Kopplung der Vorgänge in der Atmosphäre und der Tiefsee entdeckt. Wenn starke Stürme Kohlenstoff in die Tiefen des Meeres verlagern, kann dieser nicht mehr in Form von CO2 in die Luft gelangen. Das könnte theoretisch helfen, den Klimawandel abzumildern. Ob allerdings dieser Effekt im globalen Maßstab eine nennenswerte Rolle spielt, lässt sich anhand der Messdaten des einen Sturmes bisher nicht abschätzen.