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Eingebautes Schmerzmittel

Neurologie. - Nacktmulle sind in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich. Sie leben in großen Gruppen in unterirdischen Bauen, regiert von einer aggressiven Königin, die als einzige Nachwuchs bekommt. Der Stoffwechsel der Tiere läuft auf Sparflamme, obwohl sie kilometerlange Gangsysteme graben. Nacktmulle leben ausgesprochen lang, bekommen keinen Krebs – und zeigen kaum Schmerzreaktionen. Eine Erklärung für letzteres bieten Forscher aus Berlin in der aktuellen "Science".

Von Volkart Wildermuth | 16.12.2011
    Nackt, faltig und mit riesigen Nagezähnen versehen. Auf Fotos erscheinen Nacktmulle gewöhnungsbedürftig bis hässlich. Trifft man die sozialen Nager aber in Persona, im Keller des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin in Berlin, dann wirken sie eher freundlich. Die kleinen Tiere laufen emsig durch die Gänge und Kästen ihres Kunststoffbaus, drängen sich über- und untereinander, kuscheln, fiepen und graben, graben, graben. Der britische Neurophysiologie Dr. Gary Lewin züchtet die Nacktmulle aber nicht, weil sie so sympathische Tiere sind. Ihn interessieren ihre ganz besonderen Anpassungen an das dichtgedrängte Leben im unterirdischen Bau, konkret ihr Schmerzempfinden, oder besser gesagt ihr Mangel an Schmerzempfinden. Das fiel zum ersten Mal auf, als Forscher Nacktmulle mit Capsaicin behandelten, der extrem scharfen Substanz aus Chillipfeffer.

    "Und wenn man das in die Haut reibt, bei Menschen, das ist fruchtbar schmerzhaft. Dieses Capsaicin bringt überhaupt kein Schmerzverhalten im Nacktmull hervor. Die Tiere haben überhaupt nicht auf diese Substanz reagiert."

    Auch Säurespritzer auf der Haut stören den Nacktmull nicht. Gary Lewin wollte den Grund wissen. In den Nerven der Haut reagieren spezielle Antennen oder Rezeptoren auf Säure. Lewin:

    "Wir haben festgestellt, diese Säurerezeptoren waren vollständig anwesend im Nacktmull und das war ein Riesen-Rätsel. Warum sind die Nerven aber immer noch unempfindlich gegenüber Säure?"

    Nervenzellen müssen einen Reiz wie die Säure nicht nur mit Rezeptoren registrieren. Sie müssen die Information auch die ganze lange Nervenfaser entlang weiterleiten. Dazu dienen elektrische Aktionspotentiale, die spezialisierte Kanalproteine erzeugen. Eines dieser Kanalproteine wird durch eine saure Umgebung gehemmt. Und hier fand sich endlich der entscheidende Unterschied zwischen Maus- und Nacktmullnerven: bei den Nacktmullen sind die Kanalproteine viel empfindlicher. Die Säure hat deshalb einen zweifachen Effekt. Der Reiz wird, wie bei der Maus, von den Rezeptoren registriert, aber dann von den Kanalproteinen nicht mehr effektiv weitergeleitet.

    "Die Säure war beim Nacktmull fast wie ein Betäubungsmittel für die Aktionspotentiale."

    Das Gehirn erfährt nichts von der Säure auf der Haut, die Tiere zeigen keine Reaktion. Nun kommt ein Nacktmull in der Natur weder mit Chillischoten noch mit scharfen Säuren in Berührung. Dafür ist die Luft unter Tage im Nacktmullbau ziemlich dick. Wenn bis zu 300 Tiere zusammenleben, und nie an die Oberfläche gehen, dann sammelt sich Kohlendioxid aus der Atemluft an. Die Konzentration kann 200 Mal höher liegen, als an der frischen Luft. Und CO2 wird im Gewebe zu Säure umgewandelt. Lewin:

    "Eine Maus würde nicht überleben in dieser CO2-Konzentration. Aber der Nacktmull sitzt ständig in dieser Atmosphäre und muss überleben und damit klarkommen. Wir gehen davon aus, dass diese Änderung in der Säuresensitivität diese Lebensart von den Tieren erlaubt."

    Für die Evolution war das keine große Hürde. Die Veränderung von nur drei Bausteinen im Kanalprotein reichte aus, um die Nerven mit einem eingebauten Betäubungsmittel für Säure-Schmerzsignale zu versehen. Eine ganz ähnliche Mutation findet sich auch bei bestimmten Fledermäusen, die zu Hunderttausenden in Höhlen hausen und ebenfalls unter hohen Kohlendioxid-Konzentrationen leiden. Die Säuretoleranz ist aber nur eine der besonderen Anpassungen der Nacktmulle an ihre unterirdische, hoch soziale Lebensweise.

    "Wir gehen davon aus, dass es eine relativ kleine Gruppe von Genen geben wird, die diese großen physiologischen Unterschiede erklären könnten."

    Als nächstes will Gary Lewin verstehen, wie die Nacktmulle es eigentlich schaffen, mit ihrem stark gedrosselten Stoffwechsel, ständig so aktiv zu sein und zu graben, graben, graben.