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Eisbrecher Ahoi!

Das Franz-Josef-Land in der russischen Barentssee ist die nördlichste Inselgruppe der Welt. Sie kann nur für kurze Zeit in den Sommermonaten besucht werden. Und selbst im Juli und August kommt man nur mit dem Eisbrecher dorthin.

Von Jens Rosbach | 23.12.2012
    81 Grad, 52 Minuten nördlicher Breite. Graue Eisschollen schlagen gegen die Schiffswand; blau und grün schimmernde Eisklumpen zerbersten am Bug. Ein Zittern geht durch den 130 Meter langen Stahlkoloss.

    Wir sind in der russischen Barentssee, an der Spitze des Franz-Josef-Landes. Die Passagiere und Expeditionsleiter wollen es "krachen" lassen.

    Klaus Lippold:
    "Ist richtig schön, ja. Das macht deutlich, wir sind auf einem Kahn drauf, der mit 25.000 PS und superstarkem Dieseln damit genau das leistet, was ich erwartet habe, ja: Eis knackt."

    Franz Gingele:
    "Es ruckelt und es knallt richtig, das Schiff schert zur Seite weg. Zum Glück lebt man in den Eisbrechern oberhalb des Hauptdecks. Also wenn man Kabinen im Rumpf hätte, da würde man kein Auge mehr zur kriegen (lacht). Das kracht dann so richtig. So ungefähr wie man Steine in die Waschmaschine wirft, in die laufende. So etwa."

    Unser Eisbrecher, die "Kapitän Dranitsyn", gehörte einst zur Sowjetflotte. Noch heute schmückt ein riesiges Emblem aus alten Zeiten den Bug - ein Emblem mit Hammer, Sichel, Ährenkranz und rotem Stern. Auf dem Weg zum Nordkap der Inselgruppe besuchen wir Orte, die mit einem normalen Passagierschiff kaum zu erreichen wären. Unwirtliche, wilde Orte - bewohnt nur von Polartieren. Jürg Krompholz:

    "Das ist einfach überwältigend, das zu sehen und auch zu hören. Tausende von Vögeln, wie die zwitschern und singen. Eigentlich gibt's gar keine Worte dafür. Da müsste man nur zuhören den Vögeln!"

    Im Südwesten des Franz-Josef-Landes, vor der Hooker-Insel. Jürg Krompholz, ein 71-jähriger Schweizer, steht an der Reling und staunt über ein Spektakel: Aus dem Eismeer ragt ein gigantischer schwarzer Felsen - ein Basalt-Monolith, auf dem sich Zehntausende arktische Möwen tummeln. Krompholz - auf dem Kopf eine Bommelmütze, in der Hand eine Kamera - wundert sich: Die Tiere leben ja dicht an dicht auf dem nackten, kalten Stein. Krompholz:

    "Ja, es ist einfach unglaublich, wie das für sie möglich ist, in diesen steilen Felsen auch noch zu brüten und auch zu kämpfen."

    Unser Eisbrecher ist ein Arbeitsschiff, angetrieben von sechs Dieselgeneratoren und drei tonnenschweren Schrauben. Mit seinem verstärkten Rumpf kann das Schiff bis zu eineinhalb Meter dicke Eisdecken durchpflügen. Die gefrorene Fläche wird allerdings nicht aufgeschlitzt, wie man glauben könnte. Jerpolow:

    "Das Prinzip besteht darin, dass das Eis durch das Gewicht des Schiffes zerdrückt wird. Das Schiff fährt auf das Eis rauf und zerbricht es. Wir haben einen speziellen Bug dafür. Er ist so konstruiert, dass wir auf das Eis rauf gleiten und es dann von oben zerdrücken."

    Kapitän Alexander Jerpolow schippert seit fast 30 Jahren durch eisige Weiten. Der 51-Jährige ist in den Wintermonaten mit der Dranitsyn im Baltikum, im Weißen Meer und im Finnischen Meerbusen unterwegs - um die Routen von Handelsschiffen eisfrei zu halten. Dabei bilden häufig mehrere russische Frachter eine Kolonne. Jerpolow:

    "Wir führen die anderen Schiffe an. Sie fahren dicht hinter uns, durch unseren Eiskanal. Wenn sie das nicht schaffen, dann schleppen wir sie ab. Dazu wird der Bug des anderen Schiffes direkt an unserem Heck befestigt, also fest vertäut."

    Im Sommer hat der Eisbrecher "Urlaub"; er wird dann gern für exotische Expeditionsreisen gechartert. Für Reisen in eine unberührte Welt aus dunkler See, blauweißen Eisbergen, tief hängenden Wolken und haushohen Gletschern: das Reich des Eisbären. Tatsächlich entdecken wir mehrere stolze Raubtiere. Wir können sogar eine äußerst seltene, aufregende Szene beobachten. Viele Passagiere sind aufgeregt - wie der Deutsche Klaus Lippold und der Schweizer Urs Fölmli.

    "Der Eisbär war auf einer Eisscholle, hatte eine Robbe gefangen und war voll am Fressen. Man hat wunderbar gesehen, wie er mit seiner Schnauze Stücke vom Fleisch losgerissen hat, nebenan waren noch ein paar Eismöwen, Schmarotzermöwen, Raubmöwen. Alles wunderbar zusammengepasst. Wird immer in meiner Erinnerung bleiben!"

    Klaus Lippold:
    "Aber dann auch so zu sehen, wie er einen dann mit leicht blutiger Schnauze anblickte, ja. Weißes Fell, Punktaugen und blutige Schnauze - also das habe ich in der Form nie erlebt. Und das war einzigartig."

    Urs Fölmli:
    "Ja, das ist eben die Natur! Fressen und gefressen werden. Das ist die Nahrungskette der Natur."

    Am sichersten ist es, die "Herrscher des Nordens" vom Schiff aus beobachten. Gefährlicher sind Raubtier-Begegnungen an Land. Wir besuchen die arktischen Inseln mit Schlauchbooten sowie mit zwei Helikoptern, die sich an Bord befinden. Franz Gingele, Wissenschaftler und Guide, erklärt die Regeln für einen Kontakt mit hungrigen Eisbären.

    Franz Gingele:
    "Der Bär hat Vorfahrt an Land, das ist ganz eindeutig. Wir wollen auch keinen erschießen natürlich. Die haben es schwer genug. Das ist nur ein allerletztes Mittel, um sich dann im Notfall zu verteidigen, wenn man wirklich mal überrascht wird. Aber soweit darf es eigentlich nicht kommen. Sonst haben wir irgendwas falsch gemacht."

    Beim Landgang betreten zuerst zwei Scouts das Ufer - zwei russische Polar-Jäger. Erst wenn die Luft rein, also kein Bär zu sehen ist, dürfen die Touristen folgen. Die Jäger sichern das Gelände - bewaffnet mit Feldstecher und Flinte. So wie Juri aus Murmansk. Juri muss eingreifen, wenn ein Bär plötzlich aufkreuzt und uns den Rückweg zu den Schlauchbooten abschneidet.

    Juri:
    "Also im vorletzten Jahr ist das zwei Mal passiert. Der Bär kam bis auf fünf, sechs Meter an uns ran. Wir, zu dritt, haben kaum den Einen zurückgeschlagen. Da kam am Ufer schon ein zweiter Bär angetanzt. Den haben wir aber schnell wieder umdrehen lassen. Beim ersten Mal haben wir so zehn Mal in die Luft schießen müssen. Beim zweiten Mal aber bloß zwei Mal."

    Wir haben Glück. Bei unserer Reise wird keine Patrone verbraucht. Bei Temperaturen kurz über null stolpern wir über Eisbrocken, schlittern über Schneefelder und stampfen entlang steiniger Ufer. Wir bestaunen gelbe und pinkfarbene Arktis-Blümchen. Und wir besichtigen verfallene russische Polarstationen. Nach jeweils zwei, drei Stunden Landgang geht's zurück zum Eisbrecher.

    Das russische Schiff ist eine schwimmende Festung. Die Bordwand ist bis zu drei Zentimeter dick. Eine zweite Stahlhaut schützt vor plötzlichem Wassereinbruch. Unter Deck: meterhohe Generatoren und ein Labyrinth aus Rohren. Sie dienen dazu, das Schiff eisfrei zu halten - unter anderem mit Hilfe von Druckluft. Mechaniker Sergej Fedolak, ein großer Mann in grauem Arbeitsanzug, erläutert uns: Ist das Schiff im Eiswasser, wird Luft nach außen gepresst.

    Sergej Fedolak:
    "Die Luftblasen strömen entlang der Bordwand hoch und verhindern, dass Schnee und Eisstücke am Schiff kleben bleiben. So gibt es weniger Widerstand im Wasser und das Schiff fährt schneller."

    Sollte das Schiff doch einmal fest frieren, startet ein sogenanntes Differenzsystem. Es pumpt zwischen der Steuerbord- und Backbordseite Wassermassen hin- und her. Der Koloss kommt auf diese Weise ins Schaukeln - und bricht das Eis an der Bordwand auf.

    Sergej Fedolak:
    "Wir haben noch ein zweites Differenzsystem. Es hebt und senkt Bug und Heck. Das System kann 800 Tonnen Wasser zwischen den beiden Schiffsenden hin- und herpumpen. Und zwar innerhalb von 15 Minuten! Das Schiff "kriecht" zuerst auf eine Eisscholle rauf, kann sie aber nicht durchbrechen. Dann werden auf Kommando die Tanks vorn oder hinten schlagartig gefüllt und das Eis unter uns bricht auf."

    Auf unserer Arktis-Tour müssen wir uns nicht aus dem Eis befreien. Wir sehen eher zu wenig davon; viele Passagiere vermissen richtig dickes Pack- und Treibeis, das wir "knacken" könnten. Die Reiseleiter klagen, dass in den vergangenen Jahren immer weniger polares Eis zu sehen war in den Sommermonaten - vermutlich wegen des Klimawandels. Der Frankfurter Touristikunternehmer Nicolas Kitzki, der den Eisbrecher gechartert hat, ist hin- und hergerissen: Im Winter, wenn das Franz-Josef-Land vom Eis umschlossen ist, können keine Reisen starten - wegen der arktischen Kälte und der ständigen Dunkelheit. Im Sommer hingegen taut die See neuerdings viel zu schnell auf. Sollen die nächsten Touren also bereits im Frühjahr beginnen?

    Nicolas Kitzki:
    "Natürlich haben wir früher im Jahr eher die Garantie, wirklich festes Eis anzutreffen. Allerdings ist das dann auch die Zeit des großen Nebels, weil die Luft sich dann schon stark erwärmt und das Eis unheimlich viel Wasser sozusagen in die Luft abgibt. Das wir dann tatsächlich in der ganz misslichen Situation sein können, dass wir mit dem Schiff im Nebel im Eis sitzen. Das ist reines Glück letztendlich."

    Der Unternehmer ist ratlos, wie er auf die Klimaerwärmung reagieren soll. Wird das wilde Franz-Josef-Land künftig nur noch ohne Eisschollen - und mit entsprechend weniger Eisbären - zu besichtigen sein?

    Nicolas Kitzki:
    "Das müssen wir einfach abwarten und beobachten."

    Die Polar-Experten an Bord resümieren: Vielleicht wird man - wegen des Eisrückgangs - bald schon auf normalen Kreuzfahrtschiffen ins Nordpolarmeer fahren. Unser Touristen-Abenteuer auf einem echten russischen Eisbrecher könnte eins der Letzten gewesen sein.