Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Endlich anwendungsreif

Genauso wie das Internet der Dinge gehört auch das Semantic Web zu den großen Zukunftsideen der Informationstechnologie. Allerdings haftet an den semantischen Technologien noch immer der Nimbus der "Ankündigungstechnologie", die sich mit der Umsetzung etwas schwer tun.

Peter Welchering im Gespräch mit Manfred Kloiber | 01.11.2008
    Manfred Kloiber: In Karlsruhe haben diese Woche 650 Wissenschaftler an der siebten, internationalen Semantic Web Conference teilgenommen. Sind sie konkreter geworden und hatten sie marktreife Projekte im Tagungsgepäck, Peter Welchering?

    Peter Welchering: Ja, und sie haben die konkreten Projekte sogar ausgepackt und gezeigt. Es gab in Karlsruhe zwei Kongressbereiche, neudeutsch Tracks genannt, mit Vorträgen zur Anwendung semantischer Technologien. Das war zum einen der sogenannte In-Use-Track und der Industry-Track. Da kann man also durchaus sagen, dass Karlsruhe hier einen Meilenstein bei den semantischen Technologien darstellt. Und das in doppelter Hinsicht. Zum einen ist sehr deutlich geworden, dass sich die semantischen Technologien vom Suchmaschinen-Ansatz emanzipiert und wegentwickelt haben. Und zum anderen wurden endlich marktreife oder zumindest kurz vor der Marktreife stehende Projekte vorgestellt. Das war übrigens nicht ganz unumstritten. Einige Kongressteilnehmer kritisierten, dass die Diskussion über Prinzipien für die Ontologiebildung unter zu viel Praxis auch leiden könnte. Andere haben tatsächlich über den In-Use-Track die Nase gerümpft. So bewertete eine Kongressbesucherin den In-Use-Track als Bereich für die Entwickler, die nur spielen wollen.

    Kloiber: In welchen Bereichen gibt es denn schon marktreife Projekte?

    Welchering: Das zieht sich von der Steuerung von Haustechnik über Umweltschutzanwendungen bis hin zur Auswertung von Satellitenbildern. Ausgesprochen praktisch ging es etwa bei Dario Bonino zu. Der Semantiker von der Universität Turin hat eine semantische Technologie zur Steuerung von Haustechnik entwickelt. Der Hausbewohner sagt dem System einfach, welche Temperatur er wünscht und welche Lichtverhältnisse er bevorzugt. Teilt der Anwender dem System zum Beispiel mit, dass er um 19:00 Uhr ein entspannendes Bad nehmen möchte, entnimmt das System seinem Anwender- oder Bewohnerprofil die Informationen: die Wassertemperatur soll 36 Grad Celsius betragen und zur Entspannung die Brandenburgischen Konzerte gespielt werden. Die Kombination von Anwender-Profildatenbank, Spracherkennung und allgemeiner Beschreibungssprache zur Steuerung der verschiedenen haustechnischen Systeme sorgt dafür, dass von den konkreten Technologien abstrahiert werden kann. Die spezifischen technischen Protokolle können sozusagen in eine höhere Sprache übersetzt werden. Dann kann jedes Element oder Objekt in der Haustechnik allgemein beschrieben werden. So kann eine allgemein gehaltene Anweisung für die individuelle Hausanlage übersetzt werden.

    Kloiber: Wird die Haussteuerungssemantik denn schon eingesetzt?

    Welchering: Bisher passiert das in Pilotprojekten. Allerdings laufen gerade auch konkrete Verhandlungen mit größeren Bauträgern, die das vor allen Dingen im Bereich der Seniorenwohnungen einsetzen wollen. Ältere Menschen können somit länger in ihrer eigenen Wohnung leben, weil haustechnische Systeme dank semantischer Technologien viele Assistenz- und Überwachungsfunktionen wahrnehmen können. Die Kontrolle über die Medikamenteneinnahme gehört ebenso dazu wie ganz konkrete Unterstützung bei der täglichen Hygiene. Auch behinderte Menschen profitieren davon. Wenn die sich zum Beispiel nur noch eingeschränkt bewegen können, haben sie dennoch ihre gesamte Wohnung unter Kontrolle, indem sie sich mit dem semantischen System verständigen oder vielleicht sogar die Haustechnik mit den Augenbewegungen steuern. Die Interpretationen der Augenbewegungen folgt nämlich ähnlichen Regeln wie das Verstehen und Umsetzen der von Menschen gesprochenen Anweisungen. Das semantische System erkennt anhand der Augenbewegungen, dass der Bewohner das Licht einschalten möchte. Nächstes Ziel der Semantiker aus Turin ist die Steuerung eines Rollstuhls mittels semantischer Technologien.

    Kloiber: Dafür muss ja ein Modell der Wohnung und ein Modell für das Rollstuhlfahren entwickelt werden. Wie viele private Daten enthalten diese Ontologien?

    Welchering: Sie greifen auf sehr viele private Daten zurück, die in einem Repository gespeichert sein. Ohne solch ein Repository können die semantischen Technologien gar nicht verstehen, was der Mensch gerade will. Das persönliche Profil, medizinische Daten, Gewohnheiten, alles das wird von einer semantischen Technologie in einem solchen Anwendungsfall benötigt. Das Wissen in solchen Modellen ist etwas sehr Privates und muss vor Missbrauch geschützt werden. Die spannende Frage dabei ist: Wer hat Kontrolle darüber, welche Daten über den Benutzer zur Verfügung stehen. Genau diese Frage aber ist noch nicht eindeutig beantwortet. Der Schutz der Privatheit von Daten ist sozusagen die Achillesferse der semantischen Systeme. Werden hier keine umfassenden Schutzsysteme entwickelt, droht der Einsatz semantischer Systeme in vielen Bereichen zu scheitern.