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Erotisches und Exotisches

Die Welt der Indianer in Brasilien steht im Mittelpunkt zweier sehr unterschiedlicher Bücher von Betty Mindlin und Bernardo Carvalho. Die nordamerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin und Anthropologin Mindlin hat in der Anthologie "Der gegrillte Mann" erotische Erzählungen zusammengefasst. Für seinen Roman "Neun Nächte" recherchierte der Journalist Carvakho bei den Kraho-Indianern.

Von Margrit Klingler-Clavijo. | 04.09.2006
    Die Ureinwohner Brasiliens, die Indianer, werden allen Katastrophenmeldungen zum Trotz zunehmend politisch und literarisch sichtbar- ja, sie schreiben sogar wie der am Rande von Sao Paulo lebende Daniel Munduruku ihre eigenen Erzählungen. Auf Deutsch liegen nun zwei Werke vor, in denen es auf ganz unterschiedliche, geradezu komplementäre Weise um die brasilianischen Indianer geht: "Der gegrillte Mann", eine Anthologie mit erotischen Erzählungen verschiedener Indianervölker, die Betty Mindlin zusammengetragen hat, sowie der Roman "Neun Nächte" des 1960 in Rio geborenen Schriftstellers Bernardo Carvalho. Darin versucht ein brasilianischer Journalist im Jahr 2001 herauszufinden, warum der nordamerikanische Anthropologe Bell Quain 1939 bei den Kraho-Indianern Selbstmord beging.

    In den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts war Brasilien der Tummelplatz für nordamerikanische und europäische Anthropologen vom Schlag eines Claude Levi-Strauss oder Alfred Metraux. Zählt die nordamerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin und Anthropologin Betty Mindlin, die sich seit Ende der 70er Jahre intensiv mit den Indianern beschäftigt und auf vielen Ebenen tatkräftig für deren Belange einsetzt, etwa auch zu jener Sorte Anthropologen, die, wie Bernardo Carvalho konstatiert, "im Widerstreit zu der Welt lebten, der sie angehörten" und die deshalb in die Südsee oder nach Brasilien gingen? Betty Mindlin räumt ein, dass solche Beweggründe womöglich ganz am Anfang, als sie zu ihren ersten Feldforschungsarbeiten aufgebrochen ist, mitgeschwungen haben.

    "Ich wollte vor allen Dingen wissen, was Brasiliens Wurzeln sind. Ich wollte mit eigenen Augen sehen, wer wir sind, die Welt außerhalb der Städte erkunden. Da ich außerdem Wirtschaftswissenschaftlerin bin, habe ich mich immer dafür interessiert, wo dieser Traum von einer gleichberechtigteren Gesellschaft ohne Herrschaft und Besitz, kurzum eine andere Art zu leben, verwirklicht werden könnte. Meines Erachtens habe ich das irgendwie bei den Indianern gefunden, trotz immenser Widersprüche und dramatischer Veränderungen."

    Betty Mindlin lebte 1978 als eine der ersten Weißen monatelang bei den Sururi in Rondonia. Dieses Indianervolk hatte bis dahin völlig abgeschirmt von der Zivilisation der Weißen existiert.

    "Das war die tollste Zeit meines Lebens. Ich habe mich regelrecht begeistert, war vollauf dabei und versuchte zu verstehen, wie sie lebten, wie ihre Wirtschaft funktionierte, ihre verwandtschaftlichen Beziehungen, ihre Geistheiler, die pajes. Ich bin oft zu ihnen zurückgekehrt, habe die Sprache ganz gut erlernt und viel mit diesem Volk gemacht: Ich habe darüber meine Doktorarbeit geschrieben, anschließend ein Buch über ihre Mythen herausgegeben, wobei sie die Autoren sind und ich nur vermittle, was sie erzählen. Die Erfahrungen bei den Sururi waren die Voraussetzung, um mit den Indianervölkern zusammenzuarbeiten, deren Erzählungen ich in 'Der gegrillte Mann' zusammengetragen habe."

    Seit Anfang der 80er Jahre hat Betty Mindlin all die herrlichen, bislang nur mündlich von Generation zu Generation tradierten Erzählungen von sechs verschiedenen Indianervölkern - den Macurap, Tupari, Ajuru, Jabuti, Arikapu und den Arua - gesammelt, nachdem diese ihr bereitwillig ihre Geschichten anvertraut hatten. Für ein breit angelegtes Inventarisierungsprojekt hat Betty Mindlin die Erzählungen, Legenden und Mythen zuerst mit dem Tonband aufgenommen, danach aufgeschrieben und von einem kompetenten Übersetzerteam ins Portugiesische übertragen lassen. All dies aus ganz pragmatischen Gründen: Zum einen, weil die Sprachen mancher Indianervölker vom Aussterben bedroht sind, zum anderen, um die Erzählungen als zweisprachiges Unterrichtsmaterial in Ausbildungsprojekten zu nutzen und den Reichtum der indigenen Kulturen zu demonstrieren.

    Doch ehe wir zu den Erzählungen kommen, noch ein Blick auf die politischen und ökologischen Konflikte der Indianer und äußerst umstrittene Erschließungsprojekte, wie beispielsweise die Asphaltierung der Straße Cuiaba-Porto Velho, die zu einer breiten, internationalen Mobilisierung der Indianer geführt hat.

    "Diese Projekte, die gemeinhin als beispielhaft für die wirtschaftliche Entwicklung gelten, waren extrem schädlich für die Umwelt und sind es nach wie vor. Ich habe diesen Prozess miterlebt, weil ich auf der indianischen Seite die Einschätzung dieses Projektes koordiniert habe. Ich habe außerdem gesehen, wie 680 Indianervölker im Mato Grosso und in Rondonia leben und habe mich mit ihnen für eine Kennzeichnung ihrer Ländereien und die Verwirklichung von so grundlegenden Wünschen wie Schulbildung und medizinische Versorgung eingesetzt. Ich habe hautnah mitbekommen, was die Abholzung mit sich brachte, damit diese Straße gebaut werden konnte. Ich bin gegenüber derartigen Projekten sehr kritisch und halte sie für eine Fortsetzung dessen, was seit dem 16. Jahrhundert in Brasilien mit den Indianern geschieht. Wir könnten dorthin doch auch das Positive unserer Zivilisation bringen wie beispielsweise die Kunst, den Zugang zur Welt, zur Kreativität, zur Vielfalt? Aber nein, wir bringen alles völlig durcheinander; in dieser Gegend wurden die Indianer ganz brutal mit den Weißen konfrontiert, der Marktwirtschaft, der Stadt, ohne genügend Zeit zu haben, um zu verstehen, was da gerade passiert.

    Dieser Prozess wird in anderen Gegenden Brasiliens fortgesetzt. Neulich war ich im Xingu, dem größten Nationalpark Brasiliens. Dort bewahren 15 Völker ihre kulturellen Eigenheiten, und man bekommt mit, dass der Urwald der Lebensmittelpunkt der Indianer ist. Doch ringsherum wird Soja angebaut. Er ist zum Verzweifeln, dass wir nicht in der Lage sind, den indianischen Völkern und uns selbst etwas anderes anzubieten. Doch was mit dem ganzen Reichtum anstellen? Das ist nach wie vor ein großes Problem.

    Nehmen wir das Holz. Auf dem internationalen Markt werden für einen Quadratmeter bis zu 1000 Dollar gezahlt. Davon gehen noch nicht mal 20 Dollar an die Indianer, wenn überhaupt, ganz zu schweigen von den Edelsteinen. Bei einem dieser Indianervölker wurden die besten Diamanten der Welt gefunden. Mit diesen enormen Bodenschätzen ließen sich die Probleme aller brasilianischen Indianer lösen. Ein explosiver Reichtum, da sie ständig von Invasionen bedroht sind und die Kontrolle über ihren Besitz verlieren, was eins der vielen indigenen Dramen ist."

    Die in der Anthologie "Der gegrillte Mann" von Betty Mindlin zusammengetragenen Erzählungen und Mythen stammen noch aus der Zeit, als es kaum Kontakt zwischen Indianern und Weißen gab und ebenso wenig die maßlose Gier nach indianischen Reichtümern wie Land, Edelmetallen und Edelsteinen, Holz, Heilpflanzen und etlichen anderen Dingen. Da die Erzählungen nach einem so universellen und zeitlosen Thema wie Liebe und Erotik ausgewählt wurden, fällt der Einstieg nicht schwer. Die Erzählungen sind humorvoll und witzig, mal belehrend wie Fabeln, stets voll tiefgründiger Lebensweisheit und hin und wieder recht schaurig, wenn man sich buchstäblich "zum Fressen gern hat". Lieben Indianer anders als moderne Großstadtmenschen? Diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten. Fest steht, dass das Leben in der Gemeinschaft einen hohen Stellenwert hat und jedes Indianervolk über ein komplexes Beziehungsgeflecht aus Freund- und Verwandtschaftsverhältnissen verfügt. Erzählt wird freimütig und ungeniert, was allerdings noch lang nicht heißt, dass es südlich des Äquators einen tropischen Garten der Lüste gäbe. Auch dort gibt es allen Entdecker –und Erobererfantasien zum Trotz sexuelle Tabus und die Bestrafung von Tabuverletzungen, und das gilt vor allem für Frauen.

    Ansonsten geht es auch bei den Indianern um die klassischen Liebesdramen wie Eifersucht und Rache, erbitterte Rivalität, Konkurrenz zwischen Müttern und Töchtern und Amazonen, die, wie Betty Mindlin erzählt, sich aus der Männerwelt zurückzogen haben und lieber allein leben:

    "Als ich diese Geschichten zum ersten Mal hörte, war ich beeindruckt von der brutalen Konfrontation zwischen Männern und Frauen, dabei wollen sie alle heiraten und lieben, und Singles sind bei ihnen rar. Doch urplötzlich ist da dieser archaische Hass zwischen Männern und Frauen. Ich habe bei den sechs verschiedenen Indianervölkern Geschichten vernommen, die ich Geschichten von Amazonen nennen würde, das heißt, Geschichten über Frauen, die so enttäuscht von den Männern sind, dass sie lieber allein in ihrem eigenen Bereich leben.

    Auch bei den Sururi gibt es einen Mythos über Frauen, die lieber ohne Mann leben. Da hatten die Frauen einen Ameisenbär als Geliebten, und als die Ehemänner gewahr wurden, dass sie sich diesem Tier hingaben, schnitten sie dem großen Liebhaber kurzerhand den Penis ab. In einer Erzählung der Anthologie beschließen die Frauen, ohne Männer zu leben, nachdem sie entdeckt haben, dass die Männer den Kuchen, den sie für sie gebacken haben, mit dem eigenen Kot verzehren. Das missfällt den Frauen derart, dass sie lieber zu Geistheilern, zu pajes werden, ihren Körper mit Asche bestreichen, zu singen und zu fasten anfangen, auf das Dach des Hauses steigen und für immer verschwinden."

    Doch was hat der eigenartige Titel der Anthologie "Der gegrillte Mann" zu besagen? Handelt es sich hier gar um kannibalische Praktiken? Die gleichnamige Erzählung fängt denkbar harmlos an: Ein paar Mütter schicken ihre Töchter zum See zum Frösche fangen. Dort begegnen sie einer alten Frau, die zuerst die Mädchen und später auch die Mütter zum Singen und Tanzen animiert. Alle singen und tanzen stundenlang zusammen, bis die alte Frau Hunger verspürt und sie die Frauen auffordert, ihre Männer zu töten und zu verspeisen. Eine Frau nach der Anderen befolgt die Anweisung der Alten; in der Erzählung klingt das dann so:

    ""In der Nacht tötete eine der Frauen ihren Mann im Schlaf, packte ihn in ihren Korb und bedeckte ihn mit Stroh. In aller Frühe stand sie auf und sagte, sie gehe mit den anderen Frauen aufs Feld. Gemeinsam trugen sie den Korb zum See, kochten den Mann im Tontopf und aßen ihn zusammen mit der Alten. So ging es jede Nacht. Jedes Mal verschwand ein anderer Mann und die Frauen verbrachten den Tag am See, wo sie mit der Alten sangen und das Fleisch ihrer Männer aßen.""

    Betty Mindlin zufolge hat jede Erzählung auch noch ihre eigene Melodie.

    "Nehmen wir nur mal diese schreckliche Szene, in der die Frauen die Männer verzehren wollen. Da kamen die Frauen zusammen und sangen für uns die Melodie zu 'Der gegrillte Mann'. Bei den Macurapes heißt es nämlich, solange wir die singen können - es singen nur die Frauen - werden wir ein Volk sein. Sterben werden wir nur, wenn wir diese Melodie vergessen. Sie erzählen die Geschichte, singen mittendrin und das ist bei allen Mythen so.

    Jede Volksgruppe hat ihre eigene Musik. Die Musik der Nambiquara - diese indianische Volksgruppe hat Levi- Strauss erforscht - sucht ihresgleichen. Sie wird die ganze Nacht über gesungen, dabei fällt man in eine Art Trance, und bei Tagesanbruch hat man das Gefühl, auf einer anderen Ebene zu sein."

    Im Gegensatz zu Betty Mindlin, die sich seit nunmehr knapp 30 Jahren mit den indigenen Kulturen Brasiliens beschäftigt, kennt der Romancier Bernardo Carvalho diese in erster Linie aus der anthropologischen Literatur. Außerdem hat er als Junge mit seinem Vater in einem klapprigen Kleinflugzeug den Xingu bereist. Der Vater war damals in dieser dünn besiedelten und kaum erschlossenen Gegend unterwegs, um riesige Ländereien zu einem Spottpreis zu erwerben. Während seiner Recherchen über den nordamerikanischen Anthropologen Buell Quain - die Hauptfigur seines Romans "Neun Nächte" - hat Bernardo Carvalho sich für ein paar Wochen bei den im Maranhao lebenden Kraho-Indianern aufgehalten. Im Roman hat er dann nüchtern , distanziert und irritiert diesen Aufenthalt aus der Sicht des urbanen Weißen beschrieben, der Probleme mit dem Essen hat, das Leben in Gemeinschaft nicht gewohnt ist und schon gar nicht in einer, deren Verhaltenskodex er nicht kennt.

    Verschwiegen hat er allerdings nicht, dass er die in ihn gesetzten Erwartungen eines Kulturvermittlers und Fürsprechers nicht erfüllen kann, was er folgendermaßen beschreibt:

    ""Sie sind Waisen der Zivilisation. Allein und hilflos. Sie brauchen Verbündete in der Welt der Weißen, einer Welt, die zu verstehen sie sich große Mühe geben, doch im allgemeinen vergeblich. Das Problem ist, dass diese Beziehung der gegenseitigen Adoption von Anfang an unausgeglichen ist, weil die Kraho weit häufiger zu den Weißen kommen als die Weißen zu den Kraho. Weil die Welt die Welt der Weißen ist. Sie sind von einer heillosen Bedürftigkeit. Sie wollen nicht vergessen werden.""

    Bernardo Carvalho räumt ein, dass es sich nicht primär als Fürsprecher der Indigenen Kulturen versteht:

    "Ich halte zwar die Verteidigung der indigenen Kulturen für wichtig, ebenso die Wahrung der Unterschiede und der Vielfalt, nur in meinem Roman geht es nicht in erster Linie darum. Mich interessiert vor allem die absolute Einsamkeit, die nicht vorhandene Kommunikation, das hat mich am meisten berührt."

    Das Handlungsgerüst des Romans ist schnell wiedergegeben: Per Zufall liest 2001 ein brasilianischer Journalist in einer Zeitungsnotiz, dass der nordamerikanische Anthropologe Buell Quain während eines Forschungsaufenthaltes bei den Kraho-Indianern. am 2. August 1939 Selbstmord begangen hatte Seitdem versucht der Journalist anhand von Briefen und Gesprächen mit den wenigen noch lebenden Nachfahren Buell Quains möglichst viel über den talentierten Anthropologen in Erfahrung zu bringen, der aus einer wohlhabenden Ärztefamilie aus dem nordamerikanischen Middle West stammt. Unterbrochen und ergänzt wird die detaillierte Schilderung seiner Recherchen durch einen zweiten Erzählstrang, in dem Bernardo Carvalho versucht, anhand von Briefauszügen des Frisörs und Dorfschreibers Manoel Perna und fiktiven Spekulationen die letzten neun Nächte von Buell Quain zu rekonstruieren.

    Diese beiden Erzählstränge sind kunstvoll miteinander verwoben und bilden ein feines Netzwerk aus Vermutungen, Spekulationen, Zweifeln. Da werden im spielerischen Hin und Her zwischen Exotik und Entfremdung zwischen tropischem Paradies und grüner Hölle kulturelle und soziale Unterschiede ausgelotet und zueinander in Beziehung gesetzt. Diesbezüglich heißt es im Roman:

    "Doch wenn Quain, der aus dem Mittleren Westen in die Zivilisation aufbrach, Exotik sehr schnell mit einer Art Paradies assoziierte, mit Anderssein und der Möglichkeit, dem eigenen Umfeld und den ihm durch seine Geburt auferlegten Grenzen zu entfliehen, so bescherten mir die Reisen mit meinem Vater in erster Linie eine visuelle Vorstellung und ein Bewusstsein von Exotik als Teil der Hölle. Ich musste immer mit ihm in die Bundesstaaten Mato Grosso und Goias reisen, weil ich dem Gesetz nach die Ferien bei ihm zu verbringen hatte (meine Eltern waren getrennt und hatten sich juristisch über meinen Unterhalt und das Sorgerecht für mich geeinigt) und er in der Zeit die Fazendas besuchen musste."

    Trotz aller Recherchen kann der Journalist über die Gründe, die Buell Quain mit 27 Jahren in den Selbstmord trieben, nur spekulieren: War er schwul, hatte er sich im Karneval von Rio mit einer Geschlechtskrankheit infiziert oder hatte er die Scheidung seiner Eltern nicht verkraftet? Im Nachhinein ist das nicht einwandfrei zu ermitteln. Bei näherem Hinsehen fällt jedoch auf, dass der Journalist, in dem Maß wie er seine eigenen Kindheitserinnerungen Raum gibt, Buell Quain zum Spiegel seiner Konflikte mit dem Vater macht und gewahr wird, dass sie beide unter den emotionalen Verkrüppelungen der Väter leiden.

    "Tief beeindruckt hat mich am Bericht des Anthropologen Buell Quain das Verhältnis zu seinem Vater, das war immer präsent. Es gab heftige Auseinandersetzungen mit dem Vater; Quains Verhältnis zu den Indianern war paternalistisch, obwohl er sich über den Paternalismus der Weißen im Umgang mit den Indianern ereiferte.

    In einem Roman kann man Fragen aufwerfen und ich wollte unbedingt wissen, wer dieser Vater ist, wer dieser Sohn. Die Indianer verfügen außerdem über ein komplexes Netz von symbolischen Beziehungen, das ich nie ganz verstanden habe. Man braucht nur einen Fuß in ein Dorf zu setzen und dann hast du schon eine Mutter, einen Vater, Geschwister, Menschen, mit denen du sexuelle Beziehungen haben kannst oder nicht, und du weißt nicht warum. Als ginge es um eine symbolische Schöpfung der menschlichen Beziehungen, ein symbolisches Geflecht zwischenmenschlicher Beziehungen. Das hat mich als Weißer, als Vertreter der westlichen Kultur immer fasziniert, zeigt es doch, das soziale Rollen konstruiert sind und verändert werden können. Sie sind folglich weder starr noch ewig. Und im Roman geht es im weitesten Sinn um den Vater, um symbolische Verwandtschaften."

    Gereizt hat Bernardo Carvalho außerdem das Spiel mit den Versatzstücken verschiedener Kulturen und Identitäten, das für ihn eins der Wesensmerkmale der zeitgenössischen brasilianischen Literatur ist.

    "Wichtig ist für mich die Vorstellung, dass man seine Identität konstruieren kann. Ich bin unter der Militärdiktatur groß geworden, habe den engstirnigen Nationalismus der Militärs kennen gelernt, die zwanghaft nach einer nationalen Identität suchten und verkündeten: 'Brasilien, lieb es oder verlass es'. Brasilien ist ein trauriges Land, 'traurige Tropen' hat es Claude Levi-Strauss einmal genannt, und das wirkt nach. Brasilien ist traurig, gewalttätig und widersprüchlich. Die soziale Ausgrenzung ist unvorstellbar."

    Bei aller Verschiedenheit der Standpunkte und Akzentsetzungen teilen Betty Mindlin und Bernardo Carvalho die Begeisterung für indianische Rituale und Gesänge. Verwunderlich ist es daher nicht, dass sich in Carvalhos Roman sogar der skeptische Journalist aus der Großstadt in einer Vollmondnacht bei den Kraho-Indianern davon beeindrucken lässt, was er dann so beschreibt:

    "Als ich gegen drei Uhr morgens den alten Sänger wieder hörte, stand ich auf, um ihm zuzuschauen. Und ich erlebte eines der großartigsten Schauspiele meines Lebens. Der alte Mann sang allein in der Mitte des schlafenden, reglosen Dorfes. (...) Im Abstand von mehreren Minuten kamen aus allen Hüten die Frauen zu dem alten Sänger, stellten sich in einer Reihe vor ihm auf und sangen mit ihm, von seinem Gesang angelockt. Er rief sie eine nach der anderen, bis sich unter seiner Führung und im Licht des Vollmondes ein ganzer Frauenchor gebildet hatte."