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"Es ist ganz richtig, dass andere sehen, dass Politiker nicht nur reden"

Wolfgang Thierse zeigt sich überrascht von Rücktrittsforderungen nach seiner Teilnahme an einer Sitzblockade gegen einen Naziaufmarsch. Es mache einen Unterschied, ob "man Demokratie verteidigt oder Demokratie angreift".

Wolfgang Thierse im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 04.05.2010
    Tobias Armbrüster: Zunächst aber geht es hier um Wolfgang Thierse, den Bundestagsvizepräsidenten. Er befindet sich zurzeit in einer Lage, die man als "Auge des Sturms" bezeichnen könnte. Am vergangenen Samstag hatte er in Berlin an einer Sitzblockade teilgenommen. Damit sollte eine Demonstration von Rechtsextremen verhindert werden. Für sein Verhalten wird Thierse nun von mehreren Seiten kritisiert. Der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, hat ihn sogar zum Rücktritt aufgefordert. Darüber wollen wir jetzt mit dem Vizepräsidenten des Bundestages persönlich sprechen. Schönen guten Tag, Herr Thierse.

    Wolfgang Thierse: Guten Tag, Herr Armbrüster.

    Armbrüster: Haben Sie diese Rücktrittsforderungen überrascht?

    Thierse: Ja!

    Armbrüster: Warum?

    Thierse: Weil ich mich ein bisschen darüber wundere, dass die deutsche Öffentlichkeit sich nicht mit dem Umstand befasst, dass ungefähr 1000 Neonazis durch den Prenzlauer Berg oder über den Kudamm demonstriert sind - das ist Anlass für wirkliche Empörung -, sondern sich beschäftigen mit einem Vorgang, der friedlich, freundlich war, nichts mit Gewalt, mit Aggressivität zu tun hatte, sondern eine zeichenhafte Handlung des Protests gegen die Neonazi-Demonstration gewesen ist.

    Armbrüster: Ist es denn nicht problematisch, wenn ein führender Repräsentant unseres Staates so offensichtlich das Recht bricht?

    Thierse: Hat ein Bundestagsabgeordneter nicht die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten wie andere auch? Ich kann doch nicht andere zur Courage auffordern, und wenn ich dran bin, mich dann in die Büsche schlagen. Vielleicht erinnern Sie sich: Es gab einen Aufruf, "Nazis blockieren". Ich betone blockieren. Den haben sehr viele unterschrieben, Parteivorstände, der Parteivorsitzende der SPD in Berlin, Michael Müller, der Vorsitzende des Abgeordnetenhauses, Walter Momper, der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske, die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth, die jüdische Gemeinde, viele andere, ich auch, und dann kann ich doch nicht nur auf andere zeigen, sondern ich war da und in dem Moment, wo ich da war, wollte ich auch zeigen, dass ich diese Demonstration ablehne.

    Armbrüster: Kristina Schröder, die Bundesfamilienministerin, kritisiert, dass Sie ein schlechtes Beispiel für die Jugendlichen abgeben. Welches Beispiel gibt denn ein Bundestagsvizepräsident, der vor laufenden Kameras von der Polizei zum Aufstehen aufgefordert werden muss?

    Thierse: Ich glaube, es ist ganz richtig, dass andere sehen, dass Politiker nicht nur reden und auf andere zeigen, sondern sich tatsächlich selber an ihre eigenen Reden halten. Ich glaube nicht, dass das ein schlechtes Beispiel ist, denn zur Demokratie gehört auch Courage, gehört auch ziviler Einsatz, gehört auch öffentliches Widersprechen. All das gehört dazu.

    Armbrüster: Aber ein Jugendlicher kann nun sagen, gut, ich sehe, dass Herr Thierse der Polizei widerspricht, also kann ich es vielleicht auch mal machen, wenn ich bei Rot über die Ampel gehe, oder vielleicht etwas Schlimmeres tue.

    Thierse: Wir wollen nicht gleich an der falschen Stelle verallgemeinern. Hier ging es tatsächlich nicht um eine Protestaktion gegen die Polizei, sondern eine Protestaktion gegen Feinde der Demokratie. Das ist doch wohl ein qualitativer Unterschied zu einem anderen Regelverstoß.

    Armbrüster: Heißt das, dass die Leute, die Sie jetzt kritisieren, sich zu Handlangern der Rechtsextremen machen lassen?

    Thierse: Ich begebe mich nicht auf das Niveau derer, die mich ein bisschen kritisieren und mir schäbige Motive unterstellen. Darum geht es nicht. Ich habe ganz viele Mails und wer weiß was alles bekommen, die mir sagen, endlich redet ein Politiker nicht nur, sondern er hält sich an seine eigenen Maßstäbe. Das ist doch vielleicht auch nicht falsch in einer Demokratie.

    Armbrüster: Welche Maßstäbe sind das denn?

    Thierse: Die Maßstäbe, dass man nicht nur andere auffordert zur Courage, sondern selber auch sich zeigt, sein Gesicht zeigt. Im Übrigen will ich noch einmal darauf hinweisen: Wir sind mit Zustimmung des Einsatzleiters vor den Demozug der Neonazis mit Plakaten gegangen, "Berlin gegen Nazis", und urplötzlich hat der Einsatzleiter uns dann aufgefordert, die Straße zu verlassen. Nachdem vorher etwas anderes vereinbart war, sollten wir dann einfach nur beiseite gehen. Nein, dann haben wir noch mal gezeigt, wir meinen das ernst, "Berlin gegen die Nazis".

    Armbrüster: Würden Sie eine ähnliche Freiheit einem Rechtsextremen zugestehen, der eine Demonstration von Ihnen beispielsweise behindern will?

    Thierse: Finden Sie nicht, dass es immer noch auch darum angeht, ob man Demokratie verteidigt, oder Demokratie angreift?

    Armbrüster: Ich frage jetzt deshalb, weil wir hier über die Maßstäbe reden, die wir ansetzen wollen bei der Beurteilung von Ordnungswidrigkeiten in solchen Fällen.

    Thierse: Ja, aber da geht es auch immer darum, wofür man ist, ob man Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verteidigt, oder ob man gegen sie kämpft. Das ist, glaube ich, schon ein qualitativer Unterschied.

    Armbrüster: Herr Thierse, sind Sie denn der Polizeianweisung sofort gefolgt?

    Thierse: Ich bin in dem Moment, wo ich dann aufgefordert wurde - nach ersten Aufforderungen, wo sie zu mir kamen, habe ich mich ohne körperlichen Widerstand hochheben lassen und bin gegangen. Ich bin ja noch nicht mal formell des Platzes verwiesen worden, sondern nur ein paar Meter weggeführt worden. Das Ganze fand in heiterer und freundlicher Stimmung statt, weil wir ja vorher miteinander geredet hatten, die Polizisten und der Kollege Wieland und der Bezirksbürgermeister von Pankow.

    Armbrüster: Eine Demonstration, eine Sitzblockade mit Folgen. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse war das im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Ich danke Ihnen vielmals, Herr Thierse, und wünsche noch einen schönen Tag.

    Thierse: Auf Wiederhören, Herr Armbrüster.