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Estland vor dem Ratsvorsitz
Kleines Land, große Aufgabe

Noch gut zwei Jahre sind es bis zum Brexit, aber der Rückzug der Briten aus der EU hat längst begonnen. Weil London auf die EU-Ratspräsidentschaft ab dem 1. Juli verzichtet, springt das kleine Estland ein. Es wird ein Sprung ins eiskalte Wasser für das Land, das der Europäischen Union für vieles dankbar ist.

Von Carsten Schmiester | 26.05.2017
    Luftaufnahme von der estnischen Hauptstadt Tallinn.
    Die estnische Hauptstadt Tallinn: Während der Ratspräsidentschaft will man für den Zusammenhalt in der EU kämpfen. (picture alliance / dpa / Mika Schmidt)
    Ganz kleines Land, ganz große Aufgabe, und dann noch unter besonders schwierigen, weil "Brexit"-Bedingungen. Estlands erste EU-Ratspräsidentschaft wurde um ein halbes Jahr vorgezogen, nachdem die Briten erklärt hatten, sie würden diese Aufgabe angesichts der anstehenden eigenen Austrittsverhandlungen nicht mehr übernehmen. Für die Regierung in Tallinn bedeutete das: Aus dem Sprung ins kalte wird einer ins eiskalte Wasser. Gut, dass "cool bleiben" eine urestnische Tugend ist. Und bringt so schnell nichts aus der Ruhe, sagt Uku Särekanno, der Koordinator des estnischen EU-Ratsvorsitzes: "Ich glaube, einer der größten Vorzüge von uns Esten ist es, dass wir sehr viele Dinge in uns aufnehmen können. Bei Verhandlungen ist es außerdem nützlich, eine unemotionale Sachlichkeit zu zeigen. Und dann würde ich sagen, dass wir Esten die Gabe haben, Dinge zu erledigen.
    Leuchtturmprojekt "Digital-Gipfel"
    Dabei ist Vieles schon erledigt. Die Vorbereitungen laufen seit 2012. 75 Millionen Euro sind nur für die Ratspräsidentschaft im Haushalt verplant, zur Spitzenzeit werden etwa 1.300 Menschen nur damit beschäftigt sein, diese Präsidentschaft möglichst zum Erfolg zu machen, werden allein in Estland etwa 200 Veranstaltungen organisieren von kleinen Meetings bis zum geplanten großen "Digital-Gipfel" im Herbst. Denn dieses "Digital" unterscheidet Estland von den meisten anderen EU-Staaten. Das Land ist so online wie kaum ein zweites, hat früh auf Digitalisierung in der Wirtschaft, aber auch im öffentlichen Leben gesetzt und gilt jetzt als großes Vorbild. Andre Pung ist Wirtschaftsexperte und Diplomat. Sein Land hat für die Ratspräsidentschaft vier Themenfelder definiert, sagt er: "Eine wichtige Priorität für uns ist das digitale Europa und der freie Austausch von Informationen. Estland ist für seine gute Qualität bei digitalen Dienstleistungen bekannt und unser E-Staat-System ist ohne jeden Zweifel eines der besten. Wir wollen dieses Thema in den Blickpunkt rücken und über ein modernes Verbindungssystem, grenzüberschreitenden elektronischen Warenverkehr und andere elektronische Dienstleistungen in Europa sprechen."
    Brexit ist kein Thema
    Andere Schwerpunkte sind das offene und wirtschaftsfreundliche Europa, das die Esten noch offener und noch freizügiger machen wollen. Das Thema Sicherheit wird eine große Rolle spielen und dabei vor allem der Versuch, die östlichen EU-Partner wieder näher an die Union heranzuführen und dafür zu sorgen, dass überall wieder mehr Geld für Verteidigung ausgegeben wird. Auch die Bewältigung der Flüchtlingskrise steht auf der Agenda. Und schließlich wollen die Esten dafür sorgen, dass - bei allen anderen dringenden Problemen – in der Union weiterhin über Umweltschutz und Nachhaltigkeit gesprochen wird. Der Brexit taucht in der Prioritätenliste übrigens nicht auf. Einfach, weil man in Tallinn den eigenen Einfluss nicht allzu hoch einschätzt. Die Regierung sieht sich im Dialog, eher im Streit mit den Briten nicht in der Rolle des Mit-Entscheiders, sondern des Mittlers, wenn gewünscht. Man weiß, dass die Weichen woanders gestellt werden, Ratspräsidentschaft hin oder her, was ja auch sein Gutes hat.
    Denn selbst so sieht sich das kleine Land ganz oben im Nordosten der Union erheblich gefordert: "Natürlich ist das eine schwierige und verantwortungsvolle Aufgabe, die Estland nun zum ersten Mal seit seinem EU-Beitritt wahrnehmen muss. Manche Kollegen haben das eine ‚internationale Reifeprüfung‘ genannt...", die Keit Kasemets, Vorsitzender der Estnischen Vertretung bei der EU-Kommission, zu bestehen gedenkt, so wie alle anderen, die in den kommenden Monaten nur noch Europa denken und hoffen, dass sich der Präsidentschaftsstress für die Esten am Ende lohnt.
    Mehr Einfluss in der Union
    Zweiflern wird im Online-Auftritt der Regierung versichert, dass die Erfahrung früherer Präsidentschaften zeigt: Die jeweiligen Staaten hätten hinterher immer mehr Gewicht gehabt in der Union. Im "Fall Estland" müsste man da wohl von "noch mehr" Gewicht sprechen: "Aktuell gibt es 17 Staaten, die an allen politischen Gremien der EU teilnehmen, und Estland gehört dazu. Es ist seit langem die Politik estnischer Regierungen, dass Estland zum Kern Europas gehören und an allen Vorhaben teilnehmen soll. Das war und ist im Interesse Estlands, und es gibt keinen Grund, daran etwas zu ändern."
    Das meint übrigens auch Estlands Präsidentin Kersti Kaljulad, die in Interviews nicht müde wird, die EU zu loben, die ihrem Land nach lange sowjetischer Besatzung ja so viel Gutes gebracht hat. Ihr Motto: Jetzt sind wir am Zuge, uns dafür zu bedanken und wir werden in schweren Zeiten für den Zusammenhalt kämpfen, denn "ich kenne nicht ein einziges großes Problem, sei es Umwelt, Infrastruktur, Marktentwicklung, digitale Freiheit, Grenzsicherung, Terrorismus oder Einwanderung, das im Alleingang besser gelöst werden könnte als im Rahmen der EU. Deshalb bin ich mir ziemlich sicher, dass die EU dies alles überlebt."