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"Europa im Ostblock"

Im Vorfeld der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft waren vor allem von Seiten der EU-Kernstaaten skeptische Töne gegenüber dem EU-Neuling zu hören. Wird die tschechische Ratspräsidentschaft wirklich für die EU eintreten? Welche Europavorstellungen die osteuropäischen Staaten mitbringen, mit dieser Frage hat sich seit 2004 das von der VolkswagenStiftung finanzierte Forschungsprojekt "Europa im Ostblock" beschäftigt.

Von Bettina Mittelstraß | 22.01.2009
    "Wir wollten wissen, was über Europa und Europäische Einigung in Osteuropa gedacht wurde. Es war ganz einfach, weil wir wussten, dass wirklich niemanden wusste, was darüber geschrieben und gedacht wurde in Zeiten des Kommunismus."

    Die Idee war so neu wie bestechend simpel, sagt José Faraldo, Leiter des Projekts "Europa im Ostblock" und Mitherausgeber des gleichnamigen Buches. Die beteiligten Kulturhistoriker schauten in die Quellen, in alte Zeitungen, Zeitschriften, in politische Texte aus Polen, der Tschechoslowakei, Ukraine oder der DDR zwischen 1945 und 1991. Herausgekommen sind zahlreiche Innenansichten, die in dem Sammelband die konkrete Realität von Europawahrnehmungen im Ostblock wiedergeben. Die Kulturhistorikerin Paulina Gulinska-Jurgiel:

    "Das Spannendste bei mir war, dass es Europa im Ostblock gab. Dass über diesen Konzept über Europa ... auf der östlichen Seite des eisernen Vorhangs permanent und zwar eben sowohl auf der offiziellen, politischen Propagandaebene als auch in den Dissidentenkreisen, also auch im Exil über Europa nachgedacht wurde."

    Nur wurden im westlichen Kerneuropa, wo nach 1945 die Europäische Einigung vor allem in Frankreich, West-Deutschland und Großbritannien entworfen wurde, die Stimmen und Diskurse aus Ost-Mitteleuropa schlicht nicht wahrgenommen, sagt der Kulturhistoriker Christian Domnitz. Bis heute kämpfen die ostmitteleuropäischen Länder gegen das Vorurteil an, Europa habe im Kalten Krieg an der Blockgrenze aufgehört.

    "Eine Ausnahme ist die Mitteleuropadebatte der 80er Jahre. In dieser Zeit haben viele Dissidenten in Polen und in Tschechien darüber diskutiert, wie ein Mitteleuropa zwischen der Sowjetunion und zwischen dem Westen eine eigene Identität entwickeln könnte und dann mit dieser eigenen Identität wieder einen eigenen Anschluss nach Westen finden könnte. Das ist eine Ausnahme. Das wurde im Westen sehr stark diskutiert, ist aber heute auch schon wieder vergessen."

    Die fehlende Wahrnehmung einer unter anderen politischen Umständen gewachsenen Debatte macht die Kommunikation mit den neuen Beitrittsländern über Europa und die Europäische Einigung nicht eben leicht.

    "Ich zitiere immer den tschechoslowakischen Ökonomen und heutigen tschechischen Präsidenten Václav Klaus, der vor einigen Jahren ein Maifest verfasst hat: schaffen wir eine andere Europäische Union? So war der Titel. Und das Manifest besteht eigentlich aus einer Aneinanderreihung antieuropäischer Phrasen. Er kritisiert Multikulturalismus in Westeuropa. Er sagt, dass die natürliche Bindung des Individuums an seine Nation in der Europäischen Einigung gestört ist und er entwirft ein Bild von einem Europa der Nationen, das er neu schaffen möchte und als eigenes ostmitteleuropäisches Konzept der westeuropäischen Einigung entgegen setzen möchte."

    Weil kaum jemand die Europadebatten zu kommunistischen Zeiten kennt, ist auch ihr Erbe nicht erkennbar. In der Folge wirken solche oder ähnliche Stellungnahmen ostmitteleuropäischer Politiker nur irritierend:

    "Im Westen ist man dann oftmals überrascht: Na, was verkünden denn da die Politiker aus Ostmitteleuropa jetzt wieder? Was haben die denn für eigenartige Vorstellungen von einer europäischen Einigung? Es geht ihnen ja überhaupt nicht um die politische Einigung. Es geht ihnen nur darum, kulturelle Identitäten zu schaffen oder möglicherweise auch eine neoliberale Freihandelszone in Europa zu kreieren. Aber - so sind die Beschwerden aus dem Westen - sie teilen unsere Begeisterung für das politische Integrationsprojekt Europa nicht."

    Auf der anderen Seite betonen Länder wie beispielweise Polen, dass ihr Staat sich immer schon - also auch in Zeiten der Isolation - als kulturell gewachsener Bestandteil des westlichen Europas verstanden hat. Und schaut man genauer hin, erkennt man, dass schon in den 60er Jahren die zunächst ideologisch hart formulierte Abgrenzung vom westlichen Europa schrittweise abgenommen hat. Paulina Gulinska-Jurgiel:

    "Die Diskurse oder die politischen Appelle, die sich auf Europa beziehen, die beginnen langsam einen positiven Turn anzunehmen. Es hängt zum Teil damit zusammen, dass eben die Konfrontationsphase erstmal abgeschlossen ist und sicher auch die Vorbereitungen auf die europäische Konferenz in Helsinki beginnen, von der sowjetischen Seite begonnen werden. Der Ostblock beginnt sich eben als das wahre oder das bessere Europa zu präsentieren aufgrund der Sicherheit - also die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Also permanente Bezugnahme auf die Sicherheit, die anscheinend nicht vom Westen sondern vom Osten garantiert werden soll. Das sind die Unterschiede."

    Neben den Debatten der Andersdenkenden, der Dissidenten, um ein geeintes Europa der Kultur wuchs in der Folgezeit der deutliche Anspruch kommunistischer Parteien, dieses Europa politisch mitzuformen und mitzubestimmen. Christian Domnitz:

    "Denen ging es einfach darum, die Präsenz des Staatssozialismus in Europa festzuschreiben: die Europäische Nachkriegsordnung zum Beispiel Aber eben später auch die friedliche Koexistenz von Sozialismus und Marktkapitalismus in Europa war ein großes Thema der sozialistischen Propaganda.

    Vielleicht noch eine Erklärung aus einer etwas anderen theoretischeren Sicht dazu. Europa ist eine positive Appellationsinstanz. Man kann, indem man sich auf Europa beruft, Leute mobilisieren, man kann Loyalität mobilisieren, man kann Handlungen stattfinden lassen, und das haben die kommunistischen Parteien auch erkannt und haben aus diesem Grunde sich abgewandt von einer Verteufelungspropaganda - eines Kleineuropa, eines bourgeoisen Westens, den es zu bekämpfen gilt - und haben eben versucht ihr eigenes positives Europabild zu kreieren."

    Der Sammelband "Europa im Ostblock" zeigt vielfältige Europavorstellungen jenseits des westlichen Kerneuropa. Es diskutiert Europavorstellungen in Staats- und Parteiführungen ebenso wie das Europa in den westlichen Exilgemeinschaften der Ostmitteleuropäer und wirbt damit vor allem um Verständnis für eine immer noch lebendige und nach wie vor vielfältige Debatte über Europa:

    "Für uns war besonders wichtig zu erklären, warum die ostmitteleuropäischen Beitrittsländer oder die neuen Mitgliedsstaaten in der EU, warum es aus diesen Ländern immer wieder neue Ideen für eine europäische Finalität gibt und weshalb in diesen Ländern Europa nicht so gedacht wurde wie im Westen."