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Europäische Atomgemeinschaft Euratom
Der große Förderer der Kernenergie wird 60

Der Vertrag über die Europäische Atomgemeinschaft Euratom ist einer der zwei Römischen Verträge, die vor 60 Jahren geschlossen wurden. Das damals ausgegebene Ziel, die Entwicklung der Atomkraft zu fördern, erscheint vielen heute nicht mehr zeitgemäß. Sie fordern ein Ende der Organisation, die in den kommenden Jahren aber ohnehin vor einem Umbruch steht.

Von Manuel Waltz | 24.03.2017
    Wasserdampf steigt am 9.9.2016 in Emmerthal (Niedersachsen) aus den Kühltürmen des Kernkraftwerk Grohnde.
    Der Vertrag und damit auch der Gedanke, durch eine mächtige Atomindustrie Wohlstand in Europa aufzubauen und zu mehren, ist ein Kind seiner Zeit, so Professor Jürgen Grunwald von der Universität des Saarlandes. (dpa / Sebastian Gollnow)
    "60 Jahre Euratom - ein völlig aus der Zeit gefallener Uraltvertrag."
    "Deshalb würden wir sagen: Austreten, also einfach beenden."
    Sylvia Kotting-Uhl aus der Bundestagsfraktion der Grünen und Regine Richter von der Nichtregierungsorganisation Urgewald zum 60. Jubiläum von Euratom.
    "Ich glaube, wer das fordert, hat nicht das komplette Spektrum der Euratom begriffen."
    Ralf Güldner, Chef des Deutschen Atomforums.
    "Also ich halte es nach wie vor für zwingend notwendig, dass wir weiterhin im Euratom-Vertrag bleiben."
    Wichtig oder völlig überholt
    Thomas Bareiß, energiepolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag.
    "Nein, dieser Vertrag ist antiquiert, er hat ein Ziel, dass die meisten Mitgliedsländer in Europa gar nicht mehr teilen, nämlich den Ausbau der Atomenergie."
    Sven Giegold, Mitglied der Grünen-Fraktion im Europaparlament.
    Sven Giegold (Bündnis 90/Die Grünen), finanz- und wirtschaftspolitischer Sprecher der Grünen im Europaparlament, Sprecher der deutschen Grünen im Europaparlament
    Der Grünen-Europa-Abgeordnete Sven Giegold ist Kritiker der Euratom. (imago stock&people)
    "Der Vertrag ist aus meiner Sicht sehr, sehr logisch konzipiert und enthält die erforderlichen Befugnisse, um diesen doch letztlich gefährlichen Sektor einzuhegen, ihn managebar zu machen und die erforderlichen Sicherheitsgarantien zu liefern."
    Jürgen Grunwald vom Europa-Institut der Universität des Saarlandes.
    Einer der zwei Römischen Verträge
    Der deutsche Atomausstieg ist unumstritten; Konsens unter allen im Bundestag vertretenen Parteien und auch eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung steht dahinter. Und dennoch spaltet das Thema noch immer die Nation. Ein Punkt, über den nach wie vor gestritten wird, ist Euratom, die europäische Atomgemeinschaft, in der Deutschland und alle anderen EU-Länder Mitglied sind. Euratom ist einer der zwei Römischen Verträge, die vor 60 Jahren geschlossen wurden. (*) Dieser Vertrag ist allerdings der einzige, der nach wie vor fast unverändert bestand hat. In der Präambel heißt es:
    "Aufgabe der Atomgemeinschaft ist es, durch die Schaffung der für die schnelle Bildung und Entwicklung von Kernindustrien erforderlichen Voraussetzungen zur Hebung der Lebenshaltung in den Mitgliedstaaten und zur Entwicklung der Beziehungen mit den anderen Ländern beizutragen."
    Zwar ist kein Mitglied verpflichtet, Atomkraftwerke zu bauen. Für Gegner des Vertrags ist dieser Auftrag, die Atomenergie auszubauen und zu fördern, nicht mit dem deutschen Ausstieg zu vereinen. Der Vertrag und damit auch der Gedanke, durch eine mächtige Atomindustrie Wohlstand in Europa aufzubauen und zu mehren, ist ein Kind seiner Zeit, so Professor Jürgen Grunwald von der Universität des Saarlandes.
    Ein Kind der 50er-Jahre
    "Um Euratom zu verstehen, denke ich, geht man am besten in die 50er-Jahre zurück, als Euratom gegründet wurde. Dann sieht man, was Euratom will. Die 50er-Jahre des vorherigen Jahrhunderts waren eigentlich die Zeit des europäischen Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg und gleichzeitig die Zeit, in der man Europa zu integrieren suchte."
    Unterzeichnung Römische Verträge 1957 in Rom: Von links nach rechts: Italiens Premierminister Antonio Segni, Außenminister Antonio Martino 
    Unterzeichnung Römische Verträge 1957 in Rom. (dpa / picture alliance / epa ansa)
    Die Technik, Energie aus der Spaltung von Atomen zu gewinnen, steckte zu dieser Zeit noch in den Kinderschuhen. Es entwickelte sich eine regelrechte Euphorie, man erhoffte sich nahezu grenzenlose Möglichkeiten davon, gerade beim Wiederaufbau Europas. Während klar war, dass Kohle und Gas endlich sein würden, versprach man sich unendliche Energieversorgung durch die Atomkraft, so Grunwald.
    "Nun war das ein großes Abenteuer, in technischer Hinsicht auch in ökonomischer Hinsicht. Man wusste nicht genau, was auf einen zu kam, wie die Kosten sein würden, welcher Regelungsbedarf bestehen würde und deswegen sagten sich die sechs Gründerstaaten der EGKS, also Deutschland, Italien, die Beneluxstaaten und Frankreich: Das machen wir gemeinsam."
    Ziel: Nutzung der Atomkraft regeln
    Deshalb schlossen sich die sechs Länder zu weiteren Gemeinschaften zusammen. Mit den beiden Römischen Verträgen gründeten sie nicht nur die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), sondern auch die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM). In dieser sollten sie alle Belange, die mit der Nutzung der Atomkraft zu tun haben, gemeinsam regeln. Deshalb sei der Vertrag auch heute noch wichtig, so Ralf Güldner vom Deutschen Atomforum.
    "Der Fördergrundsatz ist bei uns dann sicherlich weggefallen, wenn wir die friedliche Nutzung oder die Stromerzeugung aus Kernenergie beendet haben, aber Deutschland wird ja damit kein spaltstofffreies Land."
    Mitglieder des Beladeteams beobachten am 12.12.2015 auf dem Gelände des Atomkraftwerks Biblis (Hessen) das Absenken eines beladenen Castor-Behälters mit Hilfe des Krans am Hubgerüst von Block A. Als Vorbereitung für den geplanten Rückbau sind am stillgelegten Atomkraftwerk Biblis die ersten Brennelemente aus dem Block A ins benachbarte Standort-Zwischenlager gebracht worden.
    Verladung eines Castor-Behälters auf dem Gelände des stillgelegten Atomkraftwerks Bilblis. Das spaltbare Material gehört der Euratom. (dpa / RWE Power AG)
    Neben dem Einsatz in Atomkraftwerken werden Uran und andere radioaktive Stoffe auch in der Medizintechnik, in der Industrie und in der Forschung genutzt. Zudem gibt es nach wie vor Forschungsreaktoren an deutschen Universitäten, in Berlin und München zum Beispiel. Überall hier ist Euratom auf verschiedene Art und Weise zuständig. Ralf Güldner:
    "Wenn wir mal eine der wichtigsten Aufgaben nehmen, dann ist das die Versorgung mit Kernbrennstoffen, das läuft immer über die Euratom und über die European Supply Agency, die ESA, die muss jeden Transfer von Spaltmaterial genehmigen und das Material bleibt auch im Eigentum der ESA, also die Unternehmen in Deutschland haben gar kein eigenes Eigentum."
    Viel wird aber den Nationalstaaten überlassen
    Damit wird sichergestellt, dass spaltbares Material nicht in falsche Hände gerät. Jeder einzelne Ort, wo sich die jeweiligen Stoffe in Europa gerade befinden, wird zentral festgestellt. Euratom sorgte auch nach dem Ende des Kalten Krieges dafür, Atomkraftwerke in den Ländern des ehemaligen Ostblocks sicherer zu machen, indem die eigenen Standards angewandt und Know-how, technische Mittel und Finanzen bereitgestellt wurden. Einen großen Aspekt der Atomenergie aber überlässt Euratom weitgehend den Nationalstaaten.
    "Hier befinden wir uns jetzt in dem Maschinenhaus von Obrigheim."
    Jörg Michels steht auf der obersten Balustrade einer riesigen leeren Halle. Er ist im Vorstand der EnBW Kernkraft zuständig für die Stilllegung und den Rückbau der Atomkraftwerke.
    Ein Mitarbeiter sitzt am 19.03.2014 in Obrigheim (Baden-Württemberg) auf dem Gelände des Atomkraftwerks des Energiekonzerns EnBW im Zentralen Leitstand für den Rückbau des Reaktors.
    Der zentrale Leitstand für den Rückbau des Reaktors im Atomkraftwerk Obrigheim des Energiekonzerns EnBW. (dpa / Uwe Anspach)
    "Sie sehen auf dem Bild gegenüber ein Bild, wie es zu Betriebszeiten hier aussah, auf dem sogenannten Turbinenflur, auf dem wir uns hier befinden, war früher der Generator mit den Turbinen und wie Sie jetzt hier in dem Gebäude sehen und auch an dem Hall hören können, ist das Gebäude, was die systemtechnischen Einrichtungen angeht, komplett leer geräumt."
    Regierungen sind für Atommülllager zuständig
    Der Rückbau des Atomkraftwerks Obrigheim in der Nähe von Heilbronn ist bereits weit fortgeschritten. Die Turbine in der Halle, die einstmals Strom erzeugt hat, ist komplett demontiert. Insgesamt wird das gesamte Kraftwerk zurückgebaut. Am Ende soll eine grüne Wiese übrig bleiben, und tausende Tonnen Müll - teils leicht radioaktiv, zum Teil mittel- und auch hoch radioaktiv.
    "Wer ist nun verantwortlich für das Thema Zwischen- und Endlagerung? In der gesamten Betriebsphase und für die Zwischenlagerung sind wir als Betreiber sowohl für die schwach- und mittelaktiven- als auch für die hoch radioaktiven Abfälle komplett verantwortlich, bis diese Abfälle in ein Endlager überführt werden."
    Aus dieser Endlagersuche, wie die Endlager gebaut sein müssen, wo sie liegen, wie sie finanziert werden, ob das bereitgestellte Geld ausreicht, wie lange der strahlende Müll gelagert werden muss, welche Gesteinsarten sicher sind und welche nicht, aus all diesen Themen hält sich Euratom heraus, überlässt all dies den Mitgliedstaaten.
    De Gaulle gegen stärkere Zusammenarbeit
    "Der Staat ist in der Verantwortung für die Bereitstellung dieser Endlager. Für die Schwach- und Mittelaktiven ist das das Endlager Schacht Konrad. Für die Hochaktiven wurde über viele Jahrzehnte der Standort Gorleben untersucht. Jetzt gibt es ein neues ergebnisoffenes Endlagersuchverfahren. Und auch für dieses ist der Staat in der vollen Verantwortung."
    (L-r): Bürgermeister Paul Nevermann, Charles de Gaulle und Verteidigungsminister Franz Josef Strauß. Der französische Staatspräsident Charles de Gaulle besuchte am 07.09.1962 die Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg.
    Charles de Gaulle in Hamburg 1962. Er wollte bei der Atomkraft nicht zu viel Souveränität abgeben. (picture alliance / dpa )
    Bei der Gründung von Euratom stand noch nicht fest, dass sich jeder einzelne Mitgliedstaat selbst um seinen Atommüll kümmert. Doch mit dem Amtsantritt von Charles de Gaulle als Präsident 1959 stellte sich vor allem Frankreich gegen eine stärkere Zusammenarbeit in Sachen Atomkraft. Dafür hatte de Gaulle gewichtige Gründe, wie der Europapolitiker Sven Giegold von den Grünen meint.
    "Es ist ja kein Geheimnis, dass ein Teil der Länder, die Atomenergie zivil nutzen, es ihnen eigentlich darum geht, dadurch den Zugang auch zu der Waffen- und militärischen Nutzung zu haben. Daher lassen sich Länder ungerne in die Nutzung der Atomenergie hineinreden. Das ist in Wirklichkeit der Hintergrund, warum die Souveränitätsansprüche der Nationalstaaten besonders in dem Bereich sich als resistent erwiesen haben gegen jeden Versuch, mehr Transparenz und Demokratie in Europa Einzug halten zu lassen, was uns ja sonst gelungen ist."
    Eine Agentur ohne eigene Adresse
    Während sich die restliche EU immer weiter entwickelt hat, demokratische Prinzipien eingeführt und vor allem dem EU-Parlament immer mehr Mitspracherechte gegeben hat, hat sich an der Struktur von Euratom in den vergangenen Jahrzehnten so gut wie nichts geändert. Die Kommission und der Rat treffen hier die Entscheidungen und das auch oft hinter verschlossenen Türen. Mangelnde Transparenz ist daher einer der Hauptkritikpunkte von Europaparlamentariern wie Sven Giegold. Auch Alexander Ulrich von den Linken kritisiert, dass schon die Struktur von Euratom Transparenz und Teilhabe verhindert.
    "Als ich mich dann vor ein paar Jahren zum ersten Mal mit Euratom beschäftigt habe, habe ich auch gedacht, es gibt irgendwo eine Adresse dieser Agentur, wo man hin kann. Aber die gibt es ja gar nicht. Man kann Euratom ja gar nicht als Agentur besuchen."
    Kernfusionsprojekt ITER mit Milliarden gefördert
    Stattdessen sind die Organe von Euratom verschachtelt in die anderen Organe der EU integriert. Deshalb tritt Euratom auch fast nie als eigenständige Organisation nach außen hin auf und ist daher in der Bevölkerung kaum bekannt. Das, so Ulrich, verhindere Kontrolle, da ihr Handeln kaum öffentlich diskutiert werde. Und das sei auch so gewollt, so der Linken Politiker, da sich die Kommission und die Regierungen bei der Atomkraft nicht hineinreden lassen wollten. Für ihn als Oppositionspolitiker sei es extrem schwer, an Informationen heranzukommen, so Ulrich.
    "Euratom ist ja ein Thema, das sehr, sehr stark im Schatten der Politik stattfindet. Es gibt keine wirkliche demokratische Kontrolle durch das Europaparlament; es ist teilweise sehr undurchsichtig wie die Gelder fließen, wohin die Gelder fließen."
    Reinhard Bütikofer (Mitte, Bundesvorsitzender Bündnis 90/Die Grünen), Rebecca Harms (4.v.l., Stellvertretende Fraktionsvorsitzende und energiepolitische Sprecherin Bündnis 90/Die Grünen/EFA), Michael Cramer (7.v.l., Verkehrspolitischer Sprecher Bündnis 90/Die Grünen/EFA) und Dariusz Szwed (3.v.r., Landesvorsitzender Zieloni 2004) während einer Protestaktion gegen die europäische Energiepolitik in Berlin.
    Eine Protestaktion der Grünen gegen die europäische Energiepolitik in Berlin. (imago / VoigtFoto)
    Euratom hat verschiedene Töpfe, über die Geld für unterschiedliche Zwecke ausgeschüttet wird. Das Geld stammt aus dem Haushalt der EU. Ein Teil geht in die Weiterentwicklung der Atomenergie, wozu auch Sicherheitsaspekte gehören. Dann gibt es ein Programm, das Nuklide und andere Strahlung in der Luft misst und untersucht, wo diese Strahlung herkommt. Der größte Anteil der Gelder – etwa 65 Prozent – geht in die Forschung neuer Nuklear-Technologien. Hiervon wiederum geht das meiste an ITER, ein internationales Projekt, das die Energiegewinnung aus der Kernfusion entwickeln soll. Nach letzten Schätzungen dürfte das fast 20 Milliarden Euro kosten und Euratom ist daran zu 45 Prozent beteiligt. Für Thomas Bareiß, energiepolitischer Sprecher der CDU-CSU Bundestagsfraktion, ist das gut angelegtes Geld.
    Umsetzbarkeit der Kernfusion noch unklar
    "Ich halte es für richtig, dass man hier weiter dran bleibt und die Kernfusion ist nicht die Kernspaltung, insofern... die Gefahren, die von manchen gesehen werden, sind hier nicht vorhanden. Insofern ist auch die Zukunftsperspektive, wenn es denn funktioniert, ja, wäre eine ganz andere wie die Kernspaltung. Und ich glaube, daran sollten wir weiter festhalten."
    Die Einschränkung "wenn es denn funktioniert", die Thomas Bareiß macht, bringt Kritiker wie Sven Giegold auf den Plan. Denn ob es wirklich irgendwann möglich sein wird, mit der Kernfusion Strom zu erzeugen, weiß niemand.
    "Vor allem gilt dort eine Regel: jedes Jahr immer mehr. Also es ist völlig unabsehbar, dass dieses Fass ohne Boden jemals zu einem praktischen Ergebnis führt. Ich glaube, für Atomphysiker ist die ITER-Forschung spannend. Dass es jemals zu einer Nutzung kommen wird, die gegen die Erneuerbaren wirtschaftlich ist, ist extrem unwahrscheinlich und dort sind schon viele Milliarden versenkt worden und wir sollten das nicht weiter machen."
    Nationalstaatliche Interessen blockierten Vorhaben
    Während ITER nach wie vor weiter vorangetrieben wird, gib es viele Elemente von Euratom, die im Laufe der Jahre schlicht nicht umgesetzt wurden. Beispielsweise hatten die Gründungsväter die Absicht, eine gemeinsame Universität zu schaffen. Auch andere Pläne blieben vor allem wegen nationalstaatlicher Interessen in der Schublade, was Professor Jürgen Grunwald bedauert.
    "Aber was geblieben ist, sind die beiden großen Kapitel über Strahlenschutz und Kernmaterialkontrolle, sodass der Name Euratom aus meiner Sicht vielleicht heute so eine Art Feind geworden ist des Vertrages, weil er eben diesen Aufbaugedanken noch heute suggeriert, der aber gar nicht mehr in dem Sinne besteht. Sondern eigentlich müsste es heute heißen Europäische Gemeinschaft für Strahlenschutz und Kernmaterialkontrolle."
    Wasserdampf steigt am 9.9.2016 in Emmerthal (Niedersachsen) aus den Kühltürmen des Kernkraftwerk Grohnde.
    Kraftwerk Grohnde in Emmerthal (Niedersachsen). Ohne Euratom würde sich Atomenergie nicht rechnen. (dpa / picture alliance / Sebastian Gollnow)
    Genau hier widersprechen aber die Atomkraftgegner vehement. Denn für sie ist Euratom eben nicht nur eine Organisation, die gemeinsame Sicherheitsstandards für die Atomkraft in Europa festlegt und die über die Nutzung des spaltbaren Materials wacht, Euratom ist für sie vielmehr ein Mittel, die Atomenergie in Europa massiv zu subventionieren. So auch für Sylvia Kotting-Uhl von den Grünen. Denn, so Kotting-Uhl, Euratom soll laut Auftrag die Atomenergie in Europa fördern. Und dieser Förderauftrag spielt in der Realität – vor allem bei Entscheidungen der Kommission – nach wie vor eine große Rolle.
    "Atomkraftwerke werden in unangebracht Weise gefördert"
    "Und damit wird sehr oft legitimiert, dass in Staaten auf eigentlich unangebracht Weise Atomkraftwerke gefördert werden. Hinkley Point C, der Neubau, der hochsubventioniert wird, ist nur möglich, weil Euratom immer noch besteht mit dieser Ausrichtung."
    Auch in den Augen von Regine Richter, die für die Nichtregierungsorganisation Urgewald arbeitet, ist der Förderauftrag von Euratom nicht einfach wegzuwischen. Sie hat beobachtet, dass die Aufgabe, die Atomindustrie auszubauen und das Durchsetzen von hohen Sicherheitsstandards, gerade bei Laufzeitverlängerungen von Atomkraftwerken, manchmal unvereinbar sind.
    "Da hängt es wiederum damit zusammen, dass es um eine Förderung von Atomenergie geht und wenn ich Atomenergie fördern will, dann will ich nicht ein Land aufhalten oder dem wirklich reinreden, wenn das sagt, sonst können wir das nicht tun oder sonst werden wir das nicht tun."
    Ohne Euratom wären AKWs ein finanzielles Desaster
    Die EU-Kommission empfiehlt weiterhin den Neubau von Atomkraftwerken. Und das, obwohl alle aktuellen Neubau-Projekte in Europa – in Frankreich und Finnland etwa – finanziell aus dem Ruder laufen und wesentlich teurer werden, als geplant. Sie müssen stark subventioniert werden. Ohne Euratom, meint Sylvia Kotting-Uhl, wären diese Projekte nicht möglich.
    "Egal welches Unternehmen, sie stehen alle schlecht da, sie sind alle in den roten Zahlen, weil sich Atomkraft nicht mehr rechnet. Ökonomisch ist Atomkraft fast so ein Desaster wie ökologisch. Und ohne Euratom, ohne immer wieder die Möglichkeit, sich neue Subventionsbestände zu überlegen, wäre das längst eine Geschichte von gestern. Das heißt, die Atomindustrie profitiert von Euratom und das ist auch der Grund, warum wir in Europa oder auch weltweit, das hat ja auch eine Ausstrahlung, warum wir von der Atomkraft nicht wegkommen."
    Unstrittig in allen Diskussionen ist, dass es Elemente von Euratom gibt, die wichtig und sinnvoll sind, um die Atomkraft so sicher wie möglich zu machen. So müssen sich alle Mitgliedstaaten an gewisse Sicherheitsstandards halten, die erst kürzlich angepasst wurden und die der Bundestag gerade in einer Novelle in nationales Recht umsetzt. Für Thomas Bareiß von der CDU ist der Vertrag dadurch schon unverzichtbar.
    Kritik: Euratom greift nicht ein
    "Insofern ist es schon ein großes Anliegen auch von uns, dass wir die Standards, die Mindeststandards wenigstens einhalten. Und wenn man sieht, dass die nächsten Jahre noch neue Kernkraftwerke in Europa dazu kommen, dann sollten wir schon ein großes Interesse da rein setzen, dass wir auch weiterhin am Euratom-Vertrag festhalten."
    Greenpeace protestiert mit einem Plakat mit der Aufschrift "Stop Risiking Europe" auf dem Dach des französischen Atomkraftwerks Fessenheim.
    Greenpeace protestiert mit einem Plakat auf dem Dach des französischen Atomkraftwerks Fessenheim. (picture alliance / dpa)
    Den Gegnern aber gehen diese Standards nicht weit genug. Sie verweisen auf die belgischen Atomkraftwerke, die regelmäßig Störfälle melden und nach deutschem Recht vermutlich nicht mehr ans Netz dürften. Euratom greift hier nicht ein. Die Bundesregierung schreibt auf eine kleine Anfrage einiger Abgeordneter und der Linksfraktion:
    "Eingriffsmöglichkeiten im Hinblick auf einzelne Aufsichtsentscheidungen der zuständigen nationalen Atomaufsichtsbehörden stehen der Europäischen Kommission nicht zu."
    Veränderungen stehen bevor
    Alexander Ulrich kennt dieses Problem aus eigener Erfahrung.
    "Ich lebe hier in der Pfalz und bin auch nah dran an Frankreich, an französischen AKW. Und es ist ja auch so, dass Anrainerstaaten an AKW kaum Mitwirkungsmöglichkeiten haben, wenn es um Sicherheitsfragen geht, wenn es um Atommüllfragen geht, wenn es um Transportfragen geht, das zeigt ja gerade, dort wo man glauben könnte, Euratom hätte ein wichtige Aufgabe, macht ja Euratom gar nichts."
    60 Jahre nach seiner Gründung stehen für Euratom und für die gesamte EU in den kommenden zwei Jahren gewaltige Umwälzungen bevor. Denn der britische Austritt aus der EU bedeutet auch den Austritt Großbritanniens aus Euratom. Die Grünen-Abgeordnete Sylvia Kotting-Uhl:
    "Durch den Brexit ist es notwendig, sich mit Euratom zu befassen. Und ich hielte es für richtig, das zum Anlass zu nehmen, einen Konvent einzuberufen und sich Euratom wirklich von vorne bis hinten ganz genau anzuschauen."
    Mit dem Brexit verschiebt sich das Kräfteverhältnis
    Mit Großbritannien verlässt zudem einer der stärksten Befürworter der Atomkraft die Organisation. Länder wie Österreich, Italien oder auch Deutschland, die sich gegen die Atomkraft stellen und seit Jahren auf Veränderungen drängen, könnten mit ihren Forderungen durchkommen, hofft Sylvia Kotting-Uhl.
    "Und mit dem Austritt von Großbritannien verschiebt sich das Kräfteverhältnis, das Gewicht der einzelnen Länder, also der Länder, die Atomkraft ablehnen oder der, die sie noch sehr stark befürworten. Dieses Gewicht verschiebt sich etwas. Und das könnte dazu beitragen, dass man tatsächlich über Euratom und über die Frage, wollen wir diese Atomindustrie und die Atomkraft wirklich weiterhin so fördern, wie es in Euratom angelegt ist. Das könnte dazu führen, dass hier doch andere Gedanken Raum greifen und Mehrheiten finden. Also ein Konvent zu Euratom aus Anlass des Brexit könnte eine gute Richtung nehmen."
    (*) Anmerkung der Redaktion: Im Audio-Beitrag und in der ursprünglichen Version des Textes war von drei Römischen Verträgen die Rede. Tatsächlich sind es nur zwei. Das haben wir an den entsprechenden Stellen im Text geändert.