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Filmstart "Raum"
Subtile Charakterstudie

Die Schauspielerin Brie Larson hat den Oscar für ihre Leistung in "Raum" erhalten. Es ist die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Emma Donoghue aus dem Jahr 2010. In ihrem Buch greift die irische Schriftstellerin Motive auf, die an den Fall des Österreichers Josef Fritzl erinnern, der seine Tochter Elisabeth 24 Jahre lang im Keller gefangen hielt und mit ihr mehrere Kinder hatte. Diese Woche kommt das Filmdrama in die deutschen Kinos.

Von Jörg Albrecht | 16.03.2016
    Brie Larson als Ma und Jacob Tremblay als Jack in seiner Szene des Films "Raum" ACHTUNG: Verwendung nur für redaktionelle Zwecke im Zusammenhang mit der Berichterstattung über den genannten Film und nur bei Urheber-Nennung
    Brie Larson als Ma und Jacob Tremblay als Jack in seiner Szene des Films "Raum" (picture alliance / dpa / George Kraychyk/Universal Pictures)
    "Du weißt doch, dass Alice nicht immer im Wunderland war. – Sie fiel, fiel, fiel in ein ganz tiefes Loch. – Genau. Und ich war nicht immer hier im Raum. Ich bin wie Alice ..."
    Ein Wunderland ist dieser Ort ganz sicher nicht. Aber wie kann man einem Kleinkind begreiflich machen, dass es noch eine Welt gibt außerhalb des Raums, in dem es zu Hause ist und den es niemals verlassen hat? Denn das Leben von Jack und seiner Mutter, die – im Buch wie auch im Film – nur Ma heißt, spielt sich auf gerade einmal neun Quadratmetern in einem Gartenschuppen ab. Dort hat Ma Jack in Gefangenschaft auf die Welt gebracht. Jetzt, wo ihr Sohn fünf Jahre alt geworden ist, will sie ihm von dem Leben draußen erzählen. Denn sie weiß: Nur mit Jacks Hilfe kann es jemals gelingen, dem Gefängnis zu entkommen.
    " ... Ich war ein kleines Mädchen namens Joy. – Nein. – Und ich wohnte in einem Haus mit meiner Ma und meinem Dad. Das sind deine Großeltern. – Was für ein Haus? – Na ein Haus. Draußen in der Welt."
    Für Ma ist der Fernseher das Fenster zur Welt
    Häuser aber kennt Jack nur aus dem Fernseher, der ebenfalls zur Ausstattung des Raums gehört. Für Ma ist er das Fenster zur Welt, für den Jungen aber nichts weiter als ein Gegenstand wie ein Bett oder ein Schrank – nur eben ein Ding mit bewegten Bildern und Geräuschen. Einmal formt Jack mit seinen Händen Schattenfiguren an der Wand. Die Verbindung zu einer Erzählung der antiken Philosophie ist hier nicht zu übersehen. Wie bei den unter der Erdoberfläche Gefangenen in Platons Höhlengleichnis findet die Wirklichkeit des Jungen ausschließlich in den vier Wänden des Raums statt. Zu dieser Realität zählen auch die regelmäßigen Besuche des Mannes, der seine Mutter vor vielen Jahren verschleppt und eingesperrt hat.
    " ... Hörst du denn nicht zu, was ich sage? Und als ich dann älter wurde – ich war schon 17 – da kam ich von der Schule ... – Wo war ich da? – Du warst noch im Himmel. Da war ein Kerl. Der tat so ... – Was für ein Kerl? – Wir nennen ihn Old Nick. Ich weiß nicht, wie sein richtiger Name ist. Jedenfalls hat er mir gesagt, sein Hund sei krank ... – Wie hieß der Hund? – Es gab gar keinen Hund, Jack. Er wollte mich nur reinlegen. Verstehst du? Er hatte keinen Hund. Old Nick hat mich entführt. – Ich will eine andere Geschichte. – Nein. Eine andere Geschichte gibt es nicht. Er hat mich in seinen Gartenschuppen geschleppt. Hierher. Unser Raum ist da drin."
    Wenn Old Nick den Raum durch die gesicherte Stahltür betritt, versorgt er entweder die Beiden mit Essen und Kleidung oder aber er vergeht sich an Jacks Mutter, während der Junge in den Kleiderschrank gesperrt wird. Um das Grauen und die Erbarmungslosigkeit der Situation zu zeigen, benötigt der Film keine ausgestellten oder gar obszönen Bilder. Allein die flüchtigen Eindrücke – immer aus der Perspektive von Jack – genügen, um die ganze Dimension des jahrelangen Missbrauchs und der Freiheitsentziehung zu erfassen.
    Unfassbar gut ist auch Jacob Tremblay als Jack
    Im ersten Drittel des Films konzentriert sich Regisseur Lenny Abrahamson auf die besondere und innige Beziehung zwischen Jack und seiner Mutter. Ganz nah ist die Kamera an ihren Gesichtern.
    Nicht nur Brie Larson beeindruckt mit ihrem Spiel, das Einblicke in eine körperlich und seelisch verwundete junge Frau gibt. Unfassbar gut ist auch der mittlerweile neunjährige Jacob Tremblay als Jack. Gemeinsam demonstrieren sie, dass ihr Mikrokosmos nicht nur ein Ort der ständigen Bedrohung ist, sondern auch ein Schutzraum. Diesen Platz der Geborgenheit und Verlässlichkeit gilt es nun – so der Plan – aufzugeben. In dem Szenario, das sich Ma für die Flucht ausgedacht hat, soll Jack eine schwere Erkrankung simulieren. Sie wird daraufhin ihren Peiniger anflehen, ihn zu einem Krankenhaus zu bringen, wenn er nicht will, dass ihr Sohn stirbt. Jack solle dann die Chance nutzen abzuhauen und Hilfe zu holen.
    Zu diesem Zeitpunkt verwandelt sich das Kammerspiel kurzfristig in einen Thriller. Am Ende dieses Abschnitts wird erst Jack, später dann auch Ma in Freiheit sein.
    Die lichtdurchfluteten Bilder, in denen Jack zum ersten Mal mit der Außenwelt in Kontakt tritt, gehören zum Schönsten im Kino seit langem. Regisseur Abrahamson inszeniert sie als Befreiungsschlag, den er mit den hymnischen Klängen der Band This Will Destroy You unterlegt. In einer anderen Geschichte wäre das vermutlich die Schlussszene, das Happy End gewesen. Nicht so bei "Raum". Hier markiert es nur die Trennlinie zwischen dem Martyrium und dem Neubeginn.
    " ... Jack, komm mal her! – Findet er uns hier? – Nein. Er wird uns niemals finden."
    Trotz der respektvollen und zurückhaltenden Inszenierung verlangt die Geschichte von "Raum" dem Zuschauer einiges ab. Aber er wird belohnt durch eine subtil beobachtete und psychologisch fundierte Charakterstudie, die von zwei außergewöhnlichen Schicksalen erzählt. Die Verarbeitung des Erlebten, also der Start in ein neues Leben für Jack und die Rückkehr in das alte für seine Mutter, sind in der zweiten Hälfte die Themen des vielschichtigen Films. Sogar für die Freiheit werden beide einen hohen Preis bezahlen müssen.