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Flüchtlinge in Haiti
Hungrig und ohne Pass

Haiti ist bitterarm, die Dominikanische Republik dagegen gilt als Schwellenland. Und so sind viele Haitianer ins Nachbarland ausgewandert. Doch die Stimmung kippt. Zuletzt hat die Dominikanische Republik haitianische Einwanderer abgeschoben. Zurück in Haiti sind sie in Flüchtlingslagern gelandet, um die viele Hilfsorganisationen einen großen Bogen machen.

Von Andreas Boueke | 25.02.2016
    Ein kleines Mädchen vor einer Hütte in dem Flüchtlingslager Parc Cadeau bei Anse-à-Pitres in Haiti
    Die Menschen in dem Flüchtlingslager Parc Cadeau leben in unhygienischen Verhältnissen (Deutschlandradio/Andreas Boueke)
    Gottesdienst in einer kleinen Holzkirche in San Luis, einem Armenviertel im Norden von Santo Domingo, der Hauptstadt der Dominikanischen Republik. Hier leben vor allem haitianische Einwanderer.
    Die Gottesdienstbesucher stehen vor billigen Plastikstühlen. Sie strecken die Arme in die Luft und schwingen ihre Hüften im Takt der Musik, bis der Pastor sie bittet, sich zu setzen.
    Es ist Sonntagabend. Pastor Gustavo Lendi erzählt von einer Reise ins Nachbarland Haiti. Er hat dort das Lager Parc Cadeau besucht. Da leben hunderte Menschen aus der Dominikanischen Republik, von dort sind sie vor wenigen Monaten geflohen - oder sie wurden deportiert. Die Dominikanische Republik liegt im Osten der Insel Hispaniola, Haiti im Westen. Die wirtschaftliche Situation der beiden Staaten, die sich eine Insel teilen, unterscheidet sich massiv. Haiti ist heute das ärmste Land des amerikanischen Kontinents, während die Dominikanische Republik als Schwellenland bezeichnet werden kann. Die Bevölkerung genießt einen deutlich höheren Lebensstandard.
    "Die Armut in diesem Lager in Haiti ist überwältigend. Die Menschen leben in Hütten aus Karton, keine zwei Meter breit. In solchen Räumen hausen Familien von bis zu acht Personen. Ihr Dach ist eine Plastikplane. Wir hier in der Dominikanischen Republik leben im Vergleich zu den Menschen dort im Reichtum."
    Jahrzehntelang haben viele Haitianer die schlecht gesicherte Grenze gen Osten überquert, auf der Suche nach besseren Lebenschancen. Viele haben in der Dominikanischen Republik Kinder und Enkel bekommen, doch ihren Aufenthaltsstatus haben sie nie legalisiert.
    Im Jahr 2014 begann die dominikanische Regierung mit einem Deportationsprogramm. Gleichzeitig hat sich die Stimmung in der Gesellschaft gegen die haitianischen Einwanderer und ihre Nachkommen gewendet, es kam zu Übergriffen. Aus Angst sind Zehntausende zurückgekehrt nach Haiti, andere wurden abgeschoben. So landeten rund hundert Flüchtlingsfamilien in dem Lager Parc Cadeau.
    "Er sagt, hier an dieser Stelle sei vor ein paar Tagen sein Sohn gestorben. Er hatte kein Geld, um ihn ordentlich zu begraben. Als der Leichnam zu verwesen begann, hat er ihn einfach verscharrt."
    Ein paar Tage zuvor: Während seines Besuchs im Flüchtlingslager lässt Pastor Gustavo seinen Blick über die wackligen Hütten streifen. Neben ihm steht sein Kollege Eliezer Lembert. Beide arbeiten für die Kirche. Der kräftige Mittvierziger lebt nicht weit entfernt in der Dominikanischen Republik. Ab und zu reist auch er nach Haiti, um Lebensmittel in eines der Camps zu bringen. Viel ist es nicht. Er selbst verdient gerade mal genug, um seine Familie zu ernähren. Einige ausgemergelte Erwachsene stehen daneben und nicken ihm freundlich zu.
    "Ich bin nicht mehr so oft hier wie früher. Für mich als Pfarrer ist es schwer zu akzeptieren, dass ich nicht jedem helfen kann."
    Pastor Gustavo ist an Armut gewöhnt. Er selbst lebt mit seiner Familie in einem Haus aus zusammengenagelten Brettern und Wellblechplatten im Armenviertel San Luis. Aber die Zustände in Parc Cadeau schockieren auch ihn.
    "Dieser Besuch ist erschütternd. So etwas habe ich nie zuvor gesehen. Ich kann gar nicht hinschauen, dieses Elend, die Kinder ohne Wasser, ohne Nahrung."
    Auf einer schattenlosen Anhöhe neben dem Lager werden die Toten begraben. An einigen kleinen Kreuzen aus Draht hängen tönerne Figuren, die bei Voodoo-Ritualen genutzt werden. Die meisten Haitianer glauben an die heilenden Voodoo-Kräfte ihrer verstorbenen Angehörigen.
    Von dem Hügel aus hat man einen guten Blick Richtung Norden. Dorthin führt eine Staubpiste, auf der ab und zu ein Lastwagen an dem Lager vorbeifährt. Mehrmals am Tag kommen Fahrzeuge der Vereinten Nationen und des Roten Kreuzes vorbei. Doch diese internationalen Organisationen, die seit Jahren in Haiti engagiert sind, fühlen sich offenbar nicht zuständig für das Elend der Menschen im Lager Parc Cadeau, so der Vorwurf der beiden Prediger. Nur manchmal kämen kleine Hilfsorganisationen und brächten ein paar Nahrungsmittel.
    "Ein internationaler Freiwilligendienst hat Mehl gebracht und Kartoffelpulver. Die Leute freuen sich, aber der Hunger macht sie aggressiv. Sie bilden keine ordentlichen Warteschlangen. Doch ohne Ordnung kann es keine gerechte Verteilung geben."
    Einer der wenigen Hilfsarbeiter, die regelmäßig in die Lager kommen, ist Arion Terrill von der US-amerikanischen Organisation Soylent. Er wirkt überfordert angesichts des Elends - als bräuchte er selbst dringend seelsorgerische Unterstützung.
    "Die Kinder hier zeigen Symptome der Unterernährung. Man kann sehen, wie sich die Farbe ihres Haars verändert. Das ist so ein Symptom. Es ist nicht leicht, das mitanzusehen. Aber ich bin zufrieden. Ich bringe den Menschen Nahrungsmittel und helfe mit der Trinkwasseraufbereitung. Das gibt mir große Befriedigung."
    Für Pastor Eliezer sind die Menschen in Parc Cadeau Opfer der Politik. Und das in doppelter Hinsicht: Den haitianischen Behörden wirft er Passivität vor und der Dominikanischen Republik eine brutale Vertreibungspolitik. Er spricht von einem Tal des Todes.