Sonntag, 05. Mai 2024

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Julia Rothenburg: "Mond über Beton"
Viel Welt am Kotti

Der Gebäuderiegel „Neues Zentrum Kreuzberg“ am Kottbusser Tor in Berlin ist ein ikonischer Ort. Wer hier einen Roman ansiedelt, bekommt es in jedem Fall mit bunten Figuren und mit viel Welt zu tun. Julia Rothenburg schlägt so mit ihrem jüngsten Roman "Mond über Beton" einen neuen Weg ein.

Von Miriam Zeh | 04.03.2021
Ein Portrait der Schriftstellerin Julia Rothenburg und das ihres Roman "Mond über Beton"
Die Schriftstellerin Julia Rothenburg und ihr Roman "Mond über Beton" (Cover Frankfurter Verlagsanstalt, Portrait (c) Jutta Rothenburg)
Die eigene Biografie ist für alle Schreibenden eine kraftvolle Inspirationsquelle. Aber sie ist endlich. Die Berliner Autorin und Soziologin Julia Rothenburg hat sich noch nie auf ihre eigene Lebensgeschichte verlassen. Doch für ihren dritten Roman wagt sie sich gleich in sechs andere vor. Zwischen Tourismus, Gentrifizierung und Drogenmilieu erzählt Julia Rothenburg von einer Woche im Leben ihrer sechs fiktiven Figuren am Kottbusser Tor, von ihren Träumen und Ängsten. Es ist ein berüchtigter Schauplatz im Zentrum Berlins, den sich die Autorin damit wählt. Mutluweiß das, er besitzt einen Gemüseladen am Kottbusser Platz. Doch nur Touristen kommen manchmal noch her und kaufen selten:
"Dealer auf der Straße, Dealer am Kotti. Dealer, früher nicht, jetzt nur noch, und Kot und die Kinder auf den Spielplätzen spielen nicht mehr, weil Eltern, alles Yuppies, alles Reiche, und wer räumt denn bitte die Spritzen weg, da kann man doch keine. Mutlu denkt: alles Bilder, alles wie Film."

Gedankenschau am Brennpunkt

Der alleinerziehende Vater Mutlu sieht seine pubertierenden Söhne in die Kriminalität abrutschen und sorgt sich. Bruchstückhaft erzählt Julia Rothenburg auch aus seiner Perspektive. Sie erzählt von Mutlus Sohn Barış, der von einer großen YouTube-Karriere träumt oder von Mutulus Nichte Aylin, die ihn im Haushalt unterstützt, so gut es geht.
Es sind die Unermüdlichen, die Besorgten, die Übersehenen und Kleinganoven, denen Julia Rothenburg sich nähert. Doch nimmt sie den besonderen Blick für Details und für Gedankeninnenschau aus ihren Vorgängerromanen dafür mit an den sozialen Brennpunkt, etwa zu dem obdachlosen Ario:
"Gott, ist ihm schlecht, aber woher, das bisschen verschimmelte Aubergine oder Paprika, das bisschen Selbstgebrannter. Die Junkies kommen nicht rüber. Will er dem Pack auch nicht geraten haben. Die Äste mit den Knospen sind schon so schwer, dass sie beinahe auf die Junkies herabsinken."

Prekär, aber poetisch

In "Mond über Beton" erzählt Julia Rothenburg von prekären Existenzen in poetischem Ton. Diese Ambivalenz wäre durchaus auszuhalten, würde die Autorin sie auch ihren Figuren zugestehen. Doch die bleiben in den meisten Fällen ein schräges Abziehbild ihrer selbst. Die Autorin versucht einerseits ihnen eine authentische Stimme zu geben, belädt sie andererseits aber mit zu viel schriftstellerischem Ausdruckswillen.
So entsteht ein träumerischer Obdachloser Ario, der reimt und doch jede Situation auf ihr Diebstahlpotenzial prüft. Oder die verwahrlosende Witwe Stanca, die in einem Moment feine Unterschiede an gefeilten Fingernägeln festmacht, im nächsten als besorgte Wutbürgerin wettert. Allein in der Perspektive der klugen jungen Frau Aylin, die nach der Schicht im Supermarkt noch Ehrgeiz und Neugierde für ein Studium Generale an der Universität aufbringt, finden Figur und Stimme zusammen:
"Aylin beschleunigte ihre Schritte, viel zu lange hat sie hier rumgestanden. Seit ihrer Kindheit schon kriegt sie den nicht los, diesen sinnlosen Drang, sich an Details aufzuhalten: riesige Schwanenfüße, die auf dem Boden rumwatscheln."
In Bedrängnis sind gleichwohl alle Figuren aus Julia Rothenburgs Panorama rund ums Neue Zentrum Kreuzberg, kurz NZK. Mutlus Sohn kassiert Anzeigen für Diebstahl und Drogenverkauf. Das Jugendamt droht.

Einstürzende Romanbauten

Für die alleinstehende Stanca wird es knapp mit der Miete, vor allem als ein Eigentümerwechsel Sanierungen ankündigt. Deshalb schmieden Marianne und Günther einen Plan:
"Marianne und ich haben gesprochen, sagt Günther, wir haben überlegt, so kann das nicht weitergehen. Findest du nicht auch, dass es so nicht weitergehen kann, Mutlu?, fragt Marianne. Erst gestern stand wieder in der Zeitung, die Zahl der gewaltsamen Auseinandersetzungen habe sich in den letzten Jahren verdreifacht."
Eine Bürgerwehr wird gegründet, die fortan jede Nacht mit Baseballschlägern bewaffnet Jagd macht auf Wohnungslose und Drogenabhängige. Doch die Selbstjustiz läuft aus dem Ruder, woraufhin Rothenburg ihr Romangebäude am Ende eher hilflos als effektvoll in sich zusammenstürzen lässt.

Viel Welt, wenig Form

Die Protestgeschichte des Neuen Zentrum Kreuzberg am Kottbusser Tor wird bloß angedeutet, auch in Abgrenzung zur weit älteren Hausbesetzerszene im selben Viertel. Die Perspektivschnipsel und eingestreuten Zeitungsausschnitte wollen ihr Thema nicht richtig in den Griff bekommen. Die Stimmen bleiben fern.
Dass es ihr an Welthaltigkeit fehle, lautete vor einigen Jahren noch ein Vorwurf an die junge deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Doch in diesem Fall war es schlicht zu viel Welt für zu wenig Form.
Julia Rothenburg: "Mond über Beton"
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt
320 Seiten, 22 Euro