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Flüchtlingsversorgung
Tafeln am Rande ihrer Belastbarkeit

Hartz-IV-Empfänger, Obdachlose, Flüchtlinge: Die bundesweiten Tafeln haben alle Hände voll zu tun, um Menschen mit Lebensmitteln zu versorgen. Mittlerweile stünde man am Rande der Belastbarkeit. Kämen noch mehr Menschen, drohe sogar der "Kollaps", sagte Harald Würges, Leiter der Wetzlarer Tafel, im Deutschlandfunk.

Harald Würges im Gespräch mit Änne Seidel | 11.08.2015
    Ein Korb mit Bananen und Äpfeln
    Harald Würges, Leiter der Wetzlarer Tafel: "Wir können nicht mehr als ein bis zwei Millionen." (Deutschlandradio / Ellen Wilke)
    Änne Seidel: Eigentlich gibt es in Deutschland Lebensmittel im Überfluss. So viel, dass wir jedes Jahr Millionen Tonnen einfach wegschmeißen. Andererseits gibt es in Deutschland immer noch Menschen, die nicht genug zu essen haben. Genau diesen Widerspruch möchten die Tafeln beheben oder zumindest abmildern. Mehr als 900 Tafeln gibt es in Deutschland.
    Sie sammeln Lebensmittel, die nicht mehr gebraucht werden, und geben sie an Bedürftige weiter - umsonst oder zumindest sehr billig. Grundsätzlich gilt: Die Tafeln helfen allen Menschen, die nur wenig Geld haben, und dazu zählen auch immer mehr Flüchtlinge. Über 100.000 von ihnen ernähren sich zurzeit über die Tafeln. Das ist eine Entwicklung, die Harald Würges Sorgen bereitet. Er leitet die Tafel in der Stadt Wetzlar in Hessen.
    Ich habe kurz vor der Sendung mit ihm gesprochen und ihn zunächst mal gefragt, wie viele Flüchtlinge die Tafel in Wetzlar zurzeit unterstützen muss.
    Harald Würges: Wir haben bei uns im Kreis etwa 2000 Flüchtlinge und es sind derzeit bei uns in der Tafel 800 Flüchtlinge, die Lebensmittel abholen. Und das stellt uns schon vor ganz große Herausforderungen, weil natürlich die Lebensmittelmenge nicht mehr wird.
    "Der Warenkorb ist kleiner geworden"
    Seidel: Man hört aber ja eigentlich immer wieder, dass die Spendenbereitschaft in Deutschland, was die vielen Flüchtlinge angeht, sehr hoch ist. Trotzdem kommen da bei Ihnen nicht genug Lebensmittel zusammen, um sie alle zu versorgen?
    Würges: Nun ja, es ist halt so, dass die Tafeln Lebensmittel regelmäßig bekommen von Firmen, von Geschäften, und die Menge, die wir bekommen, hat sich eben nicht erweitert, sondern die Logistik der Geschäfte ist besser geworden. Die Geschäfte, die wir jeden Tag anfahren - das sind bei uns etwa 40 -, da ist der Warenkorb kleiner geworden. Gleichzeitig ist die Anzahl der Menschen gestiegen, die bei uns Lebensmittel abholen.
    Hohes Maß an Solidarität
    Seidel: Wenn jetzt offenbar nicht mehr genug Lebensmittel für all Ihre Kunden da sind, wie reagieren denn die Bedürftigen selbst auf das knapper werdende Angebot? Sind sie überhaupt noch bereit, mit den Flüchtlingen zu teilen?
    Würges: Wir machen immer dann, wenn mehr Leute dazukommen, oder es gibt solche Wellen, so tiefe Täler, wo es mal weniger Lebensmittel gibt, dann fragen wir unsere Kunden, was sollen wir machen: Eine Wartezeit einrichten, sollen wir Leute, die schon lange Lebensmittel bekommen, mal rausnehmen, oder wollt ihr teilen.
    Bisher haben immer über drei Viertel der Kunden der Tafel gesagt, nein, hört auf mit Wartelisten, wir wollen teilen, die anderen gehören zu uns. Das haben wir auch dadurch versucht abzufedern, indem wir selbst Flüchtlinge mit in das Team der Menschen genommen haben, die Lebensmittel ausgeben.
    Das ist ganz hilfreich. Sie lernen Deutsch und auf der anderen Seite sind sie die besten Vermittler für ihre Sachen. Wenn sie von ihren Fluchtgeschichten erzählen, wenn sie merken, dass sie auch aufgenommen werden, dann passiert da auch etwas von Integration, was wir auch gerne befördern wollen.
    "Es gibt eine Grenze"
    Seidel: Haben Sie Angst, dass das nicht so bleiben könnte, dass die Solidarität irgendwann vielleicht abnehmen könnte?
    Würges: Na ja, es gibt eine Grenze. Wir haben die 2000 Flüchtlinge im Lahn-Dill-Kreis und wir haben aber jetzt fast 800 Flüchtlinge in einer Notaufnahmeeinrichtung bekommen. Die sollten eigentlich nur ein bis zwei Tage bleiben und dann wieder weitervermittelt werden. Die sind jetzt fünf Wochen in Wetzlar. Da können wir nicht mehr mit. Wenn die alle zur Tafel kämen, dann würde das Tafelsystem gesprengt. Das würde die Tafel zum Kollaps bringen bei uns.
    Seidel: Sie haben ja sicherlich auch Kontakt zu anderen Tafeln in Deutschland. Haben die ähnliche Probleme und Sorgen wie Sie?
    Würges: Ja! Ich weiß von Frankfurt, ich weiß von Gießen, dass überall die Fragen sind, was machen wir denn. Wir haben dann auch Seminare gemacht, wo wir gesagt haben, was können wir tun, und da gibt es so viele verschiedene Lösungen wie es Tafeln gibt.
    Es gibt Tafeln, die bringen Lebensmittel zu den Erstaufnahmeeinrichtungen oder zu großen Einrichtungen, wo Flüchtlinge wohnen, weil sie sagen, wenn mehr zu uns in die Ausgabe kommen, dann sprengt das den gesamten Rahmen.
    Andererseits ist uns das auch wichtig. Die Tafeln, die jetzt bundesweit tätig sind, erreichen insgesamt ja ein bis zwei Millionen Menschen. Alleine wenn man Hartz-IV-Leute nimmt, die wenig zum Leben haben, sind das über zehn Millionen Menschen. Das heißt, hier ist ein Rand geschaffen, über den die Tafel auch nicht hinauskommt und wo sie auch nicht versuchen sollte zu sagen, wir schaffen das alles.
    Ganz im Gegenteil! Ich denke, wir als Tafeln müssen Politik sehr deutlich auffordern, nicht die Menschen zu uns zu schicken, sondern eher dafür zu sorgen, dass die Menschen genügend haben, um sich selbst versorgen zu können.
    Seidel: Haben Sie den Eindruck, dass die Politik, die Behörden ihre Aufgaben auf die Tafeln abwälzen?
    Würges: Ja, wir haben schon immer wieder Leute, die sagen, das Sozialamt hat uns gesagt, geht zur Tafel, wir brauchen noch 14 Tage, bis ihr Geld bekommt. Das ist natürlich ein Unding, wenn die Tafeln sozusagen als Mittler für fehlende Leistungen oder noch nicht auszuzahlende Leistungen benutzt werden.
    Ich habe es eben gesagt: Wir können nicht mehr als ein bis zwei Millionen. Dann sind wir dran an der Grenze und das wird dann schon kritisch. Stellen Sie sich vor: Wenn wir mehr Flüchtlinge versorgen und die Akzeptanz der deutschen Tafel-Kunden bleibt nicht, dann haben wir ein Problem, was Flüchtlinge und Deutsche angeht, auf einer ganz anderen Ebene.
    "Wir wollen nicht die Grundsicherung übernehmen"
    Seidel: Das Argument, das Sie gerade gebracht haben, gilt aber ja eigentlich auch für die anderen Kunden der Tafeln, für die Hartz-IV-Empfänger zum Beispiel, denn Hartz IV ist ja als Grundsicherung gedacht und da ist es eigentlich auch nicht Aufgabe der Tafeln, dafür zu sorgen, dass Hartz-IV-Empfänger genug zu essen haben. Was ist da jetzt der Unterschied zu den Flüchtlingen?
    Würges: Sie haben ganz recht. Ich denke, hier sind gewährte Leistungen abgemildert worden mit dem Ziel, dass man sich selbst darum kümmern muss bei der Tafel. Das ist nicht in Ordnung. Die Tafeln können nicht dazu verwandt werden, diese Grundsicherung einzulösen.
    Die Tafeln haben immer gesagt, wir wollen zusätzlich Lebensmittel geben, die übrig sind für bedürftige Menschen, aber wir wollen nicht eine Grundsicherung übernehmen. Und wenn das weiter in diese Richtung läuft, dann läuft es verkehrt und falsch. Die Menschen müssen ihr Ein- und Auskommen haben und wenn wir dann weiterhelfen können, dann ist auch der Sinn der Tafel erreicht, aber nicht so, wenn es darum geht, die Grundsicherung mit zu übernehmen. Das ist ein falscher Weg.
    Seidel: ... sagt Harald Würges, Diakon und Leiter der Tafel der Stadt Wetzlar, die genau wie viele andere Tafeln zurzeit sehr viele Flüchtlinge unterstützt. Der Bundesverband der deutschen Tafeln schätzt übrigens, dass die Zahl der Flüchtlinge, die sich an die Tafeln wenden, bis zum Jahresende auf 150.000 ansteigen wird. Jeder zehnte bedürftige Tafel-Kunde wäre dann ein Flüchtling. Herr Würges, herzlichen Dank für das Gespräch.
    Würges: Ich danke auch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.