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Gefahren der Flucht
Europaführer für Flüchtlinge

Auf ihre Reise nach Europa vertrauen sich viele Flüchtlinge Schleppern an, die ihnen ein unrealistisches Bild vermitteln. Die Fotoagentur Magnum und der Arabische Fonds für Kunst und Kultur (AFAC) haben deshalb einen "Europaführer für Migranten und Flüchtlinge" herausgegeben. Dabei treffen harte Fakten auf persönliche Erfahrungsberichte.

Von Oliver Kranz | 03.01.2017
    Mitglieder der Maltesischen NGO-Organisation MOAS helfen am 3.11.2016 Flüchtlingen an Bord eines kleinen Rettungsbootes während einer gemeinsamen Rettungsaktion mit dem Italienischen Roten Kreuz vor der Küste Libyens.
    Gerettete Bootsflüchtlinge vor der libyschen Küste. (AFP / Andreas Solaro)
    "Wir sind eine Stiftung, die schon zehn Jahre tätig ist in den arabischen Ländern. Natürlich nach diesen riesigen Themen von Migration in Europa haben wir uns gesagt: wir können nicht einfach dasitzen und gucken", sagt Oussama Rifahi, der Vorsitzende des AFAC. Die Stiftung ist unabhängig und hat ihren Sitz in Beirut. Normalerweise fördert sie arabische Kunstprojekte.
    Der Europaführer ist etwas anderes. Einerseits liefert er praktische Informationen über das politische System, Einkaufsmöglichkeiten und Essgewohnheiten in zehn europäischen Ländern, andererseits beschreibt er Traditionen und Wertvorstellungen, die für den ganzen Kontinent gelten. Was ist gemeint, wenn Europäer über Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit sprechen? Was bedeuten sexuelle Selbstbestimmung und Religionsfreiheit? Welche Rechte haben Arbeitnehmer?
    Schwieriger Start in Europa
    Zu allererst wird jedoch beschrieben, wie schwierig es für Flüchtlinge ist, nach Europa zu kommen. Landkarten zeigen mögliche Routen, kurze Texte klären über die rechtliche Situation auf. Dazu kommen Erfahrungsberichte von Menschen, die es geschafft haben. Gibril Nja aus Gambia setzte vor zwei Jahren in einem überfüllten Boot von Marokko nach Teneriffa über.
    "Es waren 42 Menschen an Bord und der Motor hatte nur 40 PS. Wir waren vier Tage unterwegs und viele wurden seekrank. Auf einmal bekamen die Menschen Angst. Sie forderten den Kapitän auf umzukehren. Aber der sagte nur: "Wenn ihr zurück wollt, müsst ihr schwimmen", und fuhr einfach weiter…"
    Die Fahrt endete glücklich. Gibril durfte auf Teneriffa bleiben und arbeitet heute als Tischler. Andere Flüchtlinge hatten weniger Glück. Manche haben bei der Überfahrt Angehörige verloren, andere sitzen seit Monaten im Asylbewerberheim fest. Eine Frau aus dem Iran wurde im Heim vergewaltigt.
    "Das Gebäude soll früher ein Gefängnis gewesen sein. Der Raum, in dem ich untergebracht war, hatte kein Fenster und schalldichte Wände. Niemand konnte mich schreien hören…"
    Der Bericht ist erschütternd. Doch es gibt auch Flüchtlinge, die über die Hilfsbereitschaft der Europäer berichten, über die guten Universitäten und die Möglichkeit, sich eine berufliche Existenz aufzubauen.
    Oussama Rifahi: "Das Ziel von diesem Buch ist, dass man entdeckt, es gibt kein Schwarz und kein Weiß, dass man ein bisschen mehr über den anderen erfährt durch diese Bilder, durch diese Geschichten und so was."
    Gerade die Mischung macht das Buch interessant. Da treffen harte Fakten auf persönliche Erfahrungsberichte, Statistiken auf Fotos, die individuelle Freude oder individuelles Leid zeigen. Obwohl das Buch für Flüchtlinge geschrieben wurde, ist es auch für Europäer interessant – zum einen, weil man viel über die Menschen erfahren kann, die zu uns kommen, zum anderen, weil europäische Werte, Gesetze und politische Strukturen so übersichtlich erklärt werden, dass man Zusammenhänge verstehen kann, die in der täglichen Nachrichtenflut oft untergehen.
    Geschichte der Flüchtlingswellen
    Das Buch beschreibt auch die Flüchtlingswellen, die es im vorigen Jahrhundert in Europa gegeben hat. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden 12 Millionen Deutsche aus den ehemaligen Ostgebieten vertrieben, nach dem Jugoslawienkrieg waren zweieinhalb Millionen Menschen auf der Flucht. Es ist verblüffend, wie sehr die Fotos von damals den heutigen ähneln. Und das gilt auch für die Erfahrungsberichte, sagt Oussama Rifahi.
    "Man merkt, dass schon immer die gleichen Probleme da sind: wie sollte man seine eigene Kultur mit der Kultur des Wilkommenslandes zusammenbringen? Was Positives daran war immer: in den meisten persönlichen Geschichten war eine Note von Optimismus."
    Und Optimismus wird auch bei der Bewältigung des heutigen Flüchtlingsandrangs gebraucht – auf allen Seiten. Im Buch kommen Migranten zu Wort, die sich gut in die Gesellschaft ihrer Gastländer integriert haben. Und das kann Mut machen.
    Der "Europaführer für Migranten und Flüchtlinge" ist in vier Sprachen geschrieben: Englisch, Französisch, Arabisch und Farsi. Eine Übersetzung ins Deutsche ist angedacht. Man kann ihn hier kostenlos downloaden.