Freitag, 29. März 2024

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Gerhard Henschel: "Arbeiterroman"
Aus dem Leben eines Hungerkünstlers

"Arbeiterroman" ist der siebte Band der "Martin-Schlosser-Chronik", in dem der 1962 geborene Satiriker Gerhard Henschel das Leben seines Alter Egos in den 80ern beschreibt - witzig, manchmal böse, unterhaltsam und voller Einfälle. Ein Pageturner ersten Ranges.

Von Gerd Busse | 03.03.2017
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    Der Autor Gerhard Henschel (dpa/ picture-alliance/ Uwe Zucchi)
    "Martin Schlosser, 25, Studienabbrecher, Möchtegernschriftsteller, wohnhaft in Oldenburg […]. Niemand kennt ihn. Zur Zeit muß er seinen Unterhalt noch als Hilfskraft in der Spedition Rhenus verdienen, doch er schreibt an seinem ersten Buch, schon seit anderthalb Jahren."
    So beginnt er, der nunmehr siebte Band der sogenannten "Martin-Schlosser-Chronik" mit dem Titel Arbeiterroman. Martin Schlosser, die Hauptfigur des inzwischen auf gut 3.500 Seiten angewachsenen Romanwerks, ist das Alter Ego des Satirikers Gerhard Henschel, wie dieser 1962 geboren und in der tiefsten norddeutschen Provinz aufgewachsen, im emsländischen Meppen, der, wie es im Arbeiterroman heißt, "Stadt der Verdammten". In seinem ebenso großen wie großartigen Romanprojekt zeichnet der Autor das Leben dieses liebenswerten Schwadroneurs und Lebenskünstlers vom Tag seiner Bewusstwerdung an nach. In kurzen Episoden, kaum einmal länger als eine halbe Seite, und in einer kunstvoll dem jeweiligen Zeitgeist angelehnten Alltags- und Jugendsprache nimmt Henschel den Leser mit auf die Reise durch sein Leben. Er lässt ihn durch die Augen Martin Schlossers an seinen Lesefrüchten teilhaben, rekapituliert aktuelle politische Ereignisse, sieht fern oder geht ins Kino, hört Musik und zitiert die Werbeslogans jener Jahre – "Darauf einen Dujardin!"
    Im "Arbeiterroman" schreiben wir inzwischen das Jahr 1988. Martin Schlosser lebt mit seiner entzückenden Freundin Andrea – einer, wie sie von sich selbst sagt, "Öko-Tussi" mit einem Faible für Bachblüten, Bauchtanz und Astrologie – in Oldenburg und schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch. Sein Ziel ist es, Schriftsteller zu werden, seine Vorbilder keine geringeren als Robert Gernhardt, Eckhart Henscheid, Arno Schmidt und Walter Kempowski.
    Doch die Geschäfte des angehenden Bestsellerautors laufen schlecht – hin und wieder eine Rezension für die Oldenburger Stadtzeitung "Diabolo" oder eine Glosse für das Satiremagazin "Kowalski" –, bis Martin Schlosser mit dem Essayisten Michael Rutschky in Kontakt kommt, der ihn fortan unter seine Fittiche nimmt und mit launigen Briefen zum Schreiben für seine Zeitschrift "Der Alltag" antreibt. Die Familie, und insbesondere "Papa", ist dagegen nicht so überzeugt, dass aus dem Jungen noch mal was wird.
    Mit der Familie bestens vertraut
    Überhaupt: die Familie! Es ist vom ersten Romanband an ein einziges Kommen und Gehen oder, in den Worten des Berufsgriesgrams Papa Schlosser, ein "Herumzigeunern". Ständig ist jemand aus der Verwandtschaft zu Besuch, oder man ist selbst unterwegs: Zum großen Vettern- und Cousinentreffen in Dortmund oder zum jährlichen Familienfest der Sippe in Hildesheim – zwanglose Zusammenkünfte, auf denen dann etwa "Onkel Walter" ein Video seiner Knieoperation vorführt.
    Als Leser der Martin-Schlosser-Chronik ist man bereits nach wenigen Seiten so etwas wie ein angeheirateter Vetter und mit den Freuden und Nöten jedes Familienmitglieds bestens vertraut. So wartet man förmlich darauf, dass Mama Schlosser bei der Zubereitung des Mittagessens wieder einmal zum Fix-Soßenbinder greift und Papa damit zur Weißglut treibt oder "Oma Jever" von ihrem Enkel Martin im Malefiz geschlagen wird.
    "'Du könntest mal 'n neues Strategem gebrauchen', sagte ich. 'Deine Taktik ist veraltet!'
    Mit ihren Figuren wetzte Oma immer blindlings drauflos, ohne nach links und rechts zu kucken, und dann rannte sie sich in den Palisaden fest, die ich ihr vorsetzte."
    Solche Running Gags – und dazu gehört auch etwa der Zigarettenautomat vor dem Elternhaus in Meppen, der das Geld schluckt, ohne die Ware auszuspucken, und dann minutenlang von der fluchenden Kundschaft malträtiert wird – finden sich zuhauf und sorgen für zusätzliche Leserbindung.
    Vergnügen bereiten auch die vielen Kommentare und Bemerkungen Martin Schlossers über die kleinen wie die großen Dinge des Lebens, oft schnoddrig, aber immer treffend. So heißt es etwa, nachdem er einen Friedhofsgärtner beim Ausheben eines Grabs beobachtet: "Totengräber – auch kein sehr schöner Beruf. Wenn auch schöner als Henker."
    Doch richtig in Fahrt kommt er erst, wenn er auf seine Intimfeinde zu sprechen kommt: Helmut Kohl etwa oder den Liedermacher Wolf Biermann.
    "In der Fernsehshow ‚Wetten, daß …?‘ traten zwei Stenze auf, die Sektmarken am Korkenknall erkennen konnten, und dann stimmte der Liedermacher Wolf Biermann mit pseudorussophilem Timbre ein Chanson über die Perestroika an:
    Mein lieber Gorbi,
    det macht mir Sorgi
    Nix is mit Freiheit ohne Futter
    Ick will in keen Paradies rinn
    De Welt soll bloß nich so mies sinn
    Ick will bloß Wahrheit, Brot und Tomaten
    Prost! uff de Liebe und den Sonntagsbraten …
    […] 'Gorbi/Sorgi' – mit diesem Reim setzte Biermann auch literaturgeschichtlich neue Maßstäbe. Da kam außer ihm selbst wirklich keiner mehr mit.
    Einmal abgesehen von den ewigen Geldsorgen – manchmal reicht es nicht einmal zu einer neuen Zahnbürste – ist das Leben für den Hungerkünstler und seine Freundin süß und unbeschwert. So lässt es jedenfalls ein Tagebucheintrag Martin Schlossers vermuten: "Sa., 31.12.88: Zehn Uhr hoch. Prüttjern, Einkaufen, Vögeln." Doch es gibt auch Verpflichtungen: Um die leicht esoterisch angehauchte Andrea bei Laune zu halten, begleitet er sie etwa zu einem "Chakrenmaler":
    "Der Chakren-Fidi war dick wie ein Pottwal, und während er mit seinen Buntstiften auf dem Papier herumwischte, nahm er zwischendurch Riesenschlucke aus einer Zweiliterflasche Cola.
    Bei Andrea, sagte er nach getaner Tat, sei 'alles offen'. Anders als bei mir: 'Dein Kronenchakra ist völlig verstopft!' Was man an der schwarzen Wolke erkennen konnte, die er dort hingemalt hatte. 'Bist du gläubig?'
    'Nein.'
    'Das merkt man', sagte er. 'Du bist mehr so ’n verkopfter Typ, kann das sein? Dir fehlt da was. Und das ist auch ein Thema zwischen dir und deiner Freundin. Sag ich jetzt mal so. Spirituell ist die weiter als du.'"
    Da die betagte Oma in Jever zusehends hinfälliger wird, beschließen Martin Schlosser und seine Freundin, in ihre Nähe zu ziehen. Martin, der noch immer nicht vom Schreiben leben kann, nimmt dort einen Aushilfsjob im Bier- und Tanzlokal "Na Nu" an.
    "Gut, daß Oma nicht ahnte, in was für einer Kaschemme ich meine Brötchen verdiente. Oder Papa! Hatte seinem Sohn ein Studium finanziert, und der verdingte sich in einem Bumslokal mit einer Stammkundschaft aus polizeibekannten Schlägertypen."
    Ein Pageturner ersten Ranges
    Der "Arbeiterroman" ist, wie die Vorgängerbände auch schon, ein Pageturner ersten Ranges: witzig, manchmal böse, unterhaltsam, voller Einfälle und treffender Oneliner – ein Buch, das man kaum aus der Hand legen mag und mit dem man sich köstlich amüsiert. Doch Gerhard Henschel kann mehr als nur Satire – das zeigen etwa die Episoden, in denen er den Selbstmord des Vetters Gustav oder den Tod seiner Mutter beschreibt. Dem Autor gelingt es, solche tragischen Wechselfälle des Lebens in den breiten Erzählstrom einfließen zu lassen, ohne diesen dadurch auch nur für einen Moment ins Stocken zu bringen. Er schildert sie mit derselben selbstironischen Distanz, mit der er sich auch seiner Hauptfigur nähert, schnörkellos und ohne Larmoyanz.
    Die Martin-Schlosser-Chronik ist vieles zugleich: ein autobiographischer Schelmenroman, ein Familien- und Gesellschaftsroman und, vor allem, ein mitreißender Bildungsroman. Nirgendwo werden die Befindlichkeiten der um 1960 herum Geborenen so auf den Punkt gebracht wie hier. Leser, die, wie der Rezensent, ebenfalls dieser Generation angehören, fallen bei der Lektüre des Romans von einem Déjà-vu-Erlebnis ins nächste – und für die, die der Gnade der rechtzeitigen Geburt nicht teilhaftig wurden, ist die Lektüre ein großer Spaß. Versprochen!
    Gerhard Henschel: "Arbeiterroman"
    Hamburg, Hoffmann und Campe, 2017, 576 Seiten, 25,00 Euro.