"Lasst uns gemeinsam mit den Chören der Engel singen
Lasst uns die dreifach heilige Hymne an die Dreifaltigkeit anstimmen.
Lasst uns alle weltlichen Sorgen abstreifen,
so dass wir bereit sind, den höchsten König zu empfangen."
Lasst uns die dreifach heilige Hymne an die Dreifaltigkeit anstimmen.
Lasst uns alle weltlichen Sorgen abstreifen,
so dass wir bereit sind, den höchsten König zu empfangen."
Inbrünstig lauschten die Gesandten des Kiewer Großfürsten Wladimir d im Jahr 988 dem weihnachtlichen Mönchsgesang in der Kathedrale Hagia Sophia in Byzanz. Ihr Herrscher, so erzählt die Legende, hatte sie mit dem Befehl auf die Reise geschickt, herauszufinden, welche Religion die richtige für das große russische Reich sei.
Vorher hatten sie sich bereits im christlichen Abendland, bei Juden und Muslimen kundig gemacht. Nichts aber beeindruckte sie so sehr wie der Gottesdienst in der byzantinischen Kathedrale.
"Wir wussten nicht, waren wir im Himmel oder auf der Erde. Denn auf der Erde gibt es einen solchen Anblick nicht oder eine solche Schönheit. Wir vermögen es nicht zu beschreiben. Nur das wissen wir, dass Gott dort bei den Menschen weilt."
Goldglänzende Ikonen im flackernden Kerzenlicht, Weihrauchduft und geheimnisvoll gemurmelte Gebete – die weitgereisten Gesandten empfanden den byzantinischen Gottesdienst als Fest der Sinne. Im feierlichen Gesang von Priester und Chor, so berichteten sie ihrem Herrscher, hätten sie den Klang himmlischer Engelschöre, von Cherubim und Seraphim, erkannt. Wladimir der Heilige war vom Bericht seiner Untertanen beeindruckt, ließ sich taufen und errichtete orthodoxe Kirchen und Klöster im gesamten Kiewer Reich.
Auch der englische Schriftsteller und Weltenbummler Patrick Leigh Fermor fühlte sich fast eintausend Jahre später verzaubert, als er 1932 ein Kloster auf dem Berg Athos besuchte.
"Die Kirche war typisch byzantinisch, mit einem üppig verzierten goldenen Altaraufsatz, die Wände mit Fresken übersät, jede Figur mit vergoldetem Heiligenschein, der in der verblassenden Farbe und dem Stuck leuchtete. Kerzen ließen im Halbdunkel das Gold und Silber der Ikonen schimmern, vor denen die Mönche sich beim Betreten der Kirche verneigten, sich bekreuzigten und sie küssten. Es war Vesper, und ich lehnte in meiner geschnitzten Nische, zwischen den schwarz- und weißbärtigen, schleiertragenden Mönchen, alle mit den Ellenbogen in die schulterhohen Lehnen ihrer Miserikordien gehakt. Die Messe wurde komplett gesungen, mächtige, mystische Klänge, durchbrochen vom Klappern der Weihrauchgefäße, deren Rauch sich im Licht der bunten, schon schwindenden Sonnenstrahlen kräuselte. Hundert kleine ewige Lichtlein hingen von den kaum auszumachenden Gewölben über uns, dazu große, vielfach verzierte Kandelaber."
"Wenn man eine orthodoxe Kirche betritt, sogar wenn sie leer ist, und dort ein bisschen ruht, paar Minuten: schon vergisst man den Alltag. Das liegt an allem, an diesem Gold, an diesen Ikonen. Das ist einfach andere Welt. Das ist die Wandlung. Nicht die liturgische Wandlung, das ist die menschliche Wandlung, sobald man diesen sakralen Raum betritt."
"Wenn man eine orthodoxe Kirche betritt, sogar wenn sie leer ist, und dort ein bisschen ruht, paar Minuten: schon vergisst man den Alltag. Das liegt an allem, an diesem Gold, an diesen Ikonen. Das ist einfach andere Welt. Das ist die Wandlung. Nicht die liturgische Wandlung, das ist die menschliche Wandlung, sobald man diesen sakralen Raum betritt."
Die Liedforscherin Oxana Khan stammt aus Moskau, lebt in Deutschland und singt seit langem in einem orthodoxen Chor.
"SINGT – 'Gottes Gnade schütze mich, solange ich auf dich hoffe!'
Du befindest dich in einer anderen Dimension. Und was du da erlebst, wenn du spontan wolltest etwas sagen: du kannst nur singen, du kannst nicht reden. Ist das ein Wunder, ist das eine Tradition? Schwer zu sagen. Aber ich kann nicht sagen: das ist die Musik der orthodoxen Kirche und das ist das Gebet. Das ist untrennbar. Das ist ein Körper."
Du befindest dich in einer anderen Dimension. Und was du da erlebst, wenn du spontan wolltest etwas sagen: du kannst nur singen, du kannst nicht reden. Ist das ein Wunder, ist das eine Tradition? Schwer zu sagen. Aber ich kann nicht sagen: das ist die Musik der orthodoxen Kirche und das ist das Gebet. Das ist untrennbar. Das ist ein Körper."
Der Gesang dient nicht der Ausschmückung des Gottesdienstes, sondern ist wesentlicher Bestandteil. Belehrende, moralisierende oder didaktische Kirchenlieder wie im westlichen Christentum kennt die orthodoxe Tradition nicht. Die Hymnen dienen einzig und allein der Anbetung Gottes und preisen die Schönheit seiner Schöpfung. Der Theologe Nikolaj Thon:
"Der gesamte orthodoxe Gottesdienst geht aus von einer antiken Losung, nämlich, das Wahre ist auch das Schöne und das Schöne ist das Wahre. Das ist eine Idee der antiken Philosophie, und der orthodoxe Gottesdienst versucht eben, die Wahrheit des Glaubens, die Schönheit des Glaubens, die Schönheit der Liebe Gottes zu den Menschen und die Antwort der Menschen in einer möglichst ästhetischen Form darzubringen. Da soll also möglichst der Raum, die Bilder, Ikonen, die Poetik der Texte und auch die musikalische Umsetzung dazu dienen, dem Menschen einen Ausdruck der Schönheit zu vermitteln und letztlich auch einen Blick auf den Himmel."
"Jede Melodie ist fest mit einem Text verbunden. Das bedeutet: man lernt alles auswendig indem man das ständig wiederholt. d.h. erscheint im Gedächtnis der Text und sofort beginnst du zu singen, weil das ist fest verbunden. Es gibt nichts, was mit normaler Stimme vorgetragen wird; deswegen von Anfang an: wenn du beginnst zu beten, du beginnst zu singen. Wenn man sogar stumm betet, erklingt sofort diese Melodie."
In der Tradition der alten russischen Kirche war der Gesang immer einstimmig.
Die Hymne soll dem Gläubigen ermöglichen, sich zu konzentrieren, zu versenken, die Worte des Gebets zu fühlen. Künstlerischer Ausdruck oder musikalische Gestaltung sind nicht erwünscht.
"Das ist eine feste Linie, die steht. Die Stimme muss ruhig und konstant bleiben, ohne Ausschweifungen, ohne weltliche Dynamik. Es gibt keine Möglichkeit für persönlichen Ausdruck. Man singt nicht als Persönlichkeit. Als Kirchensänger du bist wie ein Maurer, der einer Reihe Backsteine nach der anderen legt und damit auf die anderen achtet. Und dann entsteht diese Wand, diese Architektur."
Der orthodoxe Gottesdienst verzichtet auf Musikinstrumente. Schon früh jedoch wurde der orthodoxe Gesang von der weltlichen Musik beeinflusst. Ein byzantinischer Kirchenfürst kritisierte im 3. Jahrhundert, dass die Sänger zu viele Verzierungen benutzten und mit ihren lauten Stimmen die Andacht der Gläubigen störten.
"Wir wünschen, dass jene, die in der Kirche die Aufgabe des Singens übernommen haben, weder ungeordnet schreien noch ihre Hymnen laut herausbrüllen oder sonst etwas unternehmen, das sich in der Kirche nicht geziemt."
In der römisch-katholischen Kirche war Latein über viele Jahrhunderte die universale Sprache der Liturgie; darüber hinaus boten die den gregorianischen Hymnen ein gemeinsames Repertoire von Melodien. Anders in den orthodoxen Kirchen: der Gottesdienst wird in der Landessprache zelebriert. Zwar stimmen die Texte von Gebeten und Hymnen inhaltlich überein, aber die Melodik des Gesangs ist von musikalischen Traditionen des jeweiligen Landes geprägt.
"Besonders in der russisch-orthodoxen Kirche gab es seit der Barockzeit auch Einflüsse aus der westlichen Kunstmusik. Kiew gehörte damals zum polnischen Königreich. Man begann, sich am Vorbild italienischer Komponisten der Zeit zu orientieren. Ukrainische Kirchenmusiker brachten den neuen Stil nach Moskau. Der alte Choralgesang wurde ersetzt durch mehrstimmigen Gesang: üppige Harmonien, musikalische Kontraste in Lautstärke und Tempo, melodische Verzierungen."
"Das, was heute als russische Kirchenmusik weitgehend gilt, ist ja keine. Das ist importierter deutscher oder italienischer Stil. Italienisch im 18., deutscher Stil im 19. Jahrhundert. Das geht bin ins 20. Jahrhundert. Auch Rachmaninow, das ist keine traditionelle russische Kirchenmusik. Das ist zwar vielleicht der Versuch, ein bisschen wieder zurück zu kommen, aber nur minimal."
Die hierzulande beliebten stimmgewaltigen, inbrünstigen Männerchöre aus Russland haben sich erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts etabliert und bedienen vor allem das verbreitete Klischee von der "tiefen russischen Seele".
"Was bis ins Extrem interpretiert worden ist vom sagenhaften, sagenumwobenen Don Kosaken Chor unter Leitung von Sergej Jaroff. Jaroff hat das mit den Falsettstimmen und den übertriebenen Bässen.... und wenn Sie da einmal die Melodien, die er gewählt hat, dann aber auch die Interpretation – das hat natürlich mit gottesdienstlicher Musik nichts mehr zu tun."
"Es gab ja dann eine Zeit lang, wo man in keiner Stadt in Deutschland herumgehen konnte, ohne Plakate zu sehen, dass nun der Original Hintertupfinger Kosakenchor, das heißt dann Kosakenheere, die es nie gegeben hat, westsibirischer Kosakenchor oder so was auftrat."
Ganz anders entwickelten sich die Gesangstraditionen in den orthodoxen Kirchen des Orients.
"Ich werde meinen Mund öffnen und werde beseelt sein vom Heiligen Geist
Ich werde eine Hymne für die Gottesmutter singen
Und werde sie lobpreisen und voller Freude von ihren Wundern berichten!
O, Allerheiligste Muttergottes, rette uns."
Ich werde eine Hymne für die Gottesmutter singen
Und werde sie lobpreisen und voller Freude von ihren Wundern berichten!
O, Allerheiligste Muttergottes, rette uns."
Der 90-jährige Kantor Maximos Fahmé mit einer Ode aus dem mittelalterlichen Hymnos Akáthistos, gesungen in arabischer Sprache. Fahmé wurde 1924 in einer syrisch-orthodoxen Familie in Aleppo geboren. Die Eltern schickten den erst 12-jährigen zur theologischen und musikalischen Ausbildung nach Jerusalem. Seit fast fünfzig Jahren lebt Fahmé in Paris, wo er regelmäßig in der Kirche St. Julien-le-Pauvre die Liturgie singt – auf Griechisch oder Arabisch.
Der Hymnos Akáthistos gilt als der älteste Marien-Hymnus des Christentums. Maximos Fahmés Gesangsstil ist geprägt von der syrischen Tradition: Anklänge an die arabische Vokalkunst mit ihrer Liebe für melodische Verzierungen und Vierteltöne sind unüberhörbar.Zur Geschichte des Hymnos Akáthistos erzählt man folgende etwas pathetische Legende: als Byzanz, die Hauptstadt des Oströmischen Reiches, im Jahre 626 von persischen Truppen belagert wurde und dem Untergang geweiht schien, beorderte der Patriarch die gesamte Armee und alle Einwohner auf die Stadtmauern. Dort stimmte man gemeinsam den Hymnos auf die Gottesmutter an; bald darauf begannen die Angreifer den Sturm auf die Stadt – doch in diesem Moment erschien am Himmel eine riesige Marienerscheinung, die mit erhobenem Arm den Ansturm der Feinde aufhielt. Hals über Kopf flüchteten die persischen Truppen – die Stadt war gerettet.
Fast alle orthodoxe Gesangstraditionen kennen die musikalische Technik des "Ison" eines tiefen Grundtons; während der Solist die Hymne intoniert, summt eine Gruppe von Mönchen einen immer gleichbleibenden, tiefen Ton.
"Der Ison wurde nie notiert, er war Teil der mündlichen Überlieferung. Aber es gibt schriftliche Belege, die beweisen, dass man schon im frühen Christentum den Ison sang; große Theologen des 4. Jahrhunderts, St. Basilius der Große und Johannes Chrysostomos schrieben: im Gottesdienst singt der Kantor. Die Gemeinde aber – im griechischen heißt sie 'epichundes' – sie unterstützt die Melodie von unten, und hält einen Grundton."
Nikola Popmihailov aus Belgrad gilt als profunder Kenner der byzantinischen Gesangstradition. Er studierte am Institut für orthodoxe Kirchenmusik in Athen und leitet einen der besten serbischen Chöre. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Erforschung und musikalische Rekonstruktion mittelalterlicher Hymnen der serbisch-orthodoxen Tradition.
"Eine Reihe musikalischer Handschriften des Mittelalters ist erhalten geblieben. Stücke, die in den Klöstern gesungen wurden und die man von Jahrhundert zu Jahrhundert weitergab, die immer wieder abgeschrieben wurden. Denn diese Hymnen waren im Gottesdienst durchgehend in Gebrauch."
Eine Besonderheit der serbischen Tradition stellen die "Kratima" dar – textlose Gesänge, die der Chor auf Silben ohne weitere Bedeutung singt. Der Ursprung dieser meditativen Musik reicht ins 15. Jahrhundert zurück. Damals entstand in den Klöstern am Berg Athos eine spirituelle Bewegung, die die Stille und intime Versenkung im Gebet und Gesang anstrebte.
"Wir singen Wörter wie 'tererem', 'a-ne-na' oder 'to to to' und ähnliches. (...) Das sind Silben ohne Inhalt, sie dienten dazu, den Mönchen das innere Gebet zu erleichtern. Diese Kompositionen waren oft sehr lang. In den Klöstern auf dem Berg Athos gibt es manchmal Gottesdienste, die um 5 Uhr abends beginnen und bis 9 Uhr am nächsten Morgen dauern. Sie singen die ganze Nacht durch. Und dafür erfand man viele sehr ausgearbeitete Melodien, die man so lang wie möglich ausdehnte."
Während der Vatikan Jahrhunderte lang bemüht war, in der katholischen Kirche ein einheitliches Repertoire an geistlichen Melodien festzulegen, entwickelte sich im orthodoxen Raum eine riesige Vielfalt von Gesangsformen und Stilen; an Weihnachten etwa ziehen georgische Männer mit lautstarkem, herbem Gesang von Haus zu Haus, um die frohe Botschaft von Christi Geburt zu verkünden.
"Ich wüsste eigentlich nur eine orthodoxe Musikform, die noch ganz, ganz traditionell ist und deshalb für alle ganz fremd klingt, selbst für die Anhänger der byzantinischen Musik. Das sind die Georgier. Wenn Sie einen georgischen Gesang hören, das hat wirklich schon noch etwas Urwüchsiges, Wildes, Kaukasisches."
An die "Stimme von Engeln" erinnert viel eher der Marienhymnus "Agni Parthene" auf einen Text des Heiligen Nektarios von Ägina. Die Musik dazu komponierte ein Mönch auf dem Berg Athos vor einigen Jahrzehnten. Heute zählt dieses Lied zu den beliebtesten orthodoxen Gesängen überhaupt.
"Das hat eine sehr eingängige Melodie und hat sich interessanterweise in allen Sprachen bis hin zu Englisch, Französisch, Deutsch weiß ich im Moment nicht, würd mich aber auch nicht wundern, wenn das inzwischen jemand gemacht hat, Russisch, Serbisch, Ukrainisch, Griechisch natürlich als Ursprungssprache, Arabisch usw. mit der gleichen Melodie. Das ist so, wenn man so will, auch ein Hit der orthodoxen Jugend, der also fast überall gesungen wird."
"Die Seele muss rauskommen. Normalerweise sitzt sie versteckt in der Ecke; die arme Seele, hier der Körper, Vernunft, Verstand, praktische Aufgaben. Aber wenn man betet, dann befindet man sich in anderem Raum, in anderen Dimensionen."