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Geschichtsforschung
Langeweile bei der Einheitspartei

Kommunistische Einheitsparteien in Ostdeutschland und der Sowjetunion waren strikt durchorganisiert und forderten von ihren Mitgliedern eiserne Disziplin. Dieses Bild herrscht bis heute vor. Nun machen sich Wissenschaftler ein differenzierteres Bild von SED und KPdSU – und stoßen auf erstaunliche Ergebnisse.

Von Bettina Mittelstrass | 12.12.2013
    Es gibt ein robustes Bild über die kommunistischen Einheitsparteien, die von den 1950er Jahren bis 1991 in Ostdeutschland, Osteuropa und der Sowjetunion herrschten, sagt Jens Gieseke vom Leibniz Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.
    "Die sind von oben nach unten strikt durchorganisiert. Die haben eine militante Organisationskultur. Die sind mit Parteidisziplin in Verbindung gebracht und ähnliches. Wir wollten dieses Bild mal an der Realität einem Test unterziehen. Dazu dienten verschiedene Regionalstudien und auch der Vergleich zwischen verschiedenen Ländern. Und dann stellt man sehr schnell fest, dass das, was scheinbar so einheitlich ist, wie alle Parteien funktioniert haben, sich doch in einer relativen Vielfalt von Praktiken sozusagen auflöst. Und genau die wollten wir hier thematisieren."
    Die Potsdamer Forscher betraten damit Neuland. Ihre ersten Fallstudien beschäftigten sich zunächst mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands im Kreis Brandenburg-Havel. Die Historikerin Sabine Pannen sichtete über drei Jahre hinweg unzählige Parteiakten, Zeitschriften, Stasi-Akten und führte Interviews mit Zeitzeugen, um mehr über das tatsächliche Parteileben vor Ort zu erfahren. Zwei Bilder prägen das Bild der SED in der Öffentlichkeit, sagt sie:
    "Einmal dass die Parteidisziplinierungen, die Parteistrafen, Rügen und sogar der feindliche Parteiausschluss ein wesentliches Element gewesen ist, also dieses repressive Element des Parteilebens ganz stark war - so das Image, wenn man so will. Und das andere Bild, das sehr stark ist in der Öffentlichkeit und besonders auch von den Zeitzeugen erinnert wird, ist diese wahnsinnige Langeweile, die man empfunden hat bei Parteiversammlungen. Und das war für mich eine große Herausforderung, mit diesen beiden Bildern konfrontiert zu sein."
    "Wieso geht ein Arbeiter da überhaupt in so eine Partei hinein? Was hat er davon, sich langweiligen montäglichen Parteiversammlungen auszusetzen - wollte er das überhaupt? Ist er da überhaupt hingegangen? Oder hat er sozusagen nur seinen Namen hergegeben als Parteimitglied, hat sich aber ansonsten rausgehalten?"
    Die SED in der Gesellschaft
    2,3 Millionen Mitglieder hatte die SED - etwa ein Fünftel der erwachsenen Bevölkerung der DDR gehörte zum Parteikorpus. Den Potsdamer Wissenschaftlern geht es darum, die SED nicht in erster Linie als Apparat zu betrachten, sondern in der Gesellschaft zu platzieren. Sabine Pannen nennt zwei Gründe dafür, warum sich auf lokaler Ebene die Menschen engagierten.
    "Der Fakt, dass man seine Probleme vorbringen konnte, die erst mal sehr unpolitisch erscheinen bei Parteiversammlungen. Das heißt, dass die Versorgung nicht gut war oder die Heizung nicht funktionierte im Werk oder auch in der Nachbarschaft und man Hilfe erwartete aber auch Hilfe gewährt wurde. Und das somit einen tatsächlichen Sinn gegeben hat sich dort zu engagieren. Neben dem zweiten Element, dem Wissensvorsprung."
    Wissen, was andere noch nicht wissen, war ein Ausgleich für eine Tätigkeit, die normale Parteimitglieder offenbar als unangenehm betrachteten.
    "Es wurde ungern im Alltag gemacht die Parteipolitik zu verbreiten, was ja unter dem Wort der Agitation zusammengefasst ist in der zeitgenössischen Sprache. Zum Ausgleich war man aber eben versorgt mit zusätzlicher Information, die, und das finde ich darf man nicht vergessen, direkt aus dem ZK gekommen ist. Damit wurde eben auch eine Autorität gewährt, auf die man sich beziehen konnte, um somit auch Autorität zu erzeugen."
    Die ständige Durchsetzung von Parteidisziplin und Bestrafungen für freie Meinungsäußerungen waren im Alltag hingegen weniger häufig als angenommen. Strafe gab es häufiger aus anderen Gründen.
    "Tatsächlich habe ich entdeckt in den Quellen, dass alltägliche Dinge von Bedeutung gewesen sind, dass zum Beispiel Trunkenheit am Arbeitsplatz ein großes Thema gewesen ist für den Parteiapparat auf lokaler Ebene, und dass sozusagen die Parteimitglieder in dem Zusammenhang sehr viele Parteistrafen bekommen haben."
    Parteidisziplin beginnt am Arbeitsplatz
    Auch Edward Cohn, Professor am Grinnell College in Iowa in den USA beschäftigte sich mit der Frage, wie Parteidisziplin durchgesetzt wurde - allerdings in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion.
    "Mir ging es vor allem um die Ausschlussverfahren von Parteimitgliedern, die auf irgendeine Weise die informellen Verhaltensregeln für Kommunisten verletzt haben. Parteidisziplin beginnt immer auf der lokalen Ebene. Jeder Fall, der sich mit dem Fehlverhalten von Kommunisten beschäftigt, nimmt seinen Anfang am Arbeitsplatz."
    Doch in der Ära von Nikita Chruschtschow seit Mitte der 1950er Jahre wurde der drohende Parteiausschluss in der Realität der Ebene keineswegs immer umgesetzt, sagt Edward Cohn.
    "Das hatte einen größeren Effekt. Es gab also die strenge Rhetorik und gleichzeitig eine eher harmlose Verfolgung. Diese Diskrepanz zwischen offizieller Rhetorik und der Realität an der Basis beeinflusste das Denken der Leute über die Partei. Sie fingen an, sich zu fragen, ob die Partei ihre Ziele überhaupt umsetzen kann oder glaubten, dass die formulierten Ziele utopisch und unrealistisch waren von Anfang an - und vieles mehr."
    Der Blick ins Detail ändert das große Ganze
    "Das führt letztendlich natürlich zu der Frage: Wieso konnten diese Systeme so lange doch trotz aller Funktionsmängel stabil sein zumindest? Und was ist in den 1980er Jahren natürlich vor allem passiert? Oder vielleicht schon vorher, sodass es eben diese Instabilität gebracht hat, dass es am Ende nicht mehr funktionierte? Eine der zentralen Fragen, vor der wir ja immer stehen, auch wenn die hier vielleicht nicht direkt angesprochen ist: Warum hat im Herbst 1989 kein SED-Mitglied diese Partei und dieses System verteidigt? Sondern innerhalb von wenigen Wochen sind 80 Prozent der SED-Mitglieder aus dieser Partei ausgetreten und haben nach außen hin eine Kehrtwende vollzogen."
    Der Blick in das tägliche Klein-Klein auf den unteren Ebenen der Einheitsparteien verändert den Blick auf das große Ganze, sagt auch der Historiker Christoph Boyer, Professor an der Universität Salzburg. Er vergleicht in seiner Forschung die Systeme kommunistischer Einheitsparteien Osteuropas. Ein differenzierterer Blick ist überfällig sagt er. Je detaillierter man sich mit den Strukturen und der Entwicklung jeder einzelnen Einheitspartei beschäftige, desto deutlicher treten Unterschiede hervor.
    "Wenn man im Einzelnen dann herausbekommen will, wie ein System funktioniert, dann funktioniert das eben nicht wie eine Maschine, wie ein Roboter, sondern sie müssen eben immer auch wissen, was die Leute die in diesem System die Elemente sind - wenn ich mich nochmal so systemtheoretisch ausdrücken darf - was die im Kopf haben und vielleicht nicht nur, was sie Kopf haben, sondern auch was sie im Bauch haben. Das heißt, Sie müssen über Gefühle reden, das heißt, Sie müssen über Weltverständnis reden, über Horizonte, Sie müssen über Symbolsysteme reden, alles das. Und da sind Sie mitten auf dem Terrain der Kulturwissenschaften und das alles müssen sie reinholen, auch um verstehen zu können wie ein System funktioniert."