Donnerstag, 18. April 2024

Archiv


Getanzte amerikanische Wirklichkeit

Der Name "American Realness" steht für die fehlende finanzielle Unterstützung, die zum Normalzustand für das Festival geworden ist und für den Tanzmarkt. Denn es bietet eine Plattform für Tänzer aller Sparten, die sich unter einem sehr weit gefassten Motto präsentieren und vielleicht sogar hoffen, entdeckt zu werden.

Von Heike Wipperfürth | 19.01.2013
    Ein gesteigertes Körpergefühl durch langsame, sehr langsame Bewegungen – das ist ein Hauptanliegen der in New York lebenden Choreografin und Tänzerin Maria Hassabi.
    Mal blickt sie den Zuschauern tief in die Augen, mal ihrer Tanzpartnerin, fast so eine Art Doppelgängerin. Die beiden Tänzerinnen bewegen sich zitternd, schwer atmend und schwitzend voneinander weg und aufeinander zu. Es geht um Erforschung und Erschließung, fremd sein und vertraut sein.

    "Show" heißt der ortsbezogene Tanz, gelungen aufgeführt am ersten Abend von American Realness, einem vier Jahre alten Festival für experimentellen Tanz und Performance Art in New York.

    American Realness – der Name hat mehrere Bedeutungen, sagt der Festival Gründer Ben Pryor. Zum einen sei er eine Metapher für die fehlende finanzielle Unterstützung, die zum Normalzustand geworden ist. Zum anderen verweist er auf den Tanzmarkt - und das keineswegs ungeschickt.
    Pryor hält das Festival genau dann ab, wenn sich im Januar Tausende von Kuratoren und Theateragenten aus aller Welt bei der Tagung der Programmanbieter der darstellenden Kunst in New York versammeln– eine einmalige Gelegenheit für die 17 beteiligten Tänzer und Choreografen, die an dem Festival teilnehmen und ihre Auftritte aus eigener Tasche finanzieren. Gut so, sagt Pryor.

    "Mitmachen zahlt sich aus. Wir helfen den Künstlern ja bei der Schaffung neuer Werke. Das bedeutet ihnen viel und ihr Interesse an dem, was wir tun, ist groß."

    In diesem Jahr wieder dabei: der New Yorker Choreograf Trajall Harrell. Zweieinhalb Stunden dauert sein Stück Antigone - das ist viel zu lang. Fünf Tänzer stolzieren immer wieder in fantasievollen Kostümen und Hüten über die Bühne. Sprüche wie "Wir sind Moma und Whitney" oder "Wir sind Venus und Verena" sind weder besonders geistreich noch amüsant.

    Dabei geht es um Geschlechterrollen und Rasse als soziale Konstruktion – ein großes Thema. Was wäre gewesen, wenn Tänzer aus der Transsexuellen Kunst in Harlem bei den Gründern des postmodernen Tanzes in der Judson Church zu Gast gewesen wären, fragt der Afroamerikaner Trajal Harrell. Ein Grundgedanke seines Zyklus "Twenty Looks or Paris is Burning at the Judson Church".

    Wahrhaftigkeit beim Rollenspiel auf der Bühne wie bei den Schönheitswettbewerben der Transsexuellen in Harlem - und Überraschungen im Umgang mit dem Publikum - auch das sei eine Funktion von American Realness, sagt Festival Gründer Ben Pryor.

    "Viele unserer Künstler geben sich auf der Bühne absichtlich informell, um das Publikum zu verwirren und mit seinen Erwartungen zu spielen, damit etwas Neues geschaffen werden kann."

    50 Minuten Aufmerksamkeit in ihrer Heimatstadt will die Performance Künstlerin Jeanine Durning.

    "Ich bin in den letzten fünf Jahren immer wieder nach Europa gereist, um zu arbeiten und zu unterrichten. So verdiene ich mein Geld. Seit 2009 habe ich meine Stücke in New York nicht mehr aufgeführt. Es wird höchste Zeit."

    Jeanine Durning entführt ihre Zuschauer in eine chaotische Welt. "inging" ist der Name ihres Werkes, in dem sie hinter einem Stapel Bücher auf einem Schreibtisch sitzt und ununterbrochen redet.

    Irgendwann steht sie auf und bewegt sich durch den Raum. Dann krabbelt sie unter dem Schreibtisch zurück auf ihren Stuhl, um eine neue Form der Kommunikation zu finden: das Schweigen. Ihr gehe es, so die Künstlerin, um die Geste, als Vermittlerin zwischen Gedanken und Sprache.

    "Mich interessiert die Verbindung der körpereigenen Reize zur Sprache, eine kinästhetische Verbindung zur Sprache."

    Viele unterschiedliche Stilrichtungen und Darstellungen. So experimentell ist American Realness. Auch wenn nicht alles gelingt: Das Festival ist ein quietschfideles Gegenprogramm zur guten New Yorker Form, es wird einfach gebraucht.