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Glückszahlen und Genies

Eine reine Naturwissenschaft ist Mathematik nicht. Ohne Mathematik wären die Naturwissenschaften aber überhaupt nicht denkbar. Ein Thema, das auf der Jahrestagung der Deutschen Mathematikervereinigung diskutiert wurde.

Von Mathias Schulenburg | 06.10.2011
    Der gute Christ soll sich hüten vor den Mathematikern .... Es besteht nämlich die Gefahr, dass die Mathematiker mit dem Teufel im Bunde den Geist trüben und in die Bande der Hölle verstricken.
    (Augustinus von Hippo)

    Die Mathematik ist eine gar herrliche Wissenschaft, aber die Mathematiker taugen oft den Henker nicht.
    (Georg Christoph Lichtenberg)

    Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit.
    (Albert Einstein)

    Feine Selbstironie aus dem Programmheft der Deutsche(n) Mathematiker-Vereinigung, DMV, zur - unerwartet frischen - Jahrestagung an der Universität Köln. Die verbreitete Vorstellung von Mathematikern als einer Truppe autistischer Zausel ist zu korrigieren. Das ist sicherlich dem mittlerweile hohen Frauenanteil zu danken - Frauen nehmen jetzt die Hälfte der Studienplätze ein -, aber auch der immer einsehbarer werdenden Praxisnähe des Fachs und der besseren Öffentlichkeitsarbeit. In Köln bot die Mathematikervereinigung gar einen Großmeister der Wissensvermittlung auf, Marcus du Sautoy, unter anderem Mathematikprofessor an der Universität Oxford, dem auf dem Flug nach Köln die Entdeckung eines von Zahlen inspirierten unheilvollen Schüttelwortes gelungen war:

    "Ich saß in Reihe 16 und entdeckte, dass hinter mir schon Reihe 18 war. 17 fehlte. Die 13 ist ja als Unglückszahl bekannt, aber die 17? Und dann schwante mir, dass das Flugzeug wohl mal einer italienischen Airline gehört hatte und von der Lufthansa übernommen worden war. In Italien bringt die 17 Unglück. Warum? In Römischen Ziffern liest sich die 17 wie XVII, das kann zum lateinischen VIXI geschüttelt werden, das Anagram bedeutet dann "Ich habe gelebt", lebe also nicht mehr, und deshalb gab es keine Reihe 17. Schade, wo das doch meine Lieblingsprimzahl ist."

    Marcus du Sautoy, erfolgreicher Autor populärer Bücher über Mathematik wie "Die Musik der Primzahlen", sehr lesenswert, teilt seine Leidenschaft für Primzahlen mit einer Spezies nordamerikanischer Zikaden:

    "Die 17 findet sich oft, ich spreche hier in Köln über eine Zikadenart, die sie zum Überleben braucht. Die hausen 16 Jahre im Boden und kommen im 17. Jahr an die Oberfläche, und weil die 17 eine Primzahl ist, können sich die Beutetiere oder eine Zikadenkonkurrenz nicht so leicht darauf abstimmen. Da ist die Primzahl überlebenswichtig."

    Es gibt auch eine Zikadenart, die die Primzahl 13 als Vermehrungszyklus gewählt hat. Wenn sie Zykaden mit dem Zyklus von 17 Jahren zum Nachbarn hat, kommen sich die beiden Sorten nur alle 13 mal 17, also 221 Jahre ins Gehege, sicherlich ein Grund, weshalb die Evolution diesen Zahlen den Vorzug gegeben hat.

    "Gauss hat eine wunderbare Eigenschaft der 17 entdeckt: Man kann ein regelmäßiges Siebzehneck nur mit Lineal und Zirkel konstruieren. Das hat ihn als junger Mann so begeistert, dass er sich der Mathematik verschrieben hat."

    Solcherlei Entzücken will sich nicht jedermann mitteilen, zu schmerzlich ist vielen die Erinnerung an das schulische Komplettversagen. Aber, sagt Professor du Sautoy, es gibt Facetten des Mathematischen, wo so gut wie jeder kompetent ist:

    "Ich glaube, jeder ist ein Mathematiker, die Leute wissen es nur nicht. Wir analysieren die Welt mathematisch, suchen nach Mustern, logischen Zusammenhängen, das hat die Evolution für unser Überleben so eingerichtet. Wir zählen, schätzen Entfernungen ab, betreiben unterbewusst Geometrie - wenn einer sagt, er wäre kein Mathematiker, sage ich: Viel mehr als Sie denken."

    Dürfen sich also auch Geisteswissenschaftler als Mathematiker fühlen? Ist Mathematik womöglich eine Geisteswissenschaft? Christian Bär, Professor für Geometrie an der Uni Potsdam und derzeit Präsident der Deutschen Mathematikervereinigung, sieht das - stellvertretend für die meisten Kollegen - so:

    "Darüber gibt es verschiedene Ansichten. Meine persönliche Ansicht ist die: Eigentlich weder noch, Mathematik gehört zusammen mit der Informatik zu den Strukturwissenschaften, zu den Geisteswissenschaften sehe ich eigentlich einen relativ geringen Bezug, der Bezug zu den Naturwissenschaften ist viel enger, im Unterschied zu den Naturwissenschaft wie Physik und Biologie befasst sich die Mathematik nicht mit konkreten Dingen unserer Umgebung, mit Sternen oder Lebewesen oder so etwas, sondern mit Strukturen, das können Primzahlen sein, das können partielle Differenzialgleichungen sein, und so ähnlich funktioniert auch die Informatik, die sich stattdessen mit Datenbanken oder Compilern oder so etwas beschäftigt."

    Gleichwohl, in manchen Zweigen der Mathematik wie der Mengenlehre ist Raum für Unsicherheiten geblieben, wie sie in den Geisteswissenschaften unvermeidbar sind:

    "In manchen Fragen tatsächlich kommt man mit der Mengenlehre in logische Grundsatzfragen, zum Beispiel stellt sich heraus, dass bestimmte mathematische Aussagen zwar wahr oder falsch sind, aber es ist nicht beweisbar, dass sie wahr sind, zum Beispiel Und das ist natürlich zu der Zeit, als das entdeckt wurde, schon ein ziemlicher Schock gewesen, denn man hatte eigentlich die Vorstellung, Dinge sind zwar wahr oder falsch, aber wenn sie wahr sind, kann man auch beweisen, dass sie wahr sind. Das wissen wir heute, dass das nicht unbedingt so sein muss und das muss einem dann immer bewusst sein."

    Einfache Zivilisten haben es leichter, ihnen hat Mark Twain den Weg zur Wahrheit gewiesen, mit dem Spruch:

    Eine Lüge ist ebenso gut wie die Wahrheit, solange sie geglaubt wird.

    So geht das in der Mathematik natürlich nicht. Das Fach lebt von seiner Akribie, und wer begründete Kritik einbringt, kann am Ende auf Ruhm hoffen:

    "Also gerade in der Mathematik ist man besonders bedacht auf die Verlässlichkeit der alten Resultate, weil die Mathematik ja sehr stark aufeinander aufbaut, und wenn wir jetzt nicht uns auf alte Resultate verlassen können, dann kann das ja einen ganzen Zweig der Mathematik zum Einsturz bringen. Und deswegen ist es sehr, sehr wichtig, dass diese Beweise überprüft werden und deswegen legen wir in der Mathematik auch sehr großen Wert auf sorgfältiges Referieren von Fachartikeln."

    Matthias Kreck ist Direktor des Hausdorff-Instituts für Mathematik der Universität Bonn - ist die Mathematik eine Geistes- oder eine Naturwissenschaft?

    "Ich tendiere dazu, die Mathematik eher den Naturwissenschaften zuzuordnen, aber sie ist eines der Fächer, das nicht richtig definiert ist und es hat natürlich geisteswissenschaftliche Aspekte in der Mathematik."

    Eine Brücke zur Geisteswissenschaft ist sicherlich der schillernde Begriff der Unendlichkeit, der in Philosophie und Religion einen festen Platz hat:

    "Das sehe ich ganz genauso, ich erinnere mich an meinen Vater, der war Professor für Theologie, und der hat mit mir sehr gern über Unendlichkeit, natürlich ganz besonders gerne über Gödel gesprochen, über die letzten Vorbehalte, die es auch in der Mathematik gibt, Vorbehalte insofern, als wir noch nicht mal - wenn wir es ganz genau nehmen - die natürlichen Zahlen 1, 2, 3, 4, 5 sauber konstruieren können. Sondern das basiert auch auf Annahmen, nämlich der Annahme, dass das Axiomensystem, mit dem wir das machen, widerspruchsfrei ist, und das können wir nach Gödel nicht beweisen."

    Unendlichkeiten lassen viel Raum für Fantastereien; so könnte man - gäbe es unendlich viele Welten - sicher sein, dass alles, was passieren kann, passiert. Nicht weniger beeindruckend: In Zahlen wie π steckt womöglich - an irgendeiner zentrifugillionsten Stelle hinter dem Komma - eine Ziffernfolge, die exakt Professor Tolkiens Geschichte "Der Hobbit" entspricht oder einem beliebigen anderen Geschichte.

    "Also wo man eine Dezimalentwicklung hat, so wie 3,14 und so weiter, wo, wenn Sie Buchstaben Zahlen zuordnen, und jede endliche mögliche Folge von Zahlen in dieser Dezimalentwicklung vorkommt. Und dann entspricht der Faust zum Beispiel einer ganzen Kette von Zahlen. Das kann man sich fast überhaupt nicht vorstellen, aber es könnte bei π der Fall sein, und das ist weit, weit getestet, und bisher hat keiner etwas gefunden, was man nicht in π findet."

    Was vergleichsweise kleine Gruppen von Zeichen angeht. π nach Goethes Faust abzusuchen, würde die Computer überfordern. Ansonsten, sagt Professor Kreck, sei die mathematische Unendlichkeit gebändigt:

    "Der Begriff der Unendlichkeit hat Konzepte wie das Leibnizsche Teilen durch etwas unendlich Kleines, hat er völlig präzise gemacht, das ist demystifiziert worden - innerhalb der Mathematik ist die Unendlichkeit beherrschbar geworden."

    Die Mathematik ruft sicherlich auch deshalb bei vielen Menschen Befremden hervor, weil man sie sich als blutleeres, ganz unromantisches Gewerbe vorstellt, fern aller Poesie. Das Programmheft der Deutschen Mathematikervereinigung widerspricht da schon mal:

    Bei der Frage, ob die Mathematik eher eine naturwissenschaftliche oder eine philosophische Disziplin sei, ist man geteilter Ansicht. So behauptet Karl Weierstraß:

    "Ein Mathematiker, der nicht irgendwie ein Dichter ist, wird nie ein vollkommener Mathematiker sein; "

    wohingegen Schopenhauer ausführt:

    Dass die niedrigste aller Geistestätigkeit die arithmetische sei, wird dadurch belegt, dass sie die einzige ist, welche auch durch eine Maschine ausgeführt werden kann.

    Jetzt reicht es auch den Mathematikern:

    Hier verwechselte Schopenhauer offensichtlich etwas, und es ist deutlich, dass er eben nicht wusste, was Mathematik eigentlich ist. Bei Matthias Kreck läuft das mathematische Denken so ab:

    "Ich kann nur in Bildern Mathematik denken. Es mag Mathematiker geben, gibt es sicher auch, die mehr formal denken, aber selbst, wenn Sie heute einen modernen Zahlentheoretiker fragen, die moderne Zahlentheorie nennt sich "Arithmetische Geometrie", oder ein Zweig der modernen Zahlentheorie nennt sich so - dann sehen Sie schon: Die denken auch in Bildern."

    Der berühmte Physiker Richard Feynman verfuhr im Dialog mit seinen mathematischen Kollegen nicht anders:

    Wenn die Mathematiker mit einem neuen Theorem herauskamen, wurden sie sehr aufgeregt. Während sie mir die Bedingungen zu diesem Theorem erklärten, stellte ich mir etwas vor, das alle diesen Bedingungen erfüllte. Da gibt es also eine Menge - ein Ball. Dann eine disjunkte - zwei Bälle. Dann nehmen die Bälle Farben an, ihnen wachsen grüne Haare - alles, um die Bedingungen zu erfüllen. Schließlich rücken sie mit dem Theorem heraus, irgendwas über den Ball, was nicht mit meinem haarigen grünen Ball übereinstimmt, und ich sage "Falsch!" Wenn das stimmt, werden sie sehr aufgeregt und ich lasse sie eine Weile machen. Dann komme ich mit meinem Gegenbeispiel. Da sagen sie "Oh, wir haben vergessen zu sagen, das ist eine Klasse 2 Hausdorff Homomorphie." "Na, dann ist es trivial, nur trivial", sage ich. Seither weiß ich, wie das läuft, auch wenn ich nicht weiß, was eine Hausdorff Homomorphie ist.

    Eine freundliche Frotzelei unter Leuten, die sich mögen. Und es ist auch nicht so, dass der sprichwörtlich legere Umgang der Physik mit der Mathematik ins Nichts führen müsste:

    "Die moderne Physik ist sehr, sehr mathematisch geworden, aber die Mathematik hat immer und wird auch heute noch und in Zukunft noch von Entwicklungen profitieren, die die Physiker aus ihrer Sicht machen und etwas, was sie Mathematik nennen, formulieren, etwas, was für uns Mathematiker überhaupt keine Mathematik ist. Also die Mathematik nicht zu können, ist auch eine Chance für Physiker."

    Mathematik, das wurde auch auf dem Kölner Mathematikertreffen klar, ist heute ubiquitär, allgegenwärtig. CDs etwa sind nur mit Mathematik praxistauglich geworden:

    "Eine sehr wichtige Anwendung sehr moderner Mathematik ist die Fehlerkorrektur. Wenn Sie heute irgendeine digitalisierte Information aufnehmen, dann ist die voller Fehler, zum Beispiel eine Audiodatei, und wir Mathematiker geben ein Rezept, wie wir das erst codieren und dann trotz Fehlern hinterher wieder rekonstruieren, und ich habe eine Aufnahme gemacht, von meinem eigenen Spiel, und Ingenieure gefunden, die mir eine CD mit Mathematik und ohne Mathematik gemacht haben. Und Sie hören ganz extrem den Effekt der Mathematik. Wenn Sie da nur einen Takt spielen, merken Sie sofort, das war ohne Mathematik und dann denselben Takt mit Mathematik - klingt wunderbar."

    Mit Mathematik ... und ohne. Etwas ganz Praktisches: Das Projekt GeoGebra, in Gang gesetzt von Markus Hohenwarter, Professor für Mathematikdidaktik an der Johannes-Kepler-Universität Linz:

    "Also GeoGebra ist eine dynamische Mathematiksoftware, die ist gedacht vorwiegend natürlich für Schüler und auch für Lehrer, um eben Mathematik experimentell und ganz anschaulich zugänglich zu machen. Man kann jetzt mit der Software verschiedene Dinge untersuchen, also einerseits Geometrie, das steckt ja schon im Namen drin, und andererseits Algebra - GeoGebra, Geometrie und Algebra - also die Grundidee war immer, diese verschiedenen Teile der Mathematik zusammenzubringen, dass eben Formeln anschaulicher werden, indem man eben auch die Grafiken sich anschauen kann, und umgekehrt, dass man zum Beispiel Punkte hat, dass man sich die Koordinaten dazu geben lassen kann oder eben Gleichungen."

    Das mit mehreren Preisen ausgezeichnete Programm ist inzwischen in 45 Sprachen verfügbar und zu einem schnell wachsenden internationalen Projekt gereift, an dem Entwickler aus vielen Ländern beteiligt sind. Visualisiert wird alles Mögliche, auch Biologisches, darunter ein Libellenflügel:

    "Wie funktionieren diese Waben, die man darauf erkennt, das hat viel mit sehr grundlegender Mathematik zu tun, die wir zwar in der Schule lernen, wo aber die Schüler häufig gar nicht wissen, dass das solche Anwendungen hat, und wir hoffen natürlich, dass die Schüler dann, wenn sie solche Beispiele kennen, auch mit anderen Augen durch die Welt gehen, denn Mathematik ist überall."

    Erstaunlicherweise wird etwa ein Garten mit Libellen durch mathematische Hintergedanken nicht entzaubert - im Gegenteil, so wächst ein Gefühl für die abenteuerliche Komplexität der Realität, hinter der häufig einfache Prinzipien stecken. Schon ein einzelnes Wasserstoffatom entfaltet in der mathematischen Modellierung einen psychedelischen Charakter.

    "Die Software ist kostenlos verfügbar, es ist eine Open-Source-Software, die kann man einfach herunterladen von www. GeoGebra.org."