Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Gorki Theater Berlin
Mauern heute

Die eine Mauer ist seit 25 Jahren weg. Andernorts entstehen jedoch neue, beispielsweise an den Grenzen Europas. Das Gorki Theater Berlin hat den 9. November zum Anlass genommen, in seinem neuen Projekt "Voicing Resistance" die Revolutionen und Umstürze von heute in den Blick zu nehmen.

Von Eberhard Spreng | 10.11.2014
    "Die Mauer muss weg! Die Mauer muss weg!"
    Nein, kein O-Ton von 1989 aus dem Archiv. Knapp 100 junge Leute mit Rucksäcken stapfen auf zwei neben dem Berliner Gorki-Theater geparkte Reisebusse zu, deren Türen und Gepäckräume von grimmigen Polizisten in schwarzen Uniformen verstellt werden. Die Busse sind schon untersucht, nun soll in die Rucksäcke ein Blick geworfen werden. Die jungen Leute wollen nach Griechenland, an die Außengrenze der EU. Dahin, wo Tausende von Flüchtlingen unter anderem am neu errichteten Frontex-Zaun scheitern.
    Die Polizisten wollen wissen, ob in den Rucksäcken Bolzenschneider oder Trennschneider sind. Das "Zentrum für politische Schönheit" finanziert die Reise mit Crowdfunding, will anlässlich des 25. Jahrestages der Maueröffnung auf eine neue Mauer hinweisen und sie im "ersten europäischen Mauerfall" einreißen. Technische Anleitungen dazu liefert das Zentrum auf seiner Webseite gleich mit.
    Die Aktionskünstler um Philipp Ruch hatten wenige Tage zuvor schon das Verschwinden der weißen Kreuze, die nahe des Reichstagsgebäudes an der Spree an Mauer-Tote erinnern, zum Teil ihrer Aktion erklärt und einen wütenden Protest vor allem der CDU hervorgerufen.
    Die Berliner Polizei ermittle, meldeten die Medien, hier aber lässt man die Aktionskünstler herumlaufen, feiert zu Beginn des vom Hauptstadtkulturfonds geförderten Festivals "Voicing Resistance" mit viel Medienhype die Abfahrt der Busse und Intendantin Shermin Langhoff darf beklagen, dass die Staatsgewalt Kunst kriminalisiere, wenn sie die Grenzen eines traditionellen Kunstbegriffs verlässt. Da kommt so einiges zusammen und da geht so einiges durcheinander.
    Vor allem aber wird hier im Emotions- und Erregungsraum 9. November äußert clever auf der Klaviatur der Social Media, der klassischen Medien, des Kulturbetriebs und des ehrlichen Wunsches nach politischem Engagement gespielt. Nach dem fragwürdigen Start auf dem Vorplatz des Gorki-Theaters ging es im Studio mit zwei Texten von Nicoleta Esinencu eher performativ weiter.
    "Papa, ich muss dir was sagen: Urbanisierung, Privatisierung, Globalisierung, Föderalisierung, Standardisierung, Legalisierung Popularisierung ... Papa ich muss dir was sagen."
    In einem ungeheuer turbulenten Solo hastet die in Moldawien geborene Marina Frenk durch "Fuck You, Eu.ro.Pa!" der ebenfalls aus Moldawien stammenden Autorin Nicoleta Esinencu. Dort hat der Monolog 2005 aufgrund seiner europakritischen Inhalte eine heftige politische Debatte ausgelöst.
    Eine junge Frau soll einen Besinnungsaufsatz über ihr Land schreiben, der aber wird zu einer jähen Abfolge von Ideen und Beobachtungen über ein Land in der Auflösung. Papa steht hier für einen autoritären Staat nach dem Zerfall der UDSSR
    Differenzierte Betrachtungen des Ostens
    Was der Zerfall dieser UDSSR zum Beispiel für Länder, wie die Ukraine oder Aserbaidschan bedeutet, sollte eine Diskussion beleuchten, die die Festivalleiterin, Gorki-Studio-Chefin und Schriftstellerin Marianna Salzmann leitete:
    "Wir sind ja gewohnt, den Westen sehr differenziert zu sehen, jedes Land einzeln zu betrachten und nicht vergleichen oder pauschalisieren zu können. Das gilt für mich für den Osten genauso. Das ist viel zu komplex: Ich habe das Gefühl, es ist ehrlich gesagt noch komplizierter als Europa, einfach weil es Vielvölkerstaaten waren und bis heute sind, dass es normal ist eine Staatsangehörigkeit zu haben, die zum Beispiel russisch ist, Nationalität Jüdin, Konfession Atheist. Das steht in meiner Geburtsurkunde. "
    Die 1985 in Wolgograd geborene Marianna Salzmann war beim Mauerfall vier Jahre alt und kam mit ihrer Familie Mitte der 90er-Jahre nach Deutschland, zunächst in ein Asylbewerberheim. Sie steht für eine Generation, die am Gorki versucht, den 9. November zum Anlass für die Betrachtung zeitgenössischer Widerstandsbewegungen in aller Welt zu nehmen.
    Dabei wird es auch in den nächsten Wochen in abenteuerlichem konzeptionellen Zickzackkurs neben dem Osten Europas noch um Ägypten, die Türkei, um Nordafrika und Syrien gehen. In den ersten Tagen von "Voicing Resistance" ging es aber auch einmal um Ereignisse des 9. November in Berlin: Da konnte jeder seine Erinnerungen an den Tag in "Audition for a Demonstration" in einem kurzen Gespräch schildern, das aus der Garderobe des Gorki-Studios life in den Zuschauersaal übertragen wurde und ganz unterschiedliche Einzelgeschichten offenbarte. Die argentinische Künstlerin Lola Arias hat die sieben-stündige Performance eingerichtet.
    Ambitioniert, aber nicht ganz stimmig
    Dass das Gorki versucht, neben der künstlerisch so unendlich ambitionslosen offiziellen Lichterkette und angesichts der völlig ausgelaugten offiziellen Erinnerungskultur zeitgenössische Entsprechungen für den 9. November 1989 zu erkunden, ist löblich. Dass es da so summarisch alles mit allem verbindet, eher nicht. Da, so der Eindruck aus den ersten Tagen, wächst nicht zusammen, was nicht zusammengehört.