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Großes Durcheinander des Leibs

Die Werke des französischen Schriftstellers Pierre Guyotat wurden bislang nicht ins Deutsche übersetzt. Dabei sind seine wilden Phantasmagorien das Dokument einer Zeit, in der man der Literatur noch zutraute, alle Grenzen, alle Konventionen zu sprengen.

Von Ina Hartwig |
    Sein Eden ist für Guyotat ein "Garten Eden der tierischen Menschheit."
    Sein Eden ist für Guyotat ein "Garten Eden der tierischen Menschheit." (Claus Stäcker)
    Das jüngste "Schreibheft", herausgegeben von dem entdeckerfreudigen Norbert Wehr, hat es wieder einmal geschafft, einen der großen Unbekannten der Literatur für die deutschsprachige Leserschaft ans Licht zu holen. Ein Schwerpunkt der Zeitschrift widmet sich zwar dem geradezu mythisch bekannten Ezra Pound und dessen "Cantos", die in Teilen neu übersetzt worden sind von Rainer G. Schmidt, vorgestellt unter dem wahrlich Poundschen Motto "Höllenzecken im irdischen Paradies". Da trifft es sich, dass jüngst die große, vollständige Pound-Übersetzung von Eva Hesse mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, sodass Pound-Fans munter vergleichen können.

    Doch näher betrachten wollen wir den anderen, in Deutschland so gut wie unbekannten Ästheten der Verworfenheit, dem das "Schreibheft" einen weiteren Schwerpunkt widmet. Die Rede ist von dem Franzosen Pierre Guyotat, dessen Roman "Eden Eden Eden" 1970 erschien und umgehend verboten wurde, und das, obwohl so berühmte Männer wie Roland Barthes, Michel Foucault und Michel Leiris das Buch mit preisenden Vorworten versehen hatten. Man muss sich das vorstellen: Ein junger Mann von 30 Jahren veröffentlicht einen wüsten, schwer konsumierbaren experimentellen Roman, angesiedelt in einem Algerien, das geprägt ist von einer triebhaften Gewalt voller Blut, Kot und Sperma, und die intellektuelle Crème de la Crème sekundiert dem unbekannten Jüngling mit edlen Deutungen! Das Verbot des Romans hat sich vermutlich auch gegen die Unterstützer gerichtet, die für ein Milieu standen, das dem konservativen Regierungsumfeld ein Dorn im Auge sein musste. Erst unter dem Präsidenten Mitterrand, dann aber sofort, wurde der Roman vom Index genommen.

    Unter dem Motto "Wüste, Schlachthaus Bordelle" macht das von Holger Fock vorbildlich gestaltete Dossier mit der Biografie und dem Denken Pierre Guyotats bekannt, der 1940 in der Auvergne geboren wurde und bis heute, trotz des zeitweise enormen Zuspruchs, ein Außenseiter geblieben ist. Bislang existiert keine einzige Übersetzung eines seiner Werke auf Deutsch. Das wird sich bald ändern; für den Herbst sind im Zürcher Diaphanes Verlag die Romane "Eden Eden Eden" und "Grabmal für 500 000 Soldaten" angekündigt.

    Das "Schreibheft" legt nun schon einmal einen Ausschnitt von gut vierzehn eng bedruckten Seiten aus "Eden Eden Eden" vor, den Anfang des Romans. Erzählt wird die Endphase des langen, brutalen algerischen Befreiungskriegs, der 1962 mit der Niederlage und dem Rückzug der Kolonialmacht Frankreich endete. Die Verbrechen des Algerienkrieges sind die schwelende, bis heute nicht verheilte Wunde der einst so stolzen Nation. In dieser Wunde kratzt Pierre Guyotat herum, mit einer an Selbstkasteiung grenzenden Besessenheit.

    Man braucht sich nur die erste Passage von "Eden Eden Eden" zu Gemüte zu führen, um zu spüren, dass eine solche Prosa die Konservativen, und nicht nur sie, irritieren musste:

    "/Breitbeinig, mit gespannten Muskeln, treten die behelmten Soldaten auf die Neugeborenen, die in scharlachrote, veilchenblaue Schals gewickelt sind: die Babys fallen aus den Armen der Frauen, die auf den zerschossenen Blechen der GMC-Geländewagen kauern; der Fahrer stößt mit der freien Faust eine Ziege zurück, die in seine Kabine geschleudert wird; / am Ferkous-Pass überquert eine Abteilung des Marine-Infanterie-Regiments die Piste; die Soldaten springen von den Lastwagen, die Marineinfanteristen legen sich auf den Schotter; den Kopf an die mit Feuersteinen und Dornen gespickten Reifen gelehnt, entblößen sie im Schatten der Schutzbleche ihre Oberkörper (….)"

    Und so geht es immer weiter, ohne dass jemals ein Punkt den Sprachfluss unterbräche. Holger Fock hat sich der Herausforderung gestellt, diesen Prosateppich zu übertragen. Einzig Schrägstriche und Semikola rhythmisieren den absatzlosen Text, der wie ein Blutstrom vor sich hin zu pumpen scheint. Frauen, Männer, Säuglinge, Kinder, Junge, Alte, Soldaten, Hirten, Huren und Bauern werden in einem einzigen Strom dem Trieb unterworfen; lauter Mikroerzählungen von Vergewaltigungen und Halbvergewaltigungen reihen sich aneinander; denn "gerade durch die Sexualität", so Pierre Guyotat in seinen Notizen zum Roman, "gibt sich die Dritte Welt zu erkennen".

    Um Guyotats extreme Position zu verstehen, sei ein Blick auf seine Biografie geworfen. Seine Familie war in der Résistance gegen die Deutschen aktiv, ein Onkel starb in einem deutschen Konzentrationslager. Als Kind war Pierre ein schwerer Stotterer; als Siebenjähriger wurde er von einer Gruppe Jugendlicher missbraucht; die Mutter starb, als er achtzehn war. Er ging, nach dem Besuch katholischer Internate, von 1960 bis 1963 als Rekrut nach Algerien, wurde wegen "Zersetzung der Truppenmoral" nach tagelangen Verhören inhaftiert, war wochenlang im Kerker eingesperrt, und ist doch als Reisender immer wieder nach Algerien zurückgekehrt. Und zwar mit seinem legendär gewordenen VW-Bus, der ihm in Paris einige Jahre lang als Wohnstatt diente: Der Schriftsteller als Großstadt-Nomade, nicht als Flaneur.

    Schlachthaus und Bordell sind symbolträchtige, poetische Orte für Pierre Guyotat. Ein späterer Roman wird den schlichten Titel "Prostitution" tragen, erschienen 1975. Guyotat wirkt eher wie ein Hieronymus Bosch als ein Marquis de Sade, wenn er verkündet, er wolle "ohne Moral" schreiben. Ob das überhaupt möglich ist? Jedenfalls trennt seine gequälte und zugleich triumphierende Sprache nicht zwischen Gewalt und Lust, Schönheit und Grausamkeit, Homo- und Heterosexualität, genauso wenig wie zwischen Mensch und Tier. Sein Eden ist kein Garten der Lüste, sondern, in Guyotats eigenen Worten, ein "Garten Eden der tierischen Menschheit".

    Übrigens, "bordel" bedeutet in der französischen Umgangssprache nicht nur Lusthaus, sondern auch Unordnung, Durcheinander. Endlich ist Pierre Guyotat, dieser Sänger des großen leiblichen Durcheinanders, für deutschsprachige Leser zu entdecken. Schade nur, dass es so spät geschieht. Seine wilden Phantasmagorien sind das Dokument einer Zeit, als man der Literatur noch zutraute, alle Grenzen, alle Konventionen zu sprengen. Diese Zeit ist vorbei, wie wir mit einer gewissen Wehmut zugeben müssen.


    "Schreibheft" Nummer 80. Mit einem Dossier zu Pierre Guyotats Roman "Eden Eden Eden"
    Rigodon Verlag, Essen 2013. 176 Seiten, 13 Euro.