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Hans Scholl und die "Weiße Rose"
Religion und Widerstand

Vor 75 Jahren wurde Hans Scholl hingerichtet. Er war intellektueller Kopf der Widerstandsgruppe "Weiße Rose", die gegen das NS-Regime kämpfte. "Scholls Handeln wäre nicht denkbar gewesen ohne seine religiösen Wurzeln", sagte der Theologe und Biograf Robert M. Zoske im Dlf.

Robert M. Zoske im Gespräch mit Monika Dittrich |
    "Es lebe die Freiheit!"
    Das waren die letzten Worte von Hans Scholl, bevor das Fallbeil auf ihn niedersauste und seinen Kopf vom restlichen Körper trennte. Er wurde heute vor 75 Jahren, am 22. Februar 1943, hingerichtet. Er war 24 Jahre alt.
    Auch seine Schwester Sophie Scholl und der gemeinsame Freund Christoph Probst starben an diesem Tag in der Fallschwertmaschine. Es war das Ende der Widerstandsgruppe "Weiße Rose", die gegen die nationalsozialistische Diktatur gekämpft hatte, mit Flugblättern und dem eindringlichen Appell, Widerstand zu leisten. Vordenker der Gruppe war der Medizinstudent Hans Scholl.
    Der evangelische Theologe und Autor Robert M. Zoske hat eine Biografie über Hans Scholl vorgelegt - und darin geht es unter anderem um die religiösen Gründe, die Hans Scholl zum Widerstandskampf motivierten. Robert Zoske ist uns jetzt aus Hamburg zugeschaltet.
    Hans Scholls Abkehr vom Nationalsozialismus
    Monika Dittrich: Herr Zoske, in Ihrem Buch schildern Sie, dass Hans Scholl am Anfang ein begeisterter Anhänger des Nationalsozialismus war. Er war erfolgreich in der Hitlerjugend und träumte von einer Offizierskarriere in der Wehrmacht. Wie wurde aus diesem jungen Mann ein Widerstandskämpfer?
    Robert M. Zoske: Auf diese ganz wichtige Frage gibt es eine komplexe Antwort, keine Monokausalität, keine einfache Antwort: Ganz wichtig war auf alle Fälle für Hans Scholl - vom Anfang bis zum Ende – die Freiheit. Er starb, Sie haben es gesagt, mit dem Wort "Freiheit". Und solange er noch seine Freiheit in den nationalsozialistischen Verbänden ausleben konnte, war das okay. Denn er wollte auch führen und leiten. Und solange er noch nicht beschnitten wurde, machte er dort mit. Aber als es dann dazu kam, dass gesagt wurde "das darf man lesen – das darf man nicht lesen", "diese Überzeugung darfst Du vertreten – andere nicht", wandte er sich allmählich vom Nationalsozialismus ab.
    Robert Zoske
    Der Autor Robert M. Zoske hat ein Buch über Hans Scholls Beziehung zum Christentum geschrieben ((c) Frederika Hoffmann)
    Aber es gab zwei entscheidende Faktoren, die ihn wirklich vom Nationalsozialismus abgebracht haben: Das waren die beiden Hauptanklagepunkte im Prozess gegen ihn 1937-38, wo er vor Gericht gestellt wurde - einmal wegen "fortgesetzter bündischer Betätigung", weil er neben der Hitlerjugend eine Jungengruppe geführt hatte. Und der Vorwurf und die Anklage wegen §175 – Homosexualität. Diese beiden Punkte haben ihn zutiefst erschüttert, mehr noch die Anklage wegen Homosexualität.
    Es wurde ein Teil seiner Sexualität bloßgestellt, und da sah er sich damit konfrontiert: Kann ich dazu stehen oder nicht? Bei den ersten Gestapo-Verhörprotokollen fragten ihn die Gestapo-Beamten, warum sind denn diese "Schweinereien", die Hans Scholl zugegeben hat, überhaupt passiert? Hans hat gesagt: "Ich war ein Jahr" – und damit verkürzt er eigentlich die Zeit – "mit meiner großen Liebe Rolf Futterknecht zusammen." So war die Bezeichnung. Er sagte: "Rolf war meine große Liebe." Später wird er es auch wiederholen und sagen: "Es war große Liebe." Und eine dritte Formulierung ist: "Es war eine quasi übersteigerte Liebe."
    Und als ihm dann gesagt wurde, 1938 in dem Prozess: Deine Jungenpädagogik darfst Du nicht weiterbetreiben, nur innerhalb der Hitlerjugend – wenn Du das daneben machst, landest Du im Gefängnis. Und einen Teil deiner Sexualität, die Liebe zu Jungen oder zu Männern, die darfst Du nicht ausleben, sonst landest Du im Gefängnis oder im Zuchthaus.
    Widerstand gegen die "atheistische Kriegsmaschine"
    Dittrich: Sie beschreiben Hans Scholl in Ihrer Biografie als tiefreligiösen, protestantischen Menschen, erzogen von einer pietistischen Mutter. Und die Religion bewegte ihn dann auch zum Widerstand, wir werden gleich darauf kommen. Wir hören jetzt mal, wie Sie das in Ihrem Buch wiedergeben:
    "Wenn die Deutschen diese Gesetzlosigkeit weiter hinnähmen und ohne Mitleid für die Willküropfer blieben, seien sie ohne Gnade dem endzeitlichen Gottesgericht verfallen, das schon jetzt mit den Sensenhieben des Schnitters eingesetzt habe. Damit das Elend der Leidenden ein Ende habe und es nicht zum letzten apokalyptischen Gericht komme, müsse Widerstand geleistet werden: 'Leistet passiven Widerstand', forderte Scholl, 'Widerstand - wo immer Ihr auch seid, verhindert das Weiterlaufen der atheistischen Kriegsmaschine, ehe es zu spät ist.'"
    Dittrich: Soweit das Zitat aus Ihrem Buch, Robert Zoske. Sie zitieren Hans Scholl mit den Worten "Gottesgericht" und "atheistische Kriegsmaschine": War der Widerstand für ihn eine religiöse Pflicht?
    Zoske: Wenn man die ersten vier Flugblätter anschaut, die er zusammen mit Alexander Schmorell, seinem Freund, geschrieben hat, dann sind die Kategorien eindeutig: Es geht für ihn um einen Kampf zwischen Himmel und Hölle, zwischen Gott und Teufel, zwischen Christ und Antichrist. Und da sieht er sich als Gottes Werkzeug. Und er fordert die Christinnen und Christen auf: "Ihr müsst doch aufstehen, wenn Ihr an Gott glaubt, dann müsst Ihr doch gegen diesen Dämon, gegen diesen Inbegriff des Bösen, gegen Hitler, vorgehen!" Seine Begründung war ganz eindeutig religiös, christlich, metaphysisch. Dass das dann auch politisch war, weil er ja auch zum Umsturz aufrief, zum Widerstand, ist klar. Aber die Dimension war zuerst: Ich bin in einem Kampf, den Gott mir aufgetragen hat – und ich bin sein Werkzeug.
    Cover von Robert M. Zoskes Buch  "Flamme sein". Im Hintergrund ist das Mahnmal für die Geschwister Scholl an der LMU München zu sehen.
    Das Cover von Robert M. Zoskes Buch "Flamme sein". Im Hintergrund: das Mahnmal für die Geschwister Scholl an der Uni München. (C.H. Beck / imago stock&people)
    Dittrich: Sie haben eben die Freiheit angesprochen – vielleicht kriegen wir das ein bisschen zusammen, welche Rolle Freiheit und Religion hier spielten. Sie nennen in Ihrem Buch auch die Bedeutung von Friedrich Schleiermacher, dem protestantischen Theologen des 19. Jahrhunderts.
    Zoske: Diesen Begriff der religiösen Freiheit, den hat er von seiner Mutter, einer pietistischen Mutter, wirklich mitbekommen. Das war kein enger Pietismus, sondern ein fröhlicher, offener Pietismus, den er dann auch später, je älter er wurde, übernommen hat. Man kann bei Hans Scholl schon ganz früh sein Frommsein, seine religiösen Überzeugungen, sein Christentum feststellen. 1937, in einem der ersten Briefe, die überhaupt vorliegen, fordert er einen seiner Jungen aus der Jungengruppe auf, die christlichen flämischen Schriftsteller Claes und Timmermans zu lesen – und er fragt nach: "Liest Du sie? Und wenn Du sie gelesen hast, sei froh, weil sie Dir ein neues Lebensbild geben."
    Und dieser Freiheitsbegriff, den hat er später auch von Friedrich Schleiermacher übernommen, aber auch von Nikolai Berdjajew, die beide gesagt haben: Religion ist Ausdruck von Freiheit. Die Beziehung des Menschen zu Gott kann nur auf Freiheit und auf Liebe gründen. Und weil er sich abwandte vom Nationalsozialismus, brauchte er ein Gegenbild, einen Glauben, den er gegen den Nationalsozialismus stellen konnte. Und deshalb stützte er sich auf die Religion, er stützte sich auf den christlichen Glauben.
    Jesus als Gegengewicht zu Hitler
    Dittrich: Sie haben bei Ihren Recherchen auch einen Sensationsfund gemacht: Sie haben im Nachlass von Scholls Schwester Inge Gedichte von Hans Scholl gefunden, die bislang völlig unbekannt waren. Diese Gedichte zeigen Scholls religiöse Entwicklung. Aus dem Frühjahr 1938 gibt es etwa ein Gedicht mit dem Titel "Gott", das wir jetzt hören:
    Aus grauer Erde ließest Du quellen
    den Saft in funkelnde Trauben,
    du sandtest Regen, daß Halme schwellen
    mit Früchten wie goldene Hauben.

    Wir brachen die sonnigen Beeren,
    aus Perlen preßten wir Wein.
    Wir mähten und häuften die Ähren
    und Brot ward im glühenden Schrein.

    Wir schufen der Dinge Fülle
    Und Schwielen und Schweiß gaben wir.
    Schenk' du die Gnade - die Fülle,
    aus Leben form Seele in mir.
    Das Gedicht mit dem Titel "Gott". Die letzten beiden Zeilen, die wir gerade gehört haben, hat Scholl allerdings durchgestrichen. Was hat es damit auf sich?
    Zoske: Diese Veränderung und die Korrektur, die "Verbesserung" im wahrsten Sinne des Wortes, zeigen, wie Hans Scholl sich entwickelt hat. Da er sowohl das Originalgedicht wie die Verbesserung in Sütterlin geschrieben hat, in deutscher Kurrentschrift, kann man sagen, dass auch die Verbesserung kurz nach dem April 1938, dem Datum der Entstehung des Gedichtes, die Verbesserung durchgeführt hat. Die letzten beiden Zeilen streicht er. Aus diesem Seelen-Entstehen macht er ein:
    Du schenktest in Gnade die Fülle
    lebendigen Christus aus dir.
    Da war es ihm ganz wichtig, dass auf einmal aus diesem Erntedank-Gebet, aus diesem Erntedank-Gedicht ein Christusbekenntnis wird, ein Bezug zum Abendmahl, zu Wein und Brot. Und er bekennt damit im April 1938: Mir ist der lebendige Christus geschenkt worden. Das wiederholt sich in anderen Briefen ständig bis 1941-42, wo man ganz deutlich sieht: Entgegen dem Führer-Heiland, dem sogenannten hochstilisierten Adolf Hitler stellte Scholl den Retter-Heiland Jesus Christus.
    Dittrich: Wäre Scholls Widerstand gegen das NS-Regime ohne die pietistisch-protestantischen Wurzeln denkbar gewesen?
    Zoske: Er wäre undenkbar. Ohne dieses Gegenbild, ohne die Stütze, ohne den Glauben hätte er nicht widerstanden. Er hat ihm die Kraft gegeben, das zu wagen, was die wenigsten wagten. Und er hat gedacht und auch geschrieben: "Das Christentum muss nicht nur ein innerliches Christentum sein, sondern auch ein Christentum nach außen. Und wenn ich entdecke, dass ein Staat gegen Gott arbeitet, dann bin ich als Christ aufgerufen, etwas dagegen zu tun." Er hat sich selber so gesehen, dass er gesagt hat: "Ich bin klein und schwach, aber ich will das Rechte tun."
    "Jeder Scholl ist eine Ausnahmeerscheinung"
    Dittrich: Hans und Sophie Scholl wurden in der Nachkriegszeit oft als die ganz normalen Deutschen dargestellt, die Widerstand geleistet haben gegen die Hitler-Diktatur. Aber so ganz normal waren sie eben doch nicht, oder?
    Zoske: Ich zitiere da gerne den einzigen und engen Freund, nämlich Alexander Schmorell. Der besucht die Familie Scholl und er schreibt danach in einem Brief: "Ein jeder aus der Familie ist eine Ausnahmeerscheinung." Und das gilt ganz besonders für Hans, aber dann auch für Sophie Scholl. Sie waren eben nicht die "normalen Deutschen", nicht die "Volksgenossen" wie sie im Nationalsozialismus lebten. Sie waren keine "Volksgenossen", die man belobigen konnte, sondern sie waren Menschen, die bereit waren, anders zu denken und anders zu handeln.
    Robert Zoske: "Flamme sein – Hans Scholl und die Weiße Rose"
    C.H.Beck, 368 Seiten, mit Abbildungen und Gedichten von Hans Scholl, 26,95 Euro
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.