Dienstag, 19. März 2024

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Ian McGuire: "Nordwasser"
Die Einsamkeit im ewigen Eis

"Nordwasser" von Ian McGuire erinnert an die Walfang-Klassiker des 19. Jahrhunderts und die Einsamkeit im ewigen Eis. Doch anders als "Moby Dick" von Herman Melville heroisiert der Roman den Walfang nicht. Das gewaltgeladene Werk verbindet souverän Elemente des Kriminal-, Abenteuer- und historischen Romans.

Von Kirsten Reimers | 09.05.2018
    Vereiste Küste zur Abenddämmerung, Gimsoy, Lofoten, Norwegen, Europa
    In McGuires Roman geht es viel um Beschreibungen um die Verlorenheit im Eis. (imago/imagebroker/HeinzxHudelist )
    Im Jahr 1859 segelt das Walfangschiff "Volunteer" von der englischen Hafenstadt Hull Richtung Norden zur Baffinbucht, ins Nordwasser, um Wale zu fangen – an Bord eine sehr durchmischte Mannschaft. "Inkompetente und Wilde. Abschaum und Dreck des Hafenviertels", wie Kapitän Brownlee kommentiert. Die meisten von ihnen haben etwas zu verbergen, unter anderem auch der neue Schiffsarzt Patrick Sumner, der noch vor kurzem als Feldchirurg in Indien war und die blutige Belagerung von Delhi miterlebt hat.
    "Wenn es warm genug ist, sitzt Sumner auf dem Vordeck und hält nach Vögeln Ausschau - Brachvögel, Alpenschneehühner, Alkenvögel, Seetaucher, Eiderenten. Wenn er einen entdeckt, bittet er den Steuermann um eine ungefähre Angabe des Breitengrads und macht sich Notizen in seinem Buch. Wenn der Vogel nah genug ist, greift er manchmal zum Gewehr und schießt, aber meistens daneben. Seine Schießkünste sind bald Gegenstand von Witzen unter den Mannschaftsmitgliedern. Sumner interessiert sich nicht für Naturgeschichte; wenn die Reise zu Ende ist, will er das Notizbuch wegwerfen, ohne es eines weiteren Blickes zu würden. Er hält nur nach den Vögeln Ausschau, um sich die Zeit zu vertreiben und damit er beschäftigt und normal aussieht."
    Das Ende der Walfang-Ära
    Sumners steht im Mittelpunkt des Romans. Der opiumsüchtige Arzt hat nach seiner unehrenhaften Entlassung aus dem Militärdienst an Bord des Walfangschiffs angeheuert, um für eine Weile unterzutauchen und dann ganz zu verschwinden. Auch Kapitän Brownlee spielt nicht mit offenen Karten. Wie schnell klar wird, soll dies die letzte Fahrt der "Volunteer" werden. Walfang lohnt sich nicht mehr, die Meere sind überfischt, und Petroleum und Paraffin brennen besser und sauberer als Walöl. Es ist das Ende einer Ära. Um noch letztes Kapital daraus zu schlagen, plant Jacob Baxter, der Besitzer des Walfangschiffs, einen Versicherungsbetrug: Die "Volunteer" soll kentern. Und während das Walfangschiff seinem Ende entgegensegelt, was an sich schon dramatisch genug ist, geschieht auf ihm ein entsetzliches Verbrechen.
    Mit Seefahrerromantik hat "Nordwasser" von Ian McGuire rein gar nichts zu tun. Der Walfang wird in all seiner Grausamkeit gezeigt: die Erbarmungslosigkeit der Jagd, der Gestank, das Gekröse, das Blut bei der Verarbeitung der Wale. Die Männer an Bord sind keine Helden, keine todesmutigen Seebären. Sie sind, wie Kapitän Brownlee sagt, "ehrenhaft genug für unseren Beruf, der (…) eine rechte Drecksarbeit ist".
    Triebgesteuert, betrunken, stinkend
    "Nordwasser" ist ein wuchtiges, grimmiges, illusionsloses Buch über die Abgründe im Menschen und in der Zivilisation, so sinnlich wie körperlich erzählt. "Sehet den Menschen", lauten die ersten Worte des Romans. Und der Mensch, der dort zu sehen ist, gleicht einem Tier. Triebgesteuert, betrunken, stinkend:
    "Er schlurft aus Clappison’s Courtyard heraus auf die Sykes Street und schnüffelt die vielschichtige Luft – Terpentin, Fischmehl, Senf, Grafit, der übliche durchdringende morgendliche Pissegestank geleerter Nachttöpfe. Er schnaubt einmal, streicht sich über den borstigen Kopf und rückt sich den Schritt zurecht. Er riecht an den Fingern, dann lutscht er langsam jeden einzelnen und leckt die letzten Rest ab, um auch wirklich alles für sein Geld bekommen zu haben."
    Es ist Henry Drax, der Harpunierer der "Volunteer", der in den frühen Morgenstunden durch Straßen von Hull taumelt. Drax ist der Gegenspieler von Patrick Sumner. Der Arzt, verbittert und desillusioniert, vertraut auf Beweise und Logik, rezitiert in verzweifelten Situationen Homers "Ilias", um bei Verstand zu bleiben. Henry Drax hingegen folgt keinem Plan, er handelt aus spontanen Impulsen heraus, um seine Bedürfnisse umgehend zu befriedigen, und er geht dabei skrupellos wortwörtlich über Leichen. Schon auf den ersten Seiten begeht er zwei brutale Morde. Mannschaftsmitglieder bezeichnen ihn später als "Teufel", doch Drax ist der notwendige Mann fürs Grobe für Kapitän Brownlee und Schiffseigner Baxter. Er ist Teil, er ist Ergebnis und Notwendigkeit der Zivilisation westlicher Prägung. Er ist ihre Schattenseite.
    Ein brillant geschriebener Alptraum
    Joachim Körber hat diesen brillant geschriebenen Albtraum hervorragend übersetzt. McGuires Hyperrealismus und die ungeheure Präsenz, die er erschafft, sind in jeder Zeile zu spüren: Um sich in einem Schneesturm zu retten, weidet Sumner einen soeben getöteten Eisbären aus und kriecht in die leere Hülle hinein – ein Blutbad, in einer Intensität erzählt, dass man es riechen kann. Genauso beeindruckend sind die Landschaftsschilderungen, die Beschreibungen des Polarmeers, der Einsamkeit und Verlorenheit im Eis, aber auch der überwältigenden Schönheit der gleichgültigen Natur:
    "Das Packeis ist vom Wind rissig geworden, hat sich zu Pressrücken gewölbt und ist erneut zu einer zerklüfteten Landschaft schiefer und geneigter Blöcke erstarrt, die sich unebenmäßig und reglos präsentiert. In der Ferne ragen schwarze Berge opulent und gargantuesk empor. Der tief hängende Himmel hat die Farbe von milchigem Quarz."
    Ian McGuire wuchs auf in Hull, dem ehemaligen britischen Zentrum der Walfangindustrie. Der 54-Jährige unterrichtet Literatur an der Universität Manchester und ist Experte für englischsprachige Literatur des späten 19. Jahrhunderts. Dies alles spiegelt sich in "Nordwasser" wider. Die Bezüge zu Romanen von Jack London und natürlich von Herman Melville wie auch zu anderen Klassikern der Seefahrt- und Eismeerliteratur sind unübersehbar. Aber dennoch ist "Nordwasser" mehr als deren Nachklapp oder gar eine Ansammlung von Zitaten. Obwohl der Roman Mitte des 19. Jahrhunderts spielt, ist er in seinen psychologischen, philosophischen und moralischen Dimensionen sehr heutig. Fragen von Gut oder Böse spielen keine Rolle. Das Hässliche, Grausame, der Wunsch zu töten und andere zu dominieren, findet sich in jedem, der in diesem Buch auftritt, es ist fester Bestandteil des Menschen und der Zivilisation. Ian McGuire verbindet in "Nordwasser" souverän Elemente des Kriminal-, Abenteuer- und historischen Romans und schafft damit einen ebenso modernen wie zeitlosen Roman, der erschüttert, verstört und begeistert.
    Ian McGuire: "Nordwasser"
    Mareverlag 2018, 304 Seiten, 22 EUR