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Ich aber bin hier geboren

In einem kleinen Seeort. Dort, wo vieles nur Illusion ist. Wo die roten Backsteine vor die Betonwände geklinkert sind und die Atmosphäre bloß vortäuschen; wo das Reet auf die Dächer von Betonhäusern gedeckt ist; wo der Hafen zugeschüttet wurde, um einem Parkplatz zu weichen, der den modernen Zeiten und den Geldeinnahmen Einlass gewähren soll - dort, in diesem namenlosen Ostsseebad, spielt eine von Gregor Sanders neun Geschichten. Genau hier in diesem verlassenen und sich selbst überlassenen Nest spielt die Geschichte zweier Freunde. Von denen man nicht weiß, ob sie nicht doch eher Feinde sind: Menschen, die bloß gezwungen sind, einen Ort und ein Schicksal zu teilen.

Oliver Seppelfricke | 27.01.2003
    Zwei verkrachte Existenzen jedenfalls in den Vierzigern, Richard, der Restaurantbesitzer mit Saisonneurosen, und Johannes, der Lehrer, der nur in Schwarz herumläuft. Und denen Gregor Sander eines Tages Marlene über den Weg laufen lässt. Ein Mädchen, halb so alt wie die beiden, die den Alltag der Männer durcheinanderbringt und die dann ebenso schnell verschwindet, wie sie gekommen ist. Am Ende steht das Schweigen. Und der alte Trott aus Anziehung und Gewohnheit, aus den Trink- und Streitritualen am Küchentisch, und als die beiden nach einem solchen Gelage in den Morgen ziehen, sich umarmend, da weiß man nicht, ob sie sich nun lieben oder hassen, diese zwei Menschen, die aufeinander angewiesen sind.

    Es ist eine stimmige Erzählung über zwei alternde Männer, an denen das Leben vorbeizieht, und doch hat sie ein junger Mann von 34 Jahren geschrieben. Schon hier, in der Eingangserzählung, zeigt sich das große Talent von Gregor Sander: sein Einfallsreichtum und seine Sensibilität.

    Gregor Sanders leise und zugleich starke Geschichten handeln von den menschlichen Beziehungen. Von Menschen, zwischen 20 und 40 Jahren zumeist, flüchtige Existenzen, die ihr Lebensglück suchen, selten in der Arbeit und allein, sondern meistens mit anderen in Gruppen. Da sind vier Freunde, die eines Tages in ihrer Stammkneipe auf die Idee kommen, eine Bank auszurauben. Bevor einer von ihnen dann eine erbt durch einen reichen Onkel, der stirbt. Da ist der Freund, der sich aufmacht, einen Verschwundenen zu suchen, und der doch nicht nach dem Vermißten sucht, das wäre sinnlos, sondern der nach dem forscht, was übrig geblieben ist zwischen ihnen. Und da ist der ältere Mann, der sich eines Tages schweigend auf eine Bank ans Meer setzt, und einen Rekordversuch im stillen Schauen auslöst, der ins Guiness-Buch Eingang findet - Gregor Sanders Geschichten spielen überall. In der Stadt oder auf dem Land, in der Hektik und im Lärm oder in der Stille, aber immer geht es um ein Verlorensein im Leben, um eine Suche nach Sinn, die auch schon einmal im Auffinden der nächsten Zigarette ein Ende finden kann. Der Fokus ist immer ein bestimmtes Gefühl, ein kurzer Moment in einem Leben, und das meiste davon findet in der Fantasie der Leser statt.

    Gregor Sanders neun Geschichten sind meist kaum 15 Seiten lang. Lang genug, um ein Lebensrätsel zu stellen, kurz genug, um es am Schluss offen zu lassen. Die Geschichten sind in einer völlig ruhigen und klaren Sprache geschrieben, fast schon kühl, wenn da nicht immer dieses brodelnde Rätsel wäre, das Leben heißt. Gregor Sander fängt es in stimmigen Bildern ein: Welches Schicksal deutet sich zum Beispiel an, wenn der erfolglose Maler mit seiner Frau, einer Halbtagsgrafikerin, und mit seinen zwei Kindern am Frühstückstisch sitzt, sie alle durch sich hindurchschauen, während das Baby mit dem Löffel in der Müslischale schlägt, das alles an einem dämmrigen Morgen und aus dem Fenster der gegenüberliegenden Wohnung beobachtet - es sind diese kleinen Szenen ohne viele Worte, diese gefrorenen Augenblicke, die die große Stärke dieses Buches ausmachen. Bewegte Bilder vor dem inneren Auge des Lesers, stumm und doch sprechend, gesprächig fast, wenn man sie reden ließe. Jede der neun Geschichten trägt dabei einen eigenen Ton.

    Im Zentrum aller Geschichten liegt die Verlorenheit. Das Gefühl ausgesetzt zu sein in den Widrigkeiten des Lebens. Und doch sind die Erzählungen nicht pessimistisch oder lebensschwer. Sie sind statt dessen leicht und fast neutral zu nennen, denn sie sind weder hoffnungsfroh noch jammervoll, weder verzweifelt noch fröhlich. Auch wenn viel von Verzweiflung die Rede ist. Es sind Geschichten, wie sie heute von einer jungen, desillusionierten Generation kommen, von 30-40-jährigen Autoren, die sich nach dem Spaß des Pop wieder um Ernst und Tiefe kümmern. Es sind Geschichten von einer Sehnsucht nach Liebe, nach Geliebtwerden, kurz: vom Allermenschlichsten. Und vom Scheitern dieser Hoffnung. Egal, ob in Ost oder West, ob im Norden oder im Süden, ob bei alt oder jung. Insofern halten wir mit Gregor Sanders Erzähldebüt, das zu den besten Neuerscheinungen in diesem Bücherherbst gehört, auch einen neuen Typus junger deutscher Literatur in den Händen: Denn es ist nicht mehr eine bestimmte Sozialisation, die hier durchscheint, nicht mehr ein junger west- oder ostdeutscher oder gar ein "Berliner" Autor, sondern Gregor Sander, geboren 1968 in Schwerin, ist einer der ersten, der für eine junge gesamtdeutsche Literatur steht: Suchen und Scheitern ist überall!

    Und noch etwas fällt auf: Gregor Sanders Erzählungen, denen man denselben Erfolg wünscht wie Judith Hermanns "sommerhaus, später", hat sich nicht umsonst am Ende bei der befreundeten Autorin Hermann bedankt. Wie auch sie brilliert er mit leichtem Ton und genauen Beschreibungen, mit Geschichten von Anziehung und Angst, von Verlangen und Schmerz, von Gefühlen, die sich nicht ausleben können und versanden, und am Ende der Geschichten hält man trotz aller Ausführlichkeit der Handlungen und Szenerien nicht mehr in den Händen als ein Nichts. Eine bloße Ahnung, was Leben sein könnte, was es bedeuten könnte, welchen Sinn das alles machen könnte. Wie eine Kamera hat das Erzählen Räume und Personen umkreist, hat kleinste Einzelheiten erfasst, und am Ende hält man nur die Leere fest. Große Kunst also auf kleinem Raum - wenn nicht alles täuscht, wird man diese literarische Vorlage, wie so vieles aus letzter Zeit, wohl bald auch im Kino finden. Starke Bilder über unsere Gegenwart!