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IG-Metall-Wahl
Wetzel ist "nicht der große Visionär"

Eine bessere Situation von prekär Beschäftigen sei eine wichtige Aufgabe des neuen Chefs der IG Metall, Detlev Wetzel, sagt Klaus Dörre, Sozialwissenschaftler an der Universität Jena. Wetzel sei dabei eher ein Pragmatiker, was sein schlechtes Wahlergebnis erklären könnte.

Klaus Dörre im Gespräch mit Birgid Becker | 25.11.2013
    Detlef Wetzel, der neue Vorsitzende der IG Metall
    Birgid Becker: Klaus Dörre, Gewerkschaftsforscher, Sozialwissenschaftler aus Jena, habe ich vor der Sendung gefragt, was denn an Wetzel gestört hat, was ihm denn das schwache Wahlergebnis eingetragen hat.
    Klaus Dörre: Das ist natürlich von außen schwer zu sagen, weil solche Kongresse auch immer eine Eigendynamik haben. Und es ist auch überraschend, weil die IG Metall so gut dasteht wie seit Langem nicht mehr: Mitgliederzugewinne, auch netto, wieder gefragter Gesprächspartner der Eliten. Aber Detlef Wetzel ist jemand, der neue Wege beschritten hat, der neue Organizing-Methoden, Methoden zur aktiven Gewinnung neuer Mitglieder ausprobiert hat. Und ich glaube, dass Innovateure, die Neues probieren, immer auch anecken. Insofern könnte das einer der Gründe sein für das relativ schwache Wahlergebnis.
    Becker: Sie haben gesagt, die IG Metall steht besser da als lange Zeit zuvor. Tatsächlich hat man ja in den letzten ein, zwei Jahren damit aufgehört, die Gewerkschaften als sterbende Dinosaurier zu betrachten. Zurecht und wie viel Anteil hat für die IG Metall Detlef Wetzel daran?
    Dörre: Ich glaube, dass man von einem gewissen Comeback der Gewerkschaften tatsächlich sprechen kann – nicht nur im IG-Metall-Umfeld. Man merkt, dass es insbesondere bei jungen Leuten, aber auch in Gruppen, Leiharbeiter, prekär Beschäftigte, eine neue Offenheit für Gewerkschaften gibt, auch für gewerkschaftliche Organisierung. Es gibt verbreitetes Ungerechtigkeitsgefühl in der Gesellschaft, davon können die Gewerkschaften, wenn sie es richtig anstellen, eigentlich profitieren. Und Detlef Wetzel hat sich als ein pragmatischer Organisator, gewissermaßen als Innenminister der IG Metall verdient gemacht. Er hat neue, unkonventionelle Wege probiert, Mitglieder zu gewinnen, auch Mitglieder, die austreten wollen, zu halten. Allerdings – das könnte vielleicht auch ein Grund sein – was man ihm vielleicht nicht zutraut in der Breite der Organisation, das sind die großen Visionen, der lange Pass, wenn man in der Fußballersprache sprechen will. Er ist jemand, der für pragmatische Interessenvertretungen bekannt ist, der auch den Konflikt nicht scheut, auch den Konflikt mit der anderen Seite nicht scheut, aber er ist nicht der große Visionär. Und möglicherweise gibt es da bei manchen Delegierten Skepsis oder die Frage, ob er in der Lage ist, die Organisation von der Spitze aus zusammenzuhalten.
    Becker: Was für Visionen könnte denn der Chef der größten Gewerkschaft in Europa haben?
    Dörre: Na ja, wir sind in einer dramatischen Umbruchsituation – Stichworte: die europäische Krise, die ja noch lange nicht vorbei ist, die ökologischen Verwerfungen. Es geht ja eigentlich ans Eingemachte, auch der Organisationsbereich in der IG Metall. Man denke nur daran, auf der einen Seite die im Moment wenig erfolgreichen Versuche, eine aktive Klimaschutz-Politik zu machen. Wenn man da ernst macht mit neuen Mobilitätssystemen, das würde natürlich auch an die Hochburgen der IG Metall gehen, weil da dramatische Veränderungen stattfinden müssten. Und in einer solchen Situation kommt es natürlich auch darauf an, dass eine Gewerkschaft weitreichende, über den Tag hinaus gehende Vorstellungen entwickelt über die anstehenden Veränderungen in der Gesellschaft. Und da bin ich nicht sicher, ob die Organisation das Detlef Wetzel zurzeit bereits zutraut. Aber wir werden uns überraschen lassen. Möglicherweise wird auch da Neues passieren.
    Becker: Detlef Wetzel und sein zweiter Mann, Jörg Hofmann, werden es politisch ja voraussichtlich mit einer Großen Koalition zu tun haben und die wird voraussichtlich auch wieder einen Mindestlohn einrichten. Und, was für die Autobranche und die Metall- und Elektroindustrie wohl wichtiger ist, diese neue Große Koalition will auch etwas gegen missbräuchlich eingesetzte Werkverträge tun. Soweit es absehbar ist, agiert also dieses neue Duo an der Spitze der IG Metall politisch in einem eher friedlichen Klima. Ist das gut oder schlecht für eine Gewerkschaft?
    Dörre: Das ist einerseits gut, weil natürlich die Vorsitzenden der IG Metall auch nüchtern registrieren müssen, dass die CDU diejenige Partei ist, die unter den Gewerkschaftsmitgliedern die größten Stimmenzuwächse hat. Auf der anderen Seite, wenn ich mir anschaue die Europapolitik, die strikte Austeritätspolitik und das, was jetzt durchsickert in den Koalitionsvereinbarungen, ist eigentlich, dass es da keine substanziellen Änderungen geben wird. Und das ist natürlich ein sehr neuralgischer Punkt für Gewerkschaften, weil unter den Bedingungen des europäischen Stabilitätspakts, der gegenwärtigen Fiskalpolitik es für Gewerkschaften in ganz Europa, auch in Deutschland sehr schwer werden wird, überhaupt noch eine autonome erfolgreiche Tarifpolitik machen zu können als ein Beispiel. Und deshalb bin ich nicht sicher, ob es ausreichen wird, der Großen Koalition einige Dinge ins Stammbuch zu schreiben, obwohl – auch das muss man sehen – ein allgemeiner gesetzlicher und flächendeckender Mindestlohn natürlich ein großer Fortschritt wäre für die prekär Beschäftigten und die Niedriglohn-Bezieher. Also ich glaube, natürlich müssen die Gewerkschafter Ergebnisse vorweisen. Und da könnte es Erfolge geben, aber für die großen Fragen, die auch die IG Metall zu beantworten hat, da fürchte ich, da wird bei der Großen Koalition nicht allzu viel herauskommen.
    Becker: Was gehört denn nach Ihrer Einschätzung jetzt zu den vordringlichen Aufgaben von Detlef Wetzel? Woran wird er sich messen lassen müssen?
    Dörre: Na ja, das ist zunächst mal das Kerngeschäft. Er hat angekündigt, sehr selbstbewusst, dass mit ihm an der Spitze das Prekaritätsthema an der Spitze der IG Metall stehen wird. Das ist in der Tat etwas, woran er gemessen werden wird. Die größten Mitgliederzuwächse der IG Metall kommen von jungen Leuten, von Leiharbeitern, von prekär Beschäftigten. Und die haben natürlich die Erwartung, dass der Sprung in die Stammbelegschaft sich verbessert, dass bei gleichem Lohn für gleiche Arbeit substanzielle Fortschritte kommen. Und sie haben natürlich die Erwartung, dass, wenn es neue Krisensituationen gibt – und die werden kommen -, nicht das gleiche passiert wie 2009, dass die Leiharbeiter sang- und klanglos entlassen werden und es keinen nennenswerten gewerkschaftlichen Widerstand gibt. Nach unseren Forschungen ist es so, dass viele der jungen Leute, auch der Leiharbeiter, die sich jetzt entschlossen haben, sich zu organisieren, da ist es sozusagen eine Mitgliedschaft, die unter einem Vorbehalt steht: Wir wollen sehen, dass was rauskommt. Und wenn nichts rauskommt, dann gehen wir auch wieder. Das ist der eine Punkt.
    Es gibt einen zweiten Punkt. Die IG Metall wird natürlich nicht nur an den prekär Beschäftigten gemessen. Das, was in den Organisationsbereichen auch der Festangestellten, insbesondere bei den qualifizierten Jobs, auch den Angestelltenjobs zu verzeichnen ist, das ist eine enorme Zunahme des Stresses bei der Arbeit, wenn man so will, ein enormer Druck. Das Gefühl, keine Zeit mehr zu haben, das Gefühl, dass man immer mehr leisten muss und es kein Ende dieser Leistungsspirale gibt. Und auch da sind, glaube ich, ganz neue Ansätze gefordert. Das heißt, die IG Metall muss auch qualitativ, was die Qualität der Arbeit betrifft, wieder eine Stimme bekommen. Aber auch da gibt es interessante Vorschläge, den ganzen Bereich gute Arbeit, wo es um eine europäische Anti-Stress-Richtlinie geht, wo es um qualitative Veränderungen in der Arbeitswelt geht. Und ich glaube, dass das für die Kernklientel der IG Metall ganz wichtig ist.
    Becker: Und über die klassische Tarifpolitik, die sich in Lohnprozenten misst, geht das ziemlich weit hinaus.
    Dörre: Da geht es sehr weit hinaus. Aber es ist natürlich klar: Eine IG-Metall-Führung, die beim Lohn nicht draufsattelt, die wird es auch schwer haben. Allerdings, wenn man sich die jungen Leute anschaut – das macht ja schlagwortartig unter Generation Y die Runde -, haben wir immer häufiger Anspruchshaltungen, wenn das Geld einigermaßen stimmt, dann eben zu sagen, ich will mehr Zeit für eine Tätigkeit, die mich befriedigt, mehr befriedigt als meine Berufstätigkeit. Deshalb mache ich lieber 75 Prozent, um noch Freiraum für was anderes zu haben, ich promoviere nebenher etc. Das heißt, es gibt sehr flexible Arbeits- und Lebensentwürfe. Und auch darauf muss sich die IG Metall neu einstellen. Nur beim Geld allein kann man keine zureichenden Punkte machen für eine zukunftsorientierte Organisation.
    Becker: Der Jenaer Sozialwissenschaftler Klaus Dörre war das.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.