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"In Belgien ist eine Niere gemeldet worden!"

Die Stiftung Eurotransplant liegt in der Rembrandtstadt Leiden und vermittel pro Jahr rund 7000 Organe. Trotzdem stehen knapp 16.000 Patienten auf der Warteliste. Große Hoffnung macht das sogenannte Erklärungsmodell, das in Deutschland eingeführt werden soll.

Von Kerstin Schweighöfer | 02.01.2012
    Weiße Wände und rundherum lang gezogene Schreibtische, an denen 18 Mitarbeiter konzentriert vor ihren Bildschirmen sitzen. So sieht der Arbeitsplatz von Alinde Hop aus. Die 33jährige arbeitet im sogenannten Allokationsbüro, dem Verteilerzentrum von Eurotransplant in Leiden.

    "In Belgien ist eine Niere gemeldet worden!" stellt sie beim Kontrollieren ihrer E-Mail fest. Sofort gibt Alinde Hop die Informationen, die sie über den Spender erhalten hat, in ihren Computer ein: Blutgruppe, Gewebe, Gewicht, Alter, Geschlecht.

    Die Niere gehörte einem Mann, 50 Jahre alt, Hirnblutung. Mehr erfährt Alinde Hop nie über einen Spender.

    Mithilfe eines speziellen Softwareprogramms hat der Computer die Informationen rasend schnell verarbeitet und spuckt nun eine Reihe von bestgeeigneten Empfängern aus, alle mit einer Nummer versehen. Ganz oben steht der "perfect match" - ein Patient aus Deutschland.

    Alinde ruft umgehend das entsprechende Transplantationszentrum an:

    "... ja, das ist für Patient mit Empfängernummer 112-345 ... "

    Die Reihenfolge dieser Liste wird nicht nur durch Verträglichkeitskriterien wie Gewebeeigenschaften oder Blutgruppe bestimmt: Berücksichtigt wird auch, wie dringlich die Lage ist, wie lange der Transport dauert und der Patient schon wartet – und aus welchem Land das Spenderorgan kommt.

    Denn Länder mit der sogenannten Widerspruchslösung wie Belgien, Österreich und Kroatien haben eine hohe Organspenderate, da man dort automatisch Organspender ist - es sei denn, man erklärt sich ausdrücklich dagegen.

    In Deutschland und den Niederlanden ist es genau umgekehrt: Dort gilt das Zustimmungssystem, man muss einen Spenderausweis haben. Folge: Diese Länder haben eine niedrigere Spenderrate. Deshalb sind die Wartezeiten dort länger. Das soll für Gerechtigkeit sorgen und verhindern, dass ein Land Organe nur empfängt oder, das andere Extrem, nur in großem Umfang liefert.

    "Sie haben jetzt eine Stunde Zeit ... okay, bis später, tschüss."

    Bei einer Niere kann sich die Empfängerseite mit der Zusage eine Stunde Zeit lassen, bei den anderen Organen nur eine halbe. Denn da kommt es auf jede Minute an: Leber, Herz und Lungen werden deshalb oft per Charterflugzeug oder sogar -Helikopter transportiert, während bei Nieren PKW und Linienflüge ausreichend sind.

    Die Verteilerregeln entsprechen den gesetzlichen Vorschriften, wie sie in den angeschlossenen Ländern gelten. Daran muss sich Eurotransplant halten. Jede Verteilung wird einen Tag später von einem zweiten Mitarbeiterteam und zudem stichprobenartig von externen Ärztekontrollgremien überprüft.

    "Das soll Missbrauch ausschließen”, erklärt Axel Rahmel. Der Göttinger Internist ist seit 2005 medizinischer Direktor von Eurotransplant.

    "Wir haben ein System zur Verteilung der Organe, das transparent, objektiv, verlässlich ist und es jederzeit möglich macht, Rechenschaft abzulegen."

    Rahmels größtes Problem ist Organmangel. In den Mitgliedsländern sterben jeden Tag vier Patienten, weil sie nicht rechtzeitig ein Organ bekommen haben. Drei der vier Toten kommen aus Deutschland, dem größten Mitgliedsland. Dort jedoch ist die ohnehin schon niedrige Spenderrate 2011 weiter gesunken.

    Die geplante neue Organspenderegelung kann Rahmel deshalb nur begrüßen: Die Bundesbürger sollen angeregt werden, sich zeit ihres Lebens als Organspender zu erklären - zum Beispiel, wenn sie einen neuen Pass oder Führerschein abholen.

    Bislang kommen in Deutschland auf eine Million Einwohner 15 Spender. Durch die neue Regelung, schätzt Rahmel, könnten es 20 pro eine Million werden.

    Zum Vergleich: Die höchste Spenderrate im Eurotransplantverband haben Belgien, Kroatien und Österreich, sie bringen es auf 25-30 Spender pro eine Million Einwohner - also fast doppelt so viele wie in Deutschland. Was nicht von ungefähr kommt, denn in diesen Ländern gilt die Widerspruchslösung.

    Natürlich wäre es den Eurotransplantexperten am liebsten, wenn alle Mitgliedsländer auf dieses Modell übergehen würden. Aber es lässt sich nicht über Nacht einführen, da spielen oft kulturelle Einflüsse eine Rolle:

    "Viele sind der Überzeugung, dass die hohen Organspenderaten in Belgien und Österreich auf Maria Theresia zurückgehen."
    Denn die Kaiserin sorgte dafür, dass jeder Tote obduziert werden musste. Die Unversehrtheit des Körpers ist für einen Österreicher dadurch noch heute weitaus weniger wichtig als etwa für einen Deutschen oder Niederländer.

    Eurotransplant