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Indisches Großprojekt zur Fluss-Umleitung umstritten

Indien ist ein Land der Widersprüche: Mancherorts prägt Dürre mit ausgedehnten Wüsten das Land; andernorts gibt es Wasser im Überfluss. Doch das muss nicht sein, meint jedenfalls die indische Regierung. Mit einem groß angelegten Plan will sie Flüsse umleiten und die Wasserversorgung in Dürreregionen verbessern.

Von Rainer Hörig | 03.01.2006
    Am 26. Juli erlebte Bombay, heute Mumbai genannt, eine Sintflut. Ungewöhnlich starke Regenfälle setzten innerhalb weniger Stunden Straßen, Eisenbahngleise, Slumkolonien und Apartmenthäuser unter Wasser. Die Stromversorgung brach total zusammen, alle Mobiltelefone verstummten. 24 Stunden lang stand Indiens größte Stadt still. Nach offiziellen Angaben starben 736 Menschen.
    Zur selben Zeit litten gut eintausend Kilometer nördlich, in der Wüste von Rajasthan die Menschen unter einer Dürre. Demonstrierende Bauern, die Wasser für ihre Felder forderten, wurden mit der ganzen Härte der Polizei konfrontiert. Im Juni starben fünf Bauern durch Polizeikugeln.

    Immer mehr Menschen sind in Indien von Dürren und Überschwemmungen betroffen. Konflikte um die schwindenden Wasserreserven häufen sich. Die meisten Flüsse und Seen sind so stark verschmutzt, dass ihr Wasser eigentlich ungenießbar ist. Fast überall sinken die Grundwasservorräte. Die großen Flüsse im Süden, Krishna, Godaveri und Cauvery sind bereits so häufig aufgestaut, dass ihre Mündungen unter Wassermangel leiden. Und in Zukunft benötigt Indien noch viel mehr Wasser, für neue Stadtviertel und Industriebetriebe, um Lebensmittel für eine wachsende Bevölkerung zu produzieren. Alle reden von einer drohenden Wasserkrise und mahnen zum Handeln.

    Abhilfe soll ein gigantisches Wasserbauprojekt schaffen, das seit mehr als zwanzig Jahren im Ministerium für Wasser-Ressourcen untersucht und geplant wird: die Vernetzung nahezu aller großer Flusssysteme des Subkontinents, einschließlich des Ganges und des Brahmaputra. Mehr als dreißig große Staudämme sollen Flutwasser auffangen und, verbunden über schiffbare Kanäle, mehr als 2000 Kilometer weit in den Süden des Subkontinents umleiten. Der pensionierte Ingenieur M.G. Padhye, der als Staatssekretär im Ministerium für Wasser-Ressourcen in den achtziger Jahren die Untersuchungen einleitete, erläutert das so genannte Programm zur Verbindung der Flüsse:

    "Wir beobachten, dass der eine Fluss zu viel Wasser führt, ein anderer dagegen zu wenig, um die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Hier setzt das Projekt an: Im Prinzip halten wir überflüssiges Flutwasser, das sonst nutzlos ins Meer fließen würde, in Staubecken zurück und leiten es über Kanäle in Dürregebiete um. Wenn das Projekt erfolgreich verläuft, werden wir 25 Prozent mehr Wasser zur Verfügung haben und könnten damit zusätzlich 35 Millionen Hektar Land bewässern."

    Kein geringerer als der Präsident Indiens, Abdul Kalam nutzte seine von vielen Fernsehanstalten übertragene Ansprache zum Unabhängigkeitstag im vergangenen August, um an die Nation zu appellieren, die Vernetzung der Flüsse im Eiltempo zu verwirklichen. Eine Woche später unterzeichneten zwei Unionsstaaten eine Vereinbarung über die Realisierung der ersten Flussumleitung. Doch viele Kritiker, unter ihnen Wissenschaftler, Umweltschützer, Bauernverbände, mahnen zur Vorsicht und fordern wissenschaftliche Belege für die Rentabilität des Programms. Himanshu Thakkar, der in Neu Delhi das Netzwerk South Asian Network on Dams, Rivers and People leitet:

    "Die Vernetzung der Flüsse wird katastrophale Folgen haben. Sie wird die Flüsse zerstören, außerdem Wälder und Ackerland vernichten. Millionen Menschen würden vertrieben werden, denn das Programm benötigt Hunderttausende Hektar Land. Stromabwärts der Dämme wird es zur Wasserknappheit kommen, zur Versalzung der Böden, zur Konzentration von Schadstoffen im Flusswasser und schließlich zur Zerstörung der biologischen Artenvielfalt."

    Unter den führenden Staudammkonstrukteuren der Welt belegt Indien die dritte Position. 4291 große Staudämme und die damit verbundenen Bewässerungssysteme halfen, die Getreideproduktion zu steigern und das ehemalige Hungerland von Nahrungsmitteleinfuhren unabhängig zu machen. Aber sie entwurzelten nahezu 40 Millionen Menschen und zerstörten vielerorts das ökologische Gleichgewicht. Heute ruft nahezu jedes neue Staudammprojekt Widerstand unter Anwohnern hervor, die um ihre Lebensgrundlagen fürchten. Dabei gibt es längst Alternativen. Der Ingenieur und Staudammkritiker Himanshu Thakkar hat sich ausführlich mit angepassten, von den Betroffenen selbst verwalteten Bewässerungssystemen beschäftigt:

    "Lokale, traditionelle Wasserbausysteme besitzen ein gewaltiges Potential für die ländliche Entwicklung. Damit meine ich etwa Projekte zur Entwicklung von Wassereinzugsgebieten, die in vielen Regionen Indiens das Leben der Menschen verändern. Auch die Sanierung Tausender Dorfteiche kann zur Dürrebekämpfung beitragen. Kurzum, wir müssen die Regenfälle an Ort und Stelle auffangen und speichern und so die Grundwasservorräte wieder auffüllen."