Donnerstag, 28. März 2024

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Israel
Wehrpflicht-Gesetz auch für Ultraorthodoxe

Die Gründe für einen grundsätzlichen Antimilitarismus der ultraorthodoxen Juden, der Charedim, liegt nicht nur in der Beschränkung des Lebens auf das Geistige. Auch die Erfahrung des Ersten Weltkrieges trug dazu bei. Das Gesetz zum Dienst an der Waffe stellt nun den Konflikt vor allem als Konfrontation zwischen Charedim und Säkularen heraus.

Von Ruth Kinet | 18.03.2014
    Hinter einer Absperrung beschimpfen ultraorthodoxe Juden in Jerusalem am 06.02.2014 die israelische Polizei.
    Die Proteste der ultraorthodoxen Juden gegen das neue Gesetz zum Wehrdienst setzen sich fort. (epa / Jim Hollander)
    600.000 bis 800.000 Ultraorthodoxe aus ganz Israel gingen vor einer Woche in Jerusalem auf die Straße, um die Verabschiedung eines Gesetzes in der Knesset aufzuhalten, das auch junge ultraorthodoxe Männer zum Wehrdienst verpflichtet. Doch vergeblich, denn am vergangenen Mittwoch verabschiedete das Parlament in Jerusalem eine Gesetzesreform, die auch von streng religiösen jungen Männern den Militärdienst fordert.
    "Höre Israel! Der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist Einzig", riefen die streng religiösen Demonstranten auf den Straßen Jerusalems. Es schien, als wollten sie die säkulare Mehrheit jüdischer Israelis mit ihrem hunderttausendfach verstärkten "Schma Israel" an die Essenz des jüdischen Monotheismus erinnern. Als wollten sie daran erinnern, dass das Volk Israel zu allererst seinem Gott verpflichtet ist, nicht etwa einem Staat und dessen Ordnung. Sie verwandelten die Straßen Jerusalems in ein im Gebetsrhythmus wogendes Meer aus schwarzen Hüten und Anzügen. Ihr Rufen aber brachte die Abgeordneten der Knesset nicht von ihrem Vorsatz ab, die staatsbürgerlichen Lasten nach fast 66 Jahren auch auf die Schultern der ultraorthodoxen Talmud-Studenten zu verteilen.
    Geistliches Streben wider weltliche Macht
    Während säkulare Israelis die Weigerung der charedischen, also streng religiös lebenden Juden in ihrem Land als Ausdruck von Faulheit, Feigheit und Illoyalität interpretieren, berufen sich die Charedim selbst auf ihre Tradition. Einer, der die Wurzeln dieser Tradition kenntnisreich freizulegen vermag, ist Maoz Kahana. Er lehrt Geschichte des Judentums an der Universität Tel Aviv und gehört selbst der charedischen Gemeinschaft an:
    "Während der gesamten Zeit des Chazal, also der Ära der rabbinischen Gelehrten zwischen 200 vor und 600 nach unserer Zeitrechnung, dominiert eine klare Distanz der Juden zur weltlichen Macht. Wenn im Tanach, der Bibel, die Rede vom Krieg ist, dann interpretieren die Gelehrten des Chazal das als eine innere Auseinandersetzung des Menschen. Das ist verwoben mit der Idee des Tikkun Olam, der Mitwirkung des Menschen an einer Verbesserung der Welt und der göttlichen Schöpfung. Das Ideal ist die Konzentration auf eine Welt, in der es keine Macht mehr gibt und es keine Macht mehr braucht, in der es keinen Hass und Neid gibt und natürlich auch keinen Krieg."
    Religiöse Juden träumten nicht davon, Piloten oder High-Tech-Manager zu werden, sagt Maoz Kahana. Sie wollten vielmehr Torah-Gelehrte sein. Jenseits dieser grundlegenden Ausrichtung auf das geistige Leben und Wachsen sieht Kahana in der Erfahrung jüdischer Soldaten im Ersten Weltkrieg eine weitere Ursache für den entschiedenen Antimilitarismus der streng orthodox lebenden Juden in Israel:
    "Meine Großväter haben wie die fast aller anderen Israelis teilweise in der deutschen Armee, der österreich-ungarischen Armee oder der russischen Armee gekämpft. Manche freiwillig, andere nicht. So kam es, dass viele Juden, die von ihren nationalen Armeen eingezogen worden waren, sich in einem schrecklichen Loyalitätskonflikt befanden und gegen jüdische Verwandte kämpfen mussten, die Soldaten in der verfeindeten Armee waren. Das ist ein sehr tiefes Trauma, das den Ethos der Charedim und der Abkehr der Charedim von der weltlichen Macht maßgeblich mit geprägt hat."
    Und schließlich führt Maoz Kahana auch eine anthropologische Beobachtung an, um die Verweigerung des Kriegsdienstes bei den Charedim zu erklären:
    Unvereinbarkeit mit dem modernen Männerbild
    "Die osteuropäischen Juden teilten nicht das Männlichkeitsideal der Moderne und der Ära der Nationalismus, das mit Stärke und Autorität identifiziert wird. Dieses Ideal des fordernden und durchsetzungsfähigen Mannes ist den Charedim bis heute sehr, sehr fremd. Der Glaube an Waffen und an eine Armee erscheint in dieser Kultur, die so sehr auf eine innere, geistige Kraft ausgerichtet ist, wie ein schlechter Witz."
    Der 24jährige Eli Rapul dagegen kann die Entscheidung der Abgeordneten der Knesset nachvollziehen, die Charedim schrittweise in die Wehrpflicht einzubeziehen. Eli Rapul ist in einer charedischen Familie in Bnei Brak aufgewachsen. Er hat sein Leben lang in der Jeshiva Talmud studiert bis er sich vor zwei Jahren entschied, seine charedische Heimat zu verlassen und als säkularer Israeli zu leben:
    "Für die Charedim ist die Frage der Wehrpflicht eine existenzielle Frage, denn die charedische Gesellschaft gründet auf der Abschottung von der israelischen Gesellschaft und die Armee ist von ihrem Ursprung her ein Schmelztiegel der Kulturen. Hier kommen Leute aus Russland und Äthiopien zusammen und werden zu Israelis verschmolzen. So jedenfalls nehmen die Charedim das wahr. Und diese Form der Begegnung mit anderen Kulturen kann sich die charedische Gesellschaft nicht erlauben."
    Maoz Kahana dagegen erkennt im Umgang der säkularen israelischen Gesellschaft mit den sogenannten Ultraorthodoxen einen problematischen Rekurs auf den christlichen Antijudaismus:
    "Die Zionisten haben einen großen Teil der antisemitischen Zuschreibungen der Christen gegenüber den Juden übernommen und auf die Charedim angewandt. Das ist in gewisser Weise ein ganz natürliches Verhaltensmuster: Es gibt eine Mehrheit, die stark ist und regiert und eine Minderheit, die nicht bereit ist, einen Schritt zurück in den Nationalismus zu machen, die eine Alltagskultur pflegt, die sich der Logik des Praktischen verweigert und die mit allen möglichen Luftgeschäften beschäftigt ist. Die dasitzen und sich mit alten Büchern beschäftigen und nichts zur wirtschaftlichen Entwicklung beitragen. Und dann finden alle antisemitischen Stereotype unbewusst Eingang in die Sprache der säkularen israelischen Gesellschaft. Für säkulare Israelis sind die Charedim weibisch, dreckig und schwach, Sand im Getriebe eines rationalen, kapitalistischen Staates."
    Gerechtigkeit oder Popularismus
    Der Schriftsteller Nir Baram lebt als säkularer Israeli in Tel Aviv. Er warnt vor einer Stigmatisierung der Charedim. In seinen Augen ist die Kampagne von Finanzminister Yair Lapid für eine gerechtere Verteilung der staatsbürgerlichen Pflichten reiner Populismus:
    "Die Frage der Wehrpflicht ist nicht wirklich von Bedeutung, denn die Armee hat genügend Leute, zu viele sogar. Ich bin dafür, die Charedim alle von der Wehrpflicht zu befreien und sie dazu zu bewegen, arbeiten zu gehen. Yair Lapid, dieser Clown von Finanzminister, der wirklich keine Ahnung hat von seinem Ressort, versucht, die säkulare Gesellschaft mit seinen Parolen zum Hass gegen die Charedim aufzuhetzen. Das ist gefährlich. Es ist eine Lüge, dass die Staatsgelder in die Unterstützung der Charedim fließen. Die Staatsgelder fließen in die Armee und in die Siedlungen."
    Auch Maoz Kahana von der Tel Aviver Universität warnt vor einer Konfrontation zwischen Charedim und Säkularen. Er wirbt dafür zu erkennen, welch eine Bereicherung die streng religiös lebenden Juden für die israelische Gesellschaft sein könnten:
    "Die Charedim sind der Ausweis der Intellektualität des jüdischen Volkes und der Ausweis der Intellektualität der zionistischen Vision. Wenn es uns gelingt, ein gutes Miteinander zwischen streng Religiösen und Säkularen zu entwickeln, kann das der säkularen israelischen Gesellschaft reichen Segen bringen: intellektuelle Tiefe, eine kulturelle Weite, die über die 65 Jahre israelischer Kultur hinausweist, den Antimilitarismus und eine Bereicherung der Sprache."