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Israel
Konfrontationen zwischen radikal orthodoxen und säkularen Juden

Die Fronten zwischen gemäßigteren säkulären und ultraorthodoxen Juden in Israel verhärten sich. Dabei geht es nicht nur um unterschiedliche Glaubens-, sondern vor allem Lebensvorstellungen. Die Orthodoxen lehnen weltliche Vergnügen wie Schwimmbäder und Kulturzentren strikt ab. In der Stadt Beit Schemesch tobt ein Krieg der Religionen.

Von Anne Demmer |
    Wenn Eve Finkelstein Besuchern zeigen will, was in Beit Schemesch passiert, dreht sie mit ihnen eine Runde durch ihre Stadt. Das erste Ziel: ein unbebautes Grundstück. Die 52-jährige Ärztin stapft über einen Schotterweg vorbei an einem brüchigen Bauzaun auf die freie Fläche.
    "Dieser Ort wäre perfekt gewesen, um hier ein Kulturzentrum zu errichten, mitten in der Stadt."
    Die Finanzierung für das Kulturzentrum stand längst. Es gab Spenden aus der Schweiz. Doch die Pläne wurden durchkreuzt. Ein Rabbi erklärte, dass sich hier alte Gräber befänden, die nicht einfach so überbaut werden dürfen. Seitdem passiert hier nichts mehr.
    "Sie haben nie Knochen gefunden, niemand hat sie zumindest bisher wirklich gesehen, selbst wenn man danach fragt, es sind virtuelle Knochen."
    Auf der einen Seite dieses freien Grundstücks leben vorwiegend säkulare Juden. Sie wünschen sich das Kulturzentrum, sie wollen in ihrer Stadt ein Schwimmbad und auch einen Fußballplatz. Auf der anderen Seite des Feldes leben ultraorthodoxe Juden. Die Haredim - die Gottesfürchtigen, wie sie sich selbst nennen. Sie lehnen dieses weltliche Vergnügen strikt ab. Das Schwimmbad hat der ultraorthodoxe Bürgermeister vor einigen Jahren geschlossen, angeblich sollte es renoviert werden, doch es wurde nie wieder geöffnet.
    In Beit Schemesch tobt ein Krieg der Religionen, es geht um unterschiedliche Glaubens- und Lebensvorstellungen. Eve Finkelstein ist selbst sehr gläubig. Ein olivfarbenes Kopftuch verdeckt lose ihre braunen Locken, sie trägt einen grauen langen Rock.
    Blockierte Straen und brennende Mülltonnen
    "Ich achte den Schabbat, ich bin orthodoxe Jüdin, esse koscher. Ich fahre während des Schabbats kein Auto, aber wenn mein Nachbar das macht, warum sollte mich das stören? Es ist seine Entscheidung, das muss er selbst mit Gott ausmachen. Das hat nichts mit mir zu tun."
    Für die Haredim glaubt Eve Finkelstein nicht ernsthaft genug. An einem Nachmittag vor ein paar Jahren wollte sie ihren Sohn von der Schule abholen. Sie geriet in eine der zahlreichen Demonstrationen der "Gottesfürchtigen", bei der sie ihrer Wut gegen die sündigen Menschen in Beit Schemesch freien Lauf ließen.
    "Sie haben die Straße blockiert, Mülltonnen angezündet. 300 ultraorthodoxe Juden haben mit Steinen nach mir geworfen. Das war wirklich traumatisch. Ich arbeite als Ärztin in dieser Gegend und als ich mich umschaute, habe ich sogar Leute erkannt und trotzdem hat mir niemand geholfen."
    Verletzt wird sie nicht, sie rettet sich in ihr Auto, ist geschockt. Für die orthodoxe Jüdin hat das nichts mehr mit ihrer Religion zu tun. Eve Finkelstein ruft die Polizei, aber auch die kommt nicht zur Hilfe. Sie haben Angst, sie wollen keine Probleme mit den Haredim, ärgert sie sich.
    Vor 13 Jahren ist Eve Finkelstein mit ihrer Familie von Australien nach Beit Schemesch gezogen. Sie liebt die hügelige Landschaft. Die bunte Vielfalt von Einwandern aus Äthiopien, Russland und den USA. Ein guter Ort, um ihre vier Kinder groß zu ziehen.
    "Wir wollten das Land aufbauen. Es ist einfach eine wunderschöne Gegend. Und es ist so praktisch gelegen – zwischen Tel Aviv und Jerusalem, egal wo man hin will, man steigt in den Zug und ist nach einer halben Stunde da."
    Der israelische Traum platzt gerade. Viel hat sich in den letzten Jahren in der Stadt verändert. Mehr und mehr ultraorthodoxe Juden ziehen nach Beit Schemesch. Sie folgen unterschiedlichen Rabbis, darunter auch sehr radikale, die sich in ihrem Glauben untereinander übertrumpfen wollen.
    "Es war ein langsamer Prozess. Sie sind irgendwann in Massen gekommen und nun wollen sie uns ihren Lebensstil aufdrängen. "
    "Frauen dürfen nicht auf dieser Seite des Bürgersteigs laufen."
    Eve Finkelstein fährt mit ihrem weinroten Wagen durch ein ultraorthodoxes Viertel, sie will zeigen, nach welchen Regeln hier gelebt wird. Männer in schwarzen Anzügen und Hüten auf dem Kopf, laufen auf dem Bürgersteig. Ihre Schläfenlocken flattern im Wind. Im Durchschnitt bekommen die frommen Paare sieben Kinder. 75 Prozent der Schulanfänger sind in Beit Schemesch mittlerweile ultraorthodox. Die meisten Familien leben von Sozialhilfe. Sie erobern Straßen und Viertel, besetzen Schulen, um sie für sich zu beanspruchen, weil es zu wenige Klassenräume in der Stadt gibt. Sie spucken auf Frauen, die an ihnen vorbeijoggen, und Schulmädchen, weil ihre Röcke nur knapp über die Knie reichen, erzählt Eve Finkelstein. Sie bremst kurz ab. Am Rande der Straße taucht eine Synagoge auf. Davor hängt ein Schild. Sie liest empört vor, was dort in großen Lettern geschrieben steht.
    "Frauen dürfen nicht auf dieser Seite des Bürgersteigs laufen."
    Solche Schilder gibt es nicht nur dort, wo die Ultrafrommen leben, sie wurden auch schon vor einem Supermarkt postiert, sogar dort, wo sie arbeitet, vor ihrer Klinik. Schilder auf denen geschrieben steht, dass sich Frauen züchtig kleiden sollen: lange Ärmel, geschlossene Blusen, schwarz. Für Eve Finkelstein war das der Gipfel. Sie hat sich mit drei weiteren Frauen aus Beit Schemesch zusammengetan und die Stadt wegen Diskriminierung verklagt. Es gab einen Mediationstermin, der hat allerdings nichts gebracht. Nili Phillipp ist eine Mitstreiterin. Einige Mal hat sie schon überlegt, selbst Hand anzulegen und die Schilder abzumontieren, die Idee aber wieder verworfen.
    "Ich miete mir doch keinen Pickup, montiere die Schilder ab und riskiere dabei noch mein Leben. Es ist die Aufgabe der Stadt, das zu erledigen. Sie müssen mich auf der Straße davor schützen, dass niemand mit Steinen nach mir schmeißt, und auch dafür sorgen, dass meine Tochter und ihre Mitschüler nicht von diesen Hooligans in der Schule belästigt werden."
    Doch der, der verantwortlich ist in dieser Stadt, hat gerade andere Sorgen. Der ultraorthodoxe Bürgermeister Moshe Abutbul wurde zwar bei den Wahlen vor einigen Wochen wieder im Amt bestätigt, allerdings ermittelt nun die Staatsanwaltschaft wegen Wahlfälschung, es wurden u. a. 200 gefälschte Pässe in einer Wohnung gefunden, es geht um systematische Kriminalität, mit vielen Beteiligten, heißt es.
    Für den Knesset-Abgeordneten der Meretz-Partei Nitzan Horowitz wird sich am Beispiel Beit Schemesch zeigen, wie belastbar die Demokratie in Israel ist, erklärt er am Rande einer Demonstration für Neuwahlen.
    "Die ultraorthodoxen Parteien hier in Beit Schemesch, der Bürgermeister, sie wollen ihre religiösen Vorstellungen mit Zwang durchsetzen. Aber dieser Ort muss offen bleiben für alle: für religiöse Menschen, säkulare Juden, für Alte, für Junge, Schwule und Heteros. Wenn wir hier nicht schaffen, diese Entwicklung zu stoppen, dann wird es auch an anderen Orten in Israel passieren."
    Für viele Menschen in Beit Schemesch stellt sich die Frage: bleiben oder wegziehen. Eve Finkelstein ist vor 13 Jahren gekommen, um zu bleiben, einen Plan B gibt es nicht.
    Sie hat mittlerweile ihren Heimweg angetreten, lenkt ihren Wagen vorbei an einer ultraorthodoxen Mutter mit Kinderwagen, die offensichtlich auf der Seite des Bürgersteigs läuft, die für Frauen tabu ist. Eve Finkelstein triumphiert.
    "Sie steht einfach da und ignoriert das Schild, das gefällt mir, weiter so!"