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Italien und die Angst vor den Deutschen

Die geballte Wirtschaftskraft des vereinten Deutschlands bereitete der italienischen Politik zunächst Sorge. Später profitierte die heimische Industrie vom Wiederaufbauprogramm im Nachbarland. Die Anstrengungen beim Aufbau Ost imponierten den Italienern.

Von Karl Hoffmann | 29.09.2010
    Bei den meisten italienischen Bürgern rief das Ende der Teilung und die folgende Wiedervereinigung spontan Solidarität und Mitgefühl aus, die bis heute anhalten. Diskussion in der Bar einer mittelitalienischen Kleinstadt:
    "Ich fand das gut, dass die Menschen ihre Freiheit wiederbekommen haben. Ein Volk muss doch geeint leben dürfen. Warum musste es die Teilung ertragen? Die Menschen sind geschaffen um miteinander zu leben. Für mich war das ausgesprochen ungerecht, dass ein Volk durch eine Mauer getrennt wurde."

    In der italienischen Politik war die Reaktion zunächst verhalten. Italien fürchtete die geballte Wirtschaftskraft eines vereinten deutschen Volkes, die zur übermächtigen Konkurrenz für die eigene Industrie hätte werden können. Der damalige Ministerpräsident Andreotti meinte ironisch, er möge Deutschland so sehr, dass ihm zwei davon lieber seien. Und zum 20. Jahrestags des Mauerfalls im vergangenen Jahr gab der 91-Jährige unumwunden zu:
    "Ich habe keinen Hehl daraus gemacht, dass ich einerseits zwar den Wunsch der Deutschen nach Wiedervereinigung verstand. Andererseits war da aber auch das Risiko eines globalen Umbruchs. Hätte ich das zu entscheiden gehabt, dann stünde die Mauer wahrscheinlich heute noch."

    Eine Karikatur in der linksliberalen Tageszeitung La Repubblica zeigte deutsche Bomberpiloten, die die italienische Hauptstadt angreifen und ihre Ladung abwerfen: AEG Kühlschränke, Mercedes-Autos, Blaupunkt Fernseher. Und es kursierte der Slogan "Germania unita, baffi in vista" - Vereinigtes Deutschland, Schnauzbart in Sicht - eine Anspielung auf die Hitlervergangenheit. Die anfängliche Besorgnis erwies sich als falsch, wie die Barbesucher bestätigen.
    "Es gab die Angst, was da alles zu uns schwappen könnte, aber von der befürchteten Invasion war am Ende keine Spur zu sehen."

    Stattdessen erkannte man schnell eine einmalige Chance in der Wiedervereinigung. Vom gewaltigen Wiederaufbauprogramm profitierte eine ganze Reihe italienischer Industriezweige, Autohersteller, Fliesen- und Sanitärbetriebe, Baufirmen, Restaurateure und Pizzabäcker. Dagegen wuchs in Deutschland die Sorge, man könnte sich übernommen haben und stellte Vergleiche an zwischen den neuen Bundesländern und dem italienischen Süden, ein Milliardengrab, auch Mezzogiorno genannt.

    Ein absurder Vergleich, geben die italienischen Normalbürger heutzutage nicht ohne Neid zu:
    "Unsere Politiker haben den Süden doch immer ausgenützt, dadurch sind Camorra und Ndrangheta entstanden. In Deutschland haben die Bürger im Osten von denen im Westen gelernt, wie man's macht. Alle haben die Ärmel hochgekrempelt, haben zusammen geholfen und sich hochgearbeitet. So jedenfalls wirkt das heute auf uns. Sie haben sich wirklich angestrengt. Es wird schon noch Probleme geben, aber man versucht sie zu lösen. Nicht so wie bei uns im Süden. Wo die Leute die Arme verschränken und auf ein Wunder vom Herrgott warten. Das ist schon ein Unterschied."

    Italiens Politiker entschlossen sich schließlich, ein starkes, wiedervereintes Deutschland zu unterstützen. Solange Romano Prodi in Brüssel die EU-Kommission leitete, konnte Italien dank der damals oft beschworenen Freundschaft zwischen Rom und Berlin eine aktive Rolle zugunsten Deutschlands spielen. In den letzten Jahren der Berlusconi-Führung ist Italiens Ansehen in Europa deutlich gesunken. Dafür gibt es viel Lob für das wiedervereinigte Deutschland. Der Corriere della Sera berichtete aus Anlass des 20. Jahrestages von der erstaunlichen Annäherung, die die beiden vorher getrennten Landesteile geleistet haben.

    Ein Grund für die Gäste in der kleinen Bar, sich - wohl nur halb im Scherz - Hilfe aus Deutschland zur Lösung ihrer Dauerprobleme zu wünschen:
    "Hätten wir ein paar Deutsche in der Regierung anstelle unserer Sprücheklopfer, das wäre ideal. Wir haben unsere Politiker, gleich welcher Richtung, gründlich satt. Sie reden und reden und reden, statt zuzupacken."

    Wir und die anderen
    20 Jahre Einheit - Europas Blick auf Deutschland (Serie)