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"Jeder kommt hierher, Reiche oder Arme"

Äthiopien hat der Welt den Kaffee geschenkt. Diesen und viele andere Köstlichkeiten werden auf dem größten Marktplatz Afrikas in der Hauptstadt Addis Abeba feilgeboten. Der Markt "Merkato" ist so groß wie ein Stadtteil. Ein Labyrinth für Fremde und ein Paradies für Taschendiebe.

Von Benno Müchler | 06.05.2012
    Die Fahrt mit dem Minibus aus dem Stadtzentrum kostet genau 17 Cent. Je näher die weiß-blaue Klapperkiste ihrem Ziel kommt, desto langsamer wird sie. Die letzte Anhöhe kriecht sie nur noch im Schritttempo hinauf, so sehr staut sich der Verkehr hier, schon einen Kilometer vor dem Merkato, Afrikas größtem Marktplatz unter freiem Himmel. Entstanden ist der Merkato, als die Italiener Äthiopien in den 30er Jahren okkupierten. Sie sperrten damals Addis Abebas historischen Markt für die Einheimischen, die sich darauf einen neuen schufen, hier an seinem heutigen Platz, im Nordwesten der Stadt.

    Auspuffgase ziehen durchs Fahrerfenster. Ich steige an einem Platz aus, an dem ich glaube, schon vor drei Wochen gewesen zu sein und gehe geradewegs auf einen mehrstöckigen Betonklotz zu, in dem ich das Souvenirgeschäft eines Äthiopiers vermute, der mich heute, wie besprochen, auch wieder über den Markt führen soll. Denn eine Übersichtskarte, die gibt es nicht für den Merkato: Ein Labyrinth aus Gässchen, Querstraßen, Buden und Markthallen, übersät mit Tausenden von Menschen, auf einer Fläche vielleicht so groß wie ein halbes Berlin-Kreuzberg. Entweder man weiß genau, wo man hin viel oder man fragt sich durch. Doch ohne Amharisch, der Landessprache Äthiopiens, ist das sehr schwer.

    Ich laufe Slalom durch die Menschenmassen, passiere Eselstreiber und Wasserträger; springe die Treppe hoch, in den ersten Stock des Gebäudes. Ein Teppichladen. In den will ich nicht. Ich gehe in das nächste Gebäude. Auch hier kein Souvenirladen, nur ein Basar für Frauenmode. Ich gebe die Suche nach meinem Führer auf. Es sieht für mich alles gleich aus. Ich weiß nicht mehr genau, wo ich bin.

    Zwei junge Mädchen sitzen vor einem Stand mit grünen und roten Lackhandledertaschen und kichern, als ich sie interviewen will. Ich trotte durch die Gänge. Amharische Popmusik füllt den Raum. An manchen Ständen riecht es nach neuem Leder.

    Plötzlich steht ein kleiner, junger Äthiopier vor mir. Er trägt einen Cowboyhut aus Stroh auf dem Kopf, auf dem "Ronaldinho" steht, hat eine olivgrüne Cargohose an, die er sich in die weißen Sportsocken gestopft hat, die ihm bis zu den Knien reichen. Über seinen Oberkörper hat er seine Ware gehängt: ein Kettenhemd aus grünen, in Plastik eingeschweißten Telefonkarten, deren Code man freirubbeln muss, um sein Handy mit neuem Guthaben aufzuladen und auf dem die äthiopische Telefongesellschaft für DAS Bauprojekt schlechthin in Äthiopien wirbt: den Grand Renaissance Dam, das größte Staudammprojekt in der Geschichte Afrikas. Leider spricht der 21-jährige Abu nur Brocken Englisch. Ob sein Geschäft gut gehe, frage ich. Keine Antwort. Und wer hier auf dem Merkato so einkaufen geht?

    "Jeder kommt hierher, jeder. Merkato, das bedeutet Leute. Deutsche, Amerikaner, jeder kommt hierher."

    Ja, und warum kommen sie alle hierher und gehen nicht in einen gewöhnlichen Supermarkt? Und was er selber am Merkato mag oder eben auch nicht? Und was der Markt für Addis Abeba und Äthiopien bedeutet? Doch all darauf ist, ohne Amharisch, keine Antwort aus Abu zu bekommen.

    Ich gehe weiter. Ein Mann zieht mich beiseite, als er mein Aufnahmegerät sieht. Er will mir seinen Laden zeigen, ein Meer aus zusammengewürfelten Pömps, High Heels und anderen knalligen Damenschuhen aus China. Der Mann heißt Shimeles und ist 40 Jahre alt. Er spricht passables Englisch und erzählt mir, dass er schon, seitdem er 10 ist, auf dem Merkato arbeitet und heute mit seiner Frau seinen Stand betreibt. Schon seine Eltern seien hier Händler gewesen. Ob sich der Merkato in den letzten dreißig Jahren verändert hat, frage ich ihn.

    "Ja, ja, ja. Das hat ungefähr vor zehn Jahren angefangen. Der Merkato hat sich verändert. Es gibt neue Gebäude; und auch die Art, wie hier gehandelt wird, ist heute anders. Früher waren hier viele illegale Händler. Heute haben etwa 90 Prozent der Händler eine Lizenz, früher waren es vielleicht 50 Prozent. Jetzt geht es hier zivilisiert zu. Es ist ein moderner Handelsplatz geworden."

    Shimeles sagt, der Wettbewerb sei dadurch jetzt endlich fair, weil jetzt jeder Abgaben zahlen muss und so alle die gleichen Startbedingungen haben.

    Und was mag er am Merkato?

    "Oh, der Merkato, das ist mein Leben. Ich arbeite hier von morgens bis abends. Mein Leben ist hier auf dem Merkato entstanden. Meine Familie, meine Frau sind hier. Ohne Merkato hätte ich kein Leben."

    Und dann noch eine Frage, bevor ich gehe: Nun sei er ja ein Mann, verkauft aber Frauenschuhe. Wie kann er denn beurteilen, was Frauen mögen?

    "Also Frauen. Also ich habe Erfahrung. Ich kann sagen, dass das gute Schuhe sind, dass das gute Kleidung ist, auch die Farben. So eben."

    Als ich die Halle für Frauenmode wieder verlasse, ist die Mittagszeit gerade zu Ende. Auf einem Mäuerchen liegen zerlumpte junge Männer lang gestreckt in der Sonne. Ein Jugendlicher lutscht an einem Stück Zuckerrohr und hält mir ein anderes zum Probieren hin. "Yes, Sir, DVDs" zischt es von der einen Seite, "Hey, Mister, Schuhe polieren" von der anderen. Ein Straßenhändler winkt mich unter seine Zeltplane. Vor sich hat er einen Berg aus Gürtelschnallen und Werkzeug ausgebreitet. Ob ich einen Führer suche, fragt er. Er habe da einen Freund. Der Freund bringt mich zu einem anderen Freund. Der wiederum sagt, er habe 20 Minuten Zeit und führe mich gerne, auch ohne Bezahlung.

    Ich überlege. Der unrasierte Mann in einem löchrigen orangen T-Shirt, Stoppelfrisur und kaputten Zähnen kann gut Englisch und Amharisch, auch Somali und Arabisch. Er führt mich durch eine Lücke zwischen zwei Kiosks hindurch. Wir stehen auf einem leeren Feld. Plötzlich ist der Lärm der Straße wie weggeblasen. Um den Platz, entlang einer Blechwand, stehen verstreut ein paar Stände. "Der Gewürzmarkt", sagt Amedin, mein neuer Führer, und erklärt mir, was sich in den prall gefüllten Gewürzsäcken einer alten Frau befindet, die vor sich auf einer kreisrunden Blechpfanne gerade mit einer Nagelschere dörre Pfefferminzblätter von ihren Stängeln trennt.

    "Dieses Gewürz hier zum Beispiel nennen wir in Amharisch Shiro. Viele Äthiopier würzen damit ihre Mahlzeiten, vor allem arme Familien und Leute wie ich. Aber weißt Du, meine Tasche ist vielleicht leer, aber mein Geist ist es nicht."

    Amedin ist 40, lebt alleine - sagt er - hat ein Kind, einen Jungen, der ist schon fast 12, lebt aber nicht bei ihm. Geboren wurde Amedin in Addis Abeba. Zwölf Jahre lang wuchs er in einem Waisenheim auf, wohin ihn seine Mutter gab, als der Vater, der Ernährer der Familie, starb.

    Plötzlich guckt die alte Frau von ihren Pfefferminzblättern hoch, unterbricht uns, und fragt, was ich hier eigentlich mache. Amedin übersetzt. Wir unterhalten uns ein paar Minuten. Dann will ich weiter; denn ich weiß, dass das hier nicht der richtige Gewürzmarkt ist und frage Amedin, ob er mir nicht auch noch die nächsten zwei Stunden als Führer und Übersetzer helfen kann. Ich biete ihm ein wenig Geld, 80 Birr, das sind umgerechnet 3.40 Euro, genug für zwei warme Mahlzeiten in Addis. Amedin willigt ein.

    Das Mütterchen am Beginn der Gewürzgasse, sagt sie sei 100 Jahre alt. Sie trägt einen dunkelblauen Kittel, hat riesige Brillengläser auf der Nase, und sitzt zusammengekauert an einer Mauer, verschanzt hinter Säcken voll oranger Linsen, getrockneter Tabakfladen und Kohle. Was ihr am Merkato gefällt, frage ich. Heute sei vieles besser, krächzt sie, und stößt dabei mit ihren von der Kohle schwarzen Fingern immer wieder an mein Mikrofon. Was genau ist heute besser, will ich wissen. Eine andere Frau zischt von der Seite: "Sprich ja nicht schlecht über die Regierung", und das Mütterchen fragt, ob sie jetzt Geld für das Interview bekomme. Ich sage, Nein. Die Marktfrauen rechts und links von ihr protestieren. Amedin wird unsicher, lässt dem Mütterchen zwei Birr da und verspricht ihr nächstes Mal zahlende Kundschaft mitzubringen. Dann zieht er mich weiter. So läuft das hier nicht, sagt er. Auch solle ich ja auf meinen Rucksack und meine Hosentaschen aufpassen. Viele Taschendiebe seien hier unterwegs.

    Ich interviewe andere Gewürzfrauen, bestaune ihre Ware und frage mich, wie sie diese schweren Säcke jeden Morgen ganz alleine hierhin hieven und erfahre von einer, die hier schon Gewürze verkaufte, als noch der Kaiser Haile Selassie Äthiopien regierte, dass sie ihre Ware von Händlern mit Eselskarren kauft, die ihr die Säcke direkt zum Stand bringen.

    Viele der Menschen hier reagieren extrem vorsichtig. Ohne es überhaupt anzusprechen, grenzen sie Kommentare über Politik und die Regierung von vornherein aus. Wir gehen tiefer in den Markt, kommen an der Abteilung für Haushaltswaren vorbei. Der Geruch von Kaffee, Tee und Gewürzen ist längst dem von Feuer und Urin gewichen. Unser Weg - ein Trampelpfad aus Steinen, Pfützen und Schlamm.

    Als ich drei Eierverkäufer über das Leben hier auf dem Markt befrage und wissen will, wer hier eigentlich bestimmt, wer was wo verkaufen darf, hält mich ein Trupp Schutzmänner an und fragt mich nach meinen Papieren. Ich zeige sie und darf passieren.

    Immer tiefer gehen wir in den Markt und mich beschleicht das Gefühl, dass Amedin doch nicht so gut Englisch kann, da ich auf meine gleichen Fragen immer wieder die gleichen seltsamen Antworten erhalte.

    Aus der Ferne höre ich das Geräusch von Schweißarbeiten und Hammerschlägen auf Metall. Wir nähern uns dem Recyclingmarkt: eine Gasse im Herzen des Merkato, wo Handwerker von überall her Metallschrott ankaufen und ihn zu neuem Leben formen.

    Der 64-jährige Yebe lässt sich interviewen und erzählt, dass seine Kundschaft vor allem Bauern aus dem Umland sind, die Ersatzteile für ihre Arbeit auf dem Land brauchen. Er hält mir ein zugespitztes, dickwändiges Rohr unter die Nase, das aussieht wie eine überdimensionale Füllfederspitze. Die hat er aus einem langem Stück flachen Eisen geklopft. Jetzt dient sie als Trenngabel für den Zug eines Ochsenkarrens. Ob er seine Arbeit auf dem Merkato mag, frage ich?

    "Ich hoffe, dass sich der Markt in den nächsten Jahren weiter verändern wird und dann wie andere moderne Marktplätze und Einkaufshäuser ist", übersetzt Amedin, während Yebe, die gaffenden Handwerker um uns herum verscheucht. "

    Das Geschäft scheint gut für Yebe zu gehen. Er habe viele Kinder, sagt er. Sein Sohn mache gerade seinen Doktor in Ingenieurswesen. Der Anschein, dass auf dem Merkato nur arme Menschen arbeiten, täuscht. Hier einen Stand zu besitzen, ist für äthiopische Verhältnisse teuer, ob es nun ein Fleckchen Erde in dieser schmuddeligen Gasse des Recyclingmarktes ist, oder so ein Stand, wie ihn Frauenschuhverkäufer Shimeles besitzt.

    Ich will zurück zu den Minibussen. Amedin eilt voran. Ich lasse sein oranges T-Shirt in der Menge nicht aus den Augen. Ein junger Äthiopier kommt mir entgegen, der an die 15 Matratzen auf seinem Kopf trägt. Ein Krüppel läuft vor mir auf seinen Händen. Ich sehe Leprakranke mit Elefantenfüßen. Eine gebrechliche, alte Frau hält mir ihre leere Hand entgegen und führt sie dann in einer flehenden Geste an ihren eingefallenen Mund. "Ferenji, Mister, Schuhe polieren" zischt es wieder von den Seiten.

    "Ein großes Problem in Afrika und speziell hier an diesem Ort ist, dass jeder Weiße für die Einheimischen zum Millionär wird", sagt Amedin. "Das ist eine dumme Vorstellung. Vielleicht sind sie wohllhabender als Du, vielleicht bin ich wohlhabender als Du."

    Auf unseren letzten gemeinsamen Metern kommt Amedin gar nicht mehr raus aus dem Reden, und nach einer Weile nicke ich nur noch. Er könne viele Sprachen, sei vielleicht gescheiter als viele andere, fände aber, weil er keinen Abschluss habe, keinen Job. Die Regierung und all diese ausländischen NGOs nähmen doch nur Leute mit Abschluss, und ganz bestimmt keine mit Aids wie ihn. Ich schaue ihn an. Wo er sich das Virus geholt habe? Im Heim, sagt er, von seiner damaligen Freundin, mit der er heute auch seinen Sohn hat.

    Wir sind an der Mini-Bus-Haltestelle angekommen, verabschieden uns. Ich steige ein. Vor mir sitzt ein Äthiopier mittleren Alters. Er hat einen beigen Safarihut auf dem Kopf, von dem die Senkel zum Zusammenschnüren herabbaumeln und trägt eine teure Armbanduhr an seinem Handgelenk. Als er sieht, dass ich meine langen Beine nur mit viel Mühe hinter den Sitz klemmen kann, lacht er und fragt, wo ich denn herkomme. Seinen Safarihut habe er in Kenia gekauft, auf dem Zwischenstopp am Flughafen in Nairobi auf seiner Heimreise von China. Richtig auf Safari gewesen, sei er nie, erzählt der Mann, der Mesfin Tadesse heißt, 57 Jahre alt ist, und für das Landwirtschaftsministerium in der Abteilung für Tierhaltung arbeitet. Auf dem Merkato war er heute, um sich ein neues Handy zu kaufen, nachdem ihm sein altes gestohlen worden ist. Er kommt schon seit 20 Jahren hierher.

    "Wir kommen hierher, weil wir hier besser an die Sachen kommen, die wir brauchen, als da, wo wir wohnen. Das hier ist eine große Einkaufszone. Man hat hier viel Auswahl, auch mit Blick auf die Preise. Hier ist alles besser."

    Und warum sollten Touristen wie ich hierher kommen, frage ich, während unser Bus losfährt.

    "Das ist ein einzigartiger Platz, sehr alt. Er ist in der Zeit der Italiener entstanden. Jeder kommt hierher, Arme, Reiche. Ein sehr guter Platz für jedermann."